TAZ-HAMBURG 29.10.1998
„Wir entschuldigen uns“
Angeklagte im Dev-Sol-Verfahren distanzieren sich von Schießerