taz 10.9.98

Ein Mythos kehrt zurück

Aus der alten Seidenstraße sollen moderne
Transportrouten werden. Eisenbahngleise und
Ölpipelines sollen das rohstoffreiche Zentralasien
erschließen

Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Das Wort steht für einen Mythos - sagenhafter
Reichtum aus fernen Ländern. Wer über die
Seidenstraße spricht, denkt an Marco Polo, an
lebensgefährliche, entsagungsvolle Reisen, an
orientalische Traumstädte wie Buchara und
Samarkant und eben an Seide aus China, Seide, die
in Gold aufgewogen wurde.

Allein der Name ist heute wieder Programm - für
neuerlichen Reichtum, den jetzt nicht mehr die
Seidenraupe bringen soll, sondern das flüssige
Gold unter dem Kaspischen Meer, den Salzwüsten
Turkmenistans und der Steppe Kasachstans: Öl und
Gas ist der Stoff, aus dem heute die Träume vom
großen Geld entlang der ehemaligen Seidenstraße
sind. Dabei ist das entscheidende Problem von
damals das gleiche geblieben wie heute: Wie kommen
die potentiellen Reichtümer auf den Markt?

Zwei Tage lang haben sich jetzt hochrangige
Vertreter aus 32 Ländern - aus einigen Staaten
waren Präsidenten oder Ministerpräsidenten
anwesend - in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans
am Kaspischen Meer, diesem Problem gewidmet. Unter
Mithilfe der UNO und der Europäischen Union soll
eine moderne Seidenstraße mit dem wenig
phantasievollen Namen TRACECA (Transport Corridor
Europe-Caucasia- Asia) aufgebaut werden, auf der
zukünftig die Schätze Zentralasiens in den Westen
gebracht werden sollen.

Tatsächlich hat das neue Projekt mit einer wie
immer gearteten Seidenstraßenromantik nicht das
geringste gemein. Es geht um die Erschließung von
Ölreserven, die nach den Vorkommen auf der
arabischen Halbinsel die größten fossilen
Energiereserven der Welt darstellen. Und es geht
auch um Geopolitik. Die USA und die EU wollen den
Einfluß Rußlands in dessen angestammtem Hinterhof
brechen und gleichzeitig den neuen Reichtum am
iranischen Mullah-Land vorbeileiten.

Gestern wurde von den 32 Staaten, darunter den
Transkaukasusrepubliken, der Türkei, der EU, den
USA, Japan und China eine Vereinbarung
unterzeichnet, die die Verbesserung und den Neubau
von Straßen und Schienenverbindungen sowie der
Seewege in dem Korridor von Zentralasien über den
Transkaukasus durch die Türkei nach Europa zum
Ziel hat. Die Idee zu TRACECA stammmt aus Brüssel.
Dort fand auch die Gründungsversammlung statt. Im
Mai 1993 waren auf Einladung der EU fünf
zentralasiatische Staaten und die drei
Transkaukasusrepubliken Aserbaidschan, Georgien
und Armenien bei der EU-Kommission in Brüssel zu
Gast, um mit finanzieller Hilfe der Europäischen
Union das Projekt TRACECA zu starten. Gestern
wurde unter anderem vereinbart, in Baku ein
ständiges Büro und eine aus verschiedenen
Regierungen besetzte Kommission einzurichten.

Neben dem Bau von Öl- und Gaspipelines (siehe
Karte) geht es vor allem um Eisenbahnlinien und
die Anbindung der Schwarzmeerhäfen Odessa in der
Ukraine und Constanza in Rumänien an Handels- und
Verkehrsströme. Hier soll zukünftig ein Großteil
der Waren für Nord- und Mitteleuropa geführt
werden. Eine neue Eisenbahntrasse, die in
Teilstücken bereits existiert, soll zukünftig von
Istanbul über Tbilissi und weiter nach Baku bis in
die usbekische Hauptstadt Taschkent führen.

Die Finanzierung der Bahnstrecke scheint
gesichert, und vor allem die Türkei erhofft sich
einen Aufschwung im Zentralasienhandel: Momentan
müssen alle türkischen Waren durch den Iran
transportiert werden, dabei kassiert der Iran
horrende Transitgebühren.

Bei der Routenplanung für die Pipelines drängte
die Türkei auf eine Trasse durch ihr Land.
Ministerpräsident Süleyman Demirel war persönlich
nach Baku gereist, um in einem Gespräch unter vier
Augen mit seinem aserbaidschanischen Kollegen
Gaidar Alijew dafür zu werben.

Als Erfolg wertete die Türkei auch, daß der
Vertrag einen Passus zur Umweltverträglichkeit der
Öltransporte enthält. Die Türkei interpretiert ihn
so, daß die Zahl der den Bosporus passierenden
Öltanker begrenzt wird - ein weiteres Argument für
die Pipeline durch die Türkei. Die türkische
Presse feierte den Abschluß des Vertrages denn
auch begeistert als den entscheidenen Schritt des
Landes, zukünftig der Knotenpunkt Eurasiens zu
werden.