Der „Einzelfall“ wiederholt sich immer wieder

                           Abgeschoben – und sofort
                           gefoltert

                           Bereits zum zweiten Mal kann ein aus
                           Deutschland ausgewiesener Kurde schwere
                           Mißhandlungen durch türkische Behörden
                           beweisen

                                     Von Petra Steinberger

                           Der Flug zurück nach Deutschland war bereits
                           gebucht, dann kam das Nein aus dem
                           Innenministerium. Kein deutsches Reisedokument
                           für den Kurden G., der im Februar aus
                           Deutschland abgeschoben und gleich nach der
                           Ankunft in der Türkei verhaftet und gefoltert
                           worden war. Keinen deutschen Paßersatz für G.,
                           der nach zwei weiteren Verhaftungen und
                           Folterungen illegal nach Rumänien geflüchtet war
                           und seit Ende Juni dort festsitzt. Keinen Paß, damit
                           kein Visum und also vorerst keine Chance zur
                           Rückkehr nach Hamburg, um eine
                           Wiederaufnahme des Asylverfahrens zu erreichen,
                           zurück zu seiner Lebensgefährtin und dem kleinen
                           Sohn.

                           Dabei schienen ihm die deutschen Behörden
                           gerade noch wohlgesinnt zu sein, zwei der
                           beteiligten drei Stellen jedenfalls. Denn das
                           Hamburger Einwohnerzentralamt, das als
                           zuständige Innenbehörde einer Visumserteilung für
                           G. zustimmen mußte, hatte keine Einwände. Man
                           gab grünes Licht für das Visum und hob auch
                           gleich das Verbot der Wiedereinreise auf, das
                           automatisch durch die Abschiebung in Kraft
                           getreten war. „Von unserer Seite haben wir getan,
                           was wir konnten“, bestätigt der Sprecher des
                           Hamburger Einwohnerzentralamtes, Norbert
                           Smekal, und er sagt es mit einem Ton des
                           Bedauerns, weil seine Fürsprache bisher nichts
                           genützt hat im Fall G.

                           Die Zähne eingeschlagen

                           Offiziell hatte die deutsche Botschaft in Bukarest,
                           die zweite mit dem Fall befaßte Behörde, G.s
                           Antrag mit einem ärztlichen Gutachten über die
                           erlittenen Folterungen zwar nur nach Hamburg
                           weitergeleitet. Aber Norbert Smekal betont, daß
                           „wir uns bei der Entscheidung natürlich auf die
                           Bewertung des Auswärtigen Amtes gestützt
                           haben“. Was impliziert, daß der Fall geprüft wurde
                           und der Botschaft das Gutachten der türkischen
                           Menschenrechtsstiftung überzeugend erschien in
                           seiner nüchternen Schrecklichkeit: Sechs Tage
                           durfte G. nicht schlafen und nicht essen. Er wurde
                           schwer geprügelt, mit Schlagstock, Fäusten,
                           Fußtritten. Ihm wurden Zähne eingeschlagen. Sein
                           Kopf wurde gegen Wand und Boden
                           geschleudert, so schwer, daß er wegen der
                           Blutungen ins Krankenhaus gebracht wurde. So
                           geht das über mehrere Seiten im ärztlichen Attest.

                           Nun wäre für G. vielleicht die Angst vorbei
                           gewesen und er wohl schon wieder in
                           Deutschland, hätte er nur einen Paß gehabt, in den
                           man das Visum hätte stempeln können. Aber leider
                           war ihm dieser zuvor bei einem gescheiterten
                           Ausreiseversuch von den Türken abgenommen
                           worden. Also kam das deutsche Innenministerium
                           zum Zug, das ein letztes Wort hat bei der
                           Entscheidung über die „Befreiung von der
                           Paßpflicht“ oder die „Ausstellung eines
                           Paßersatzes“.

                           Das Machtwort aus Bonn lautete Nein. Denn in
                           der Verordnung heiße es: „Erst wenn alle anderen
                           Möglichkeiten ausgeschöpft sind, kommt die
                           Freistellung oder ein bundesdeutsches
                           Reisedokument in Frage“, sagt Detlef Dauke, der
                           Sprecher des Innenministers. G. aber befinde sich
                           in Rumänien, und ein dort gestellter Asylantrag sei
                           durchaus eine Alternative, um einen
                           Flüchtlingsausweis und damit ein offizielles
                           Reisedokument zu erhalten.

                           „Ich halte diese Interpretation für vorgeschoben“,
                           erklärt G.s Rechtsanwältin Cornelia
                           Ganten-Lange. Auch bei der kirchlichen
                           Flüchtlingsberatungsstelle „Fluchtpunkt“ in
                           Hamburg, die G. schon in Deutschland betreut
                           hatte, hält man die Argumente aus dem
                           Innenministerium für falsch. „Damit wird doch der
                           Geist des Gesetzes gebrochen“, sagt die
                           Mitarbeiterin Anne Harms, und betone nicht
                           gerade Innenminister Kanther immer wieder, daß
                           eben das Land zuständig sei, bei dem zuvor der
                           Asylantrag erfolgte? Das zuständige Land ist bei
                           G. nun mal Deutschland – vor allem, nachdem
                           schon vor seiner Ausweisung im Februar
                           Befürchtungen über die türkischen Behörden laut
                           wurden. Die hatten nämlich verdächtigerweise
                           nach dem genauen Abschiebetermin gefragt. Das
                           war zwar der Hamburger Ausländerbehörde
                           merkwürdig erschienen, dem Gericht genügte dies
                           aber nicht. Also, argumentieren „Fluchtpunkt“ und
                           Amnesty International, trage Deutschland eine
                           Mitverantwortung an dem, was G. zugestoßen ist
                           bei seiner Rückkehr in die Türkei.

