Istanbul: »Galatasaray gehört uns« |
Jeden Samstag erinnern Angehörige an in der Türkei Verschollene |
|
Oppositionelle verschwinden zu lassen, gehört in der Türkei wie in manchen südamerikanischen Ländern zum Alltag, besonders seit der Verschärfung des Krieges gegen die kurdische Guerilla. Die Bewegung der Angehörigen - vor allem der Mütter der sogenannten Verschollenen - gegen das Verschwindenlassen, formierte sich 1995, als drei junge Leute, zwei Männer und eine Frau, aus der Untersuchungshaft nicht zurückkamen. Monate später wurde die Leiche von Hasan Ocak, eines der Verschollenen, auf einem Friedhof gefunden. Danach wurden nach dem Vorbild der argentinischen »Madres de Plaza de Mayo« die »Samstagsmütter« ins Leben gerufen. Nimet Tanrikulu vom Istanbuler Menschenrechtsverein erinnert sich noch sehr gut an deren Gründung: »Nach den Todesfällen von Ayse Nursimsek, Hasan Ocak und Ridvan Karakoc in U-Haft haben sich Angehörige, Menschenrechtler und Intellektuelle zusammengetan, um nicht hilflos zu warten. Man wußte, wer sie getötet hatte, denn es gab Zeugen bei den Festnahmen. Wir haben uns dann in der Welt umgeschaut, wo es Vergleichbares gibt, und haben uns dann entschieden, auf dem Galatasaray-Platz zu protestieren. Am 27. Mai 1995 haben wir zum ersten Mal die Sitzaktion durchgeführt.« Seitdem sitzen die Mütter jeden Samstag auf dem Platz, der an der populärsten Einkaufsstraße von Istanbul, der Istiklal Caddesi (Freiheitsstraße), liegt, und berichten um 12 Uhr in einer Presseerklärung über die Geschichte eines Verschollenen. Einer der Verschwundenen ist Hüseyin Morsümbül. Unmittelbar nach dem Militärputsch von 1980 wurde er in Bingöl im Südosten der Türkei festgenommen. Der Unteroffizier sagte: »Es dauert nur fünf Minuten, wir haben nur ein paar Fragen zu stellen.« Bei seiner Festnahme war er 19 Jahre alt. Als sein Vater sich nach ihm bei der Militärstation erkundigen wollte, wurde auch er festgenommen und gefoltert. Zwei Tage später, als die Mutter bei der Militärstation für ihren Sohn Lebensmittel abgeben wollte, sagte man zu ihr, daß ihr Sohn geflohen sei. Fatma Morsümbül erzählt von dem Tag, als ihr Mann aus der Haft entlassen wurde und ohne den Sohn nach Hause kam: »Am Abend kam mein Mann nach Hause. Er war völlig aufgelöst, ich habe ihn gefragt, wo Hüseyin sei. Er sagte nur: >Wir haben Hüseyin verloren<. In den folgenden Tagen durchsuchten sie unser Haus, haben uns alle zur Wache gebracht. Sie sagten, Hüseyin wäre geflohen. Überall habe ich ihn gesucht. Ich habe immer Essen für ihn bereitgehalten. Abend für Abend habe ich sein Bett gemacht, vier Jahre lang habe ich die Haustür nicht abgeschlossen. In der Hoffnung, daß er kommt.« Seit 1991 sind 450 Menschen in der Türkei verschollen, die vom Menschenrechtsverein registriert sind. In Wirklichkeit sind es sehr viel mehr. Besonders in den kurdischen Gebieten trauen sich Familien oft nicht, nach ihren Angehörigen zu suchen. Nur eine Handvoll von ihnen sind sogenannte Verschollene mit Stempel, das heißt, es gibt Festnahmeprotokolle von ihnen. Die meisten Verschwundenen sind für eine kurze Vernehmung zur Wache gebracht worden und nicht wieder zurückgekommen. In den letzten zwei Jahren sind viele auf offener Straße in einen Wagen gezerrt und entführt worden. Fehmi Tosun aus Avcilar, einem Vorort von Istanbul, ist einer von den Entführten. Hanim Tosun schildert die Verschleppung ihres Mannes vor drei Jahren: »Um sieben Uhr abends kam meine Tochter von der Arbeit. Sie war sehr aufgeregt, sie sagte, vor unserer Tür hätte ein weißes Auto angehalten. Ich ging auf den Balkon und sah einen hochgewachsenen Mann, der die Motorhaube des Wagens aufgeklappt hatte, als ob der Motor defekt sei. Er schaute nervös umher. Hinten war ein anderer mit langen Haaren. Plötzlich kamen sie in unseren Garten. Vor unserer Haustür packten sie von beiden Seiten meinen Mann, der gerade nach Hause kam. Es passierte in Sekunden.« Alle Versuche von Hanim Tosun, ihren Mann zu finden, waren bislang vergeblich, obwohl sie mit Hilfe der Nachbarn nicht nur das Autokennzeichen, sondern auch detaillierte Beschreibungen von den Entführern und deren Wagen angeben konnte. Die Polizei weist die Familien, die ihre Angehörigen suchen, nicht nur ab, sie schikaniert sie regelrecht. Leman Firtina, Mitinitiatorin der Samstagsmütter, kennt die Schikanen und Repressionen: »Als mein Sohn noch gesucht wurde, haben mein Mann und ich öfter anonyme Anrufe bekommen. Sie schnitten unseren Weg ab. Vor unserer Haustür hatten sie immer einen Polizisten, mancher als Schuhputzer getarnt, mancher als Feuerzeugverkäufer.« Am zweiten Samstag im Mai dieses Jahres ging die Abteilung für Terrorismusbekämpfung der Istanbuler Polizei wieder einmal gegen die Samstagsmütter vor. Als sie vom Sitz des Menschenrechtsvereins - einen knappen Kilometer entfernt vom Galatasaray-Platz - unterwegs waren, wurden sie kurz vor dem Platz angehalten; elf Angehörige, darunter Fatma Morsümbül und Hanim Tosun, wurden festgenommen. Im Polizeibus wurden sie geschlagen und bedroht. Sie sollten nicht mehr auf den Platz kommen. Viele schätzten die Situation so ein, daß die Polizei sie langsam, aber sicher vom Platz vertreiben würde. Drei Tage später, am 12. Mai, verübten zwei Männer ein Attentat auf den Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins Akin Birdal, das dieser aber schwer verletzt überlebte. Am darauffolgenden Samstag machten sich unter Begleitung von Journalisten Hunderte auf den Weg zum Galatasaray-Platz. Immer mehr, meist junge Frauen und Männer, kamen aus den einmündenden Gassen dazu und riefen zusammen mit den Angehörigen: »Nieder mit den Mördern, die Verschollenen sollen gefunden werden. Die Mörder werden an der Wut der Mütter ersticken.« Statt der üblichen 70 bis 80 Leute waren an diesem Samstag über 1 000 Menschen auf dem Platz und die Mütter und Angehörigen eine Minderheit in der Menge. Die allgemeine Empörung über das Attentat auf Akin Birdal und die rasche Ergreifung der Täter hat die Position der Samstagsmütter und deren Unterstützer gestärkt. Fatma Morsümbül ist entschlossen, weiter jeden Samstag zu dem Sitzprotest im Zentrum Istanbuls zu kommen. »Galatasaray ist das Grab meines Hüseyin, niemand kann uns den Platz wegnehmen, Galatasaray gehört uns. Vielleicht sterbe ich hier.« Orhan Calisir |