junge Welt
                                                          Ausland

                                                                                                                    25.07.1998

       Sexuelle Folter als Methode der Kriegsführung
       Tribunal will auf türkische Kriegsverbrechen aufmerksam machen

       Angriffe sexueller Art, begangen durch Gendarmerie, Polizei, Militärs und Dorfschützer, gehören in den kurdischen Gebieten der Türkei zum Alltag.
       Betroffen sind Frauen aus der Zivilbevölkerung ebenso wie Guerilla-Kämpferinnen. Bei Übergriffen auf zivile kurdische Dörfer durch die türkischen
       Militärs werden die Frauen des Dorfes vor den Augen aller vollständig entkleidet und sexuell mißhandelt, häufig auch vergewaltigt. Die kämpfenden
       Frauen wissen, das sexuelle Folter von den türkischen Militärs als Mittel der Kriegsführung eingesetzt wird. Nicht selten benutzen sie deshalb ihre
       letzte Bombe, um sich selbst zu töten, damit sie nicht lebend gefangengenommen werden.

       Inhaftierte Frauen in der Türkei sind ebenfalls mit sexueller Gewalt konfrontiert. Nach der Festnahme muß sich jede Frau vollständig entkleiden und
       sich einem Jungfräulichkeitstest unterziehen, unabhängig davon, wie alt sie ist, ob sie verheiratet ist oder vielleicht sogar Kinder hat. Wehrt sich eine
       Frau dagegen, wird sie mit Gewalt von den Militärs zu dieser Untersuchung gezwungen. Bei den Verhören werden die Frauen sexuell mißhandelt,
       ihnen werden Vergewaltigungen angedroht, und nicht selten werden diese auch ausgeführt.

       Die Istanbuler Rechtsanwältinnen Eren Keskin und Jutta Hermanns initiierten zusammen mit dem türkischen Menschrechtsverein IHD, dessen
       stellvertretende Vorsitzende Frau Keskin ist, ein Projekt, in dem den betroffenen Frauen juristischer Rat und anwaltliche Unterstützung angeboten
       wird. Ziel des Projektes sei es, so Eren Keskin, diese Formen der sexuellen Folter aufzudecken und den betroffenen Frauen Mut zu machen, das
       Erlebte auszusprechen und die Täter anzuzeigen. Ihr Anliegen sei es, dazu beizutragen, sexuelle Folter als staatliches Instrument der Repression zu
       thematisieren. Die Mehrzahl der Täter seien Beamte der Sicherheitskräfte oder Dorfschützer, so die Menschenrechtlerin weiter. Diese handelten in
       Anlehnung an die ihnen vom Staat übertragenen Macht- und Gewaltbefugnisse.

       »Obwohl diese sexuellen Angriffe in den kurdischen Gebieten zum Alltag gehören, begreifen viele der betroffenen Frauen diese Verbrechen als ihr
       persönliches Einzelschicksal«, so Eren Keskin gegenüber junge Welt. »Aus Scham und Rücksicht auf ihre Familien trauen sie sich nicht, darüber zu
       sprechen, geschweige denn, diese Taten öffentlich zu machen. Viele Frauen brauchen Jahre, bis sie bereit sind, die Täter anzuklagen. Oft tun sie es
       erst, nachdem sie ins Ausland geflüchtet sind.«

       Erstmals in der Geschichte würden zur Zeit die massenhaften Vergewaltigungen von Frauen in Bosnien und Ruanda vor einem internationalen
       Kriegsverbrechertribunal als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt, erläuterte Jutta Hermanns. Sie und ihre Kollegin Eren Keskin seien der
       Meinung, daß sexuelle Folter als Methode der Kriegsführung in der Türkei ebenfalls vor diesem Hintergrund bewertet werden müßte. Das Problem
       sei, so die Rechtsanwältin weiter, daß ein internationales Tribunal nur dann zustande käme, wenn zwei Staaten in einen Krieg verwickelt seien. Und
       in diesem Falle würde das nicht anerkannt. »Deshalb möchte ich anregen, hier in der Bundesrepublik ein alternatives Tribunal zu organisieren, um
       die Kriegsverbrechen international öffentlich zu machen und die Täter anzuklagen.«

       Zur Durchführung des Tribunals bedarf es einer Menge Ideen und Organisatorinnen. Frauen, die Interesse daran haben, können sich mit prison
       watch international, Haus der Kulturen, Hagenweg 2, 37081 Göttingen, Tel: 0551/6339357 in Verbindung setzen.

       Birgit Gärtner