                           Tatsächlich ist der Fall des G. ein besonderer Fall,
                           und zwar auch deshalb, weil vor einigen Monaten
                           bereits eine

                           äußerst ähnliche Geschichte passiert war. Der
                           Kurde Mehmet Ali Akbas, ebenfall zuvor aus
                           Deutschland abgeschoben, war bei seiner Ankunft
                           in der Türkei verhaftet und gefoltert worden. Er
                           war aus der Türkei geflüchtet und zunächst in
                           Griechenland gelandet. Auch andere
                           Übereinstimmungen gibt es. Wie Akbas wagte es
                           G., seine Folterverletzungen dokumentieren zu
                           lassen – zwar nicht von einem Vertrauensarzt der
                           deutschen Botschaft, aber von Ärzten der
                           türkischen Menschenrechtsstiftung, deren Attest
                           als glaubwürdig angesehen wurde. Wie bei Akbas
                           brach die Türkei also erwiesenermaßen die
                           Vereinbarung mit Bonn, wonach abgeschobenen
                           Kurden keine Strafverfolgung drohe. Und wie G.
                           hatte auch Akbas keinen Paß und benötigte
                           deshalb die Zustimmung des Innenministeriums.

                           Angst vor dem Präzedenzfall

                           Doch hier hören die Gemeinsamkeiten auf. Denn
                           Akbas wurde im Mai – in Zusammenarbeit mit der
                           deutschen Botschaft – nach Deutschland
                           zurückgeholt. Was aber unterscheidet
                           Griechenland von Rumänien, daß G. eine andere
                           Behandlung erfährt?

                           Mehmet Ali Akbas gilt offiziell als „Einzelfall“, in
                           dem die türkisch-deutschen Abmachungen nicht
                           eingehalten wurden. Mit G. ist nun aber der zweite
                           auch dokumentierte „Einzelfall“ bekannt geworden.
                           Dokumentiert, wohlgemerkt, denn inoffizielle
                           Berichte über Verhaftungen und Folter nach der
                           Abschiebungen gibt es immer wieder. So berichtet
                           die Frankfurter Rundschau am Mittwoch über die
                           Abschiebung eines kurdischen Deserteurs, der
                           gleichfalls nach seiner Rückkehr in der Türkei
                           schwer mißhandelt worden sei.

                           „Man will nicht noch einen Präzedenzfall schaffen“,
                           sagt deshalb Anne Harms von „Fluchtpunkt“.
                           Denn dann wird sich irgendwann die Frage stellen,
                           nach wievielen „Ausnahmefällen“ es an der Zeit
                           sei, die Abschiebepolitik zu ändern. Auch wegen
                           der bevorstehenden Bundestagswahl sei wohl der
                           Fall G. im Innenministerium zur „Chefsache“
                           erklärt worden, meint Anne Harms, die von einem
                           im Ton scharfen Schriftwechsel zwischen
                           Auswärtigem Amt und Innenministerium berichtet,
                           ebenso übrigens wie Norbert Smekal, der sagt:
                           „Wir bedauern die Entscheidung des
                           Innenministeriums.“

                           Aus Bonn ist zu hören, daß der dieser Tage fällige
                           Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur Türkei
                           kritischer als bislang ausfallen wird. Solche
                           Berichte dienen Behörden und Gerichten als
                           Entscheidungsgrundlage. Währenddessen hat G.
                           einen mündlichen Asylantrag in Bukarest gestellt,
                           entweder auf Anraten der deutschen Botschaft,
                           oder aber „auf Druck“, wie Amnesty International
                           eher meint. Ob dieser Antrag erfolgreich ist, muß
                           sich noch herausstellen, denn eigentlich läuft die
                           Frist für einen Antrag zehn Tage nach der Einreise
                           ab. Auch gilt Rumänien zwar als „sicheres
                           Herkunftsland“, es steht jedoch nicht auf der Liste
                           der „sicheren Drittländer“. Und obwohl Rumänien
                           die Genfer wie auch die Europäische
                           Menschenrechtskonvention unterzeichnet hat,
                           werden in einem Bericht des
                           UN-Flüchtlingskommissariats Bedenken zur
                           Umsetzung dieser Verträge angemeldet.

                           Unabhängig davon hat hat G.s Anwältin vor zwei
                           Tagen beim Verwaltungsgericht in Köln Klage
                           gegen die Bundesrepublik erhoben und einen
                           Antrag auf die Aussetzung der Paßpflicht gestellt.
                           Und dem Innenministerium scheinen inzwischen
                           selbst Zweifel an seiner harten Linie zu kommen,
                           das ihm eine Menge negativer Berichterstattung
                           eingetragen hat. Angeblich will man die
                           Entscheidung im Fall G. noch einmal überdenken.