Neue Zürcher Zeitung, 11.09.98

Der Europarat überprüft die Türkei
Monitoring-Verfahren in Gang gesetzt

Eine Europaratsdelegation zur Überprüfung der Voraussetzungen für die
andauernde Mitgliedschaft der Türkei im Europarat hat sich in Ankara
und Istanbul aufgehalten. Ein solches Verfahren, das ursprünglich nur
auf die neuen osteuropäischen Länder angewandt wurde, ist 1996 auch
für die Türkei eröffnet worden. Es wurde bisher nur halbherzig
betrieben.

uth. Strassburg, 10. September

Im Vordergrund der von den beiden Berichterstattern der
Parlamentarischen Versammlung des Europarats, dem Ungarn Barsony und
dem Österreicher Schwimmer, diese Woche in der Türkei geführten
Gespräche sind die Menschenrechtssituation in der Türkei sowie die
Lage der kurdischen Bevölkerung des Landes gestanden. Neben den
Zusammenkünften mit Vertretern der Regierung und der Parteien standen
auch Treffen mit Menschenrechtsorganisationen und ein Besuch in einem
Gefängnis in Istanbul auf dem Programm. Mit dieser «fact-finding
mission», wie die Reise vom Europarat bezeichnet wurde, kommt mehr als
zwei Jahre nach der Eröffnung eines Verfahrens zur Überprüfung der
Türkei (Monitoring) hinsichtlich der Einhaltung ihrer Verpflichtungen,
die sich aus der Mitgliedschaft im Europarat ergeben, wieder etwas
Bewegung.

Kritik am Rechtsausschuss

Vor allem von Parlamentariern aus osteuropäischen Ländern, welche nach
ihrer Aufnahme seit 1994 einem solchen Verfahren unterworfen wurden,
war schon von einer Verschleppungsstrategie und Ungleichbehandlung die
Rede, zumal Barsony als Vorsitzender des Rechtsausschusses des
Europarates nicht unerheblichen Einfluss auf die Tagesordnung hat.
Zwar hatten die Berichterstatter im November 1996 und im März 1997
bereits zwei Exkursionen in die Türkei unternommen, was zu einer
Mitteilung in Form eines Entwurfs für einen Bericht an den damals noch
zuständigen Rechtsausschuss der Versammlung geführt hatte.

Doch dieser Entwurf fand nie den Weg zur Beratung in die
Parlamentarische Versammlung. Zu gross war die Kritik an den von den
Berichterstattern gezogenen Schlussfolgerungen, wonach sich die Türkei
bei der Dauer der Untersuchungshaft, der abnehmenden Anzahl von
Folterungen und bei der Sicherung der Pressefreiheit auf einem guten
Weg zu befinden scheine. Eine Schlussfolgerung, die sich
ausschliesslich auf Zusicherungen von Regierungsstellen berief und in
krassem Gegensatz zu vorher von den Berichterstattern getroffenen
Feststellungen stand. Sie hatten gemeldet, dass beispielsweise 99
Prozent der Entlassenen aus dem Gefängnis in Diyarbakir (Ostanatolien)
aussagten, gefoltert worden zu sein.

Diese Aussagen wurden von den Berichterstattern aber durch den Hinweis
relativiert, dass die Vorwürfe nur in zwei von tausend Fällen auch
bewiesen werden konnten. Und zu der Angabe, dass die Presse frei sei,
kommen die Berichterstatter, obwohl sie zugleich berichten, dass mehr
als 80 Journalisten wegen ihrer journalistischen Tätigkeit zu langen
Gefängnisstrafen verurteilt wurden. So erhielt nach einem Uno-Bericht
ein Journalist zehn Monate Gefängnis dafür, dass er einen Bericht
einer Menschenrechtsorganisation aus dem Englischen übersetzt hatte.
Angesicht dieser damaligen Widersprüche hatten die Berichterstatter im
April 1997 angekündigt, dass sie vor der Erarbeitung ihres endgültigen
Berichts in Kürze eine erneute Reise in die Türkei vornehmen wollten,
um vor allem mit inhaftierten kurdischen Abgeordneten zu sprechen. Bei
dieser Absichtserklärung aber war es mehr als ein Jahr lang geblieben.
Der Druck auf die politischen Gremien des Europarats zum Handeln
erhöhte sich enorm. Geradezu sprunghaft steigen die Klagen türkischer
Bürger vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg.

Insgesamt waren Ende Juni 1598 eingegangene Beschwerden anhängig. 28
stehen in Kürze zur Urteilsverkündung an. Hatte sich die Türkei bisher
allen Strassburger Urteilen und den daraus resultierenden Leistungen
zur Wiedergutmachung unterworfen, so kündigte die Regierung in Ankara
im Juli, wie seinerzeit berichtet, erstmals an, ein Urteil nicht
anzuerkennen und sich damit auch offiziell in Gegensatz zu ihren
Verpflichtungen zu stellen. Öffentlicher Druck entstand im Frühsommer
durch die Auseinandersetzungen um die Verabschiedung des Berichts über
die Situation kurdischer Flüchtlinge in der Türkei. Der
Entschliessungsentwurf der Schweizerin Vermot- Mangold war durch
Änderungsanträge Schwimmers, der diese mit den türkischen Abgeordneten
abgestimmt hatte, so abgeändert worden, dass das Wort «kurdisch» immer
dann gestrichen oder durch «Bevölkerung der Region» ersetzt wurde,
wenn ein Zusammenhang mit der Verantwortung türkischer Behörden oder
der Armee hätte deutlich werden können. Aus dem Titel der
Entschliessung war das Wort «kurdisch» allerdings nicht gestrichen
worden, wie hier am 26. Juni irrtümlich berichtet wurde.

Mangelnde Transparenz

Kritik kam auch aus dem Monitoring-Ausschuss selbst. Der deutsche
Abgeordnete Bindig kritisierte die mangelnde Transparenz der
Ausschussarbeit. So sollte es neben dem Abschlussbericht, der die
Entlassung eines Landes aus dem Verfahren empfehle, auch
Zwischenberichte geben, die in der Versammlung beraten werden müssten
und dadurch möglicherweise auch zur Beschleunigung der Problemlösung
in dem Land beitragen. Auch sollte in den Jahresberichten über die
Arbeit des Ausschusses nicht nur die Anzahl der Treffen und die der
Gespräche in den überprüften Ländern festgehalten werden, sondern auch
die Probleme und die Schwerpunkte der Überprüfungen in jedem Land. Im
Fall der Türkei hiesse das: «Warum soll nicht dargestellt werden, dass
wir uns in der Türkei mit den Rechten der kurdischen
Bevölkerungsgruppe und mit der Folter befassen?» Sollte diese Mahnung
aufgenommen werden, könnte auf der Plenarsitzung der Versammlung im
Januar ein Zwischenbericht zur Türkei auf der Tagesordnung stehen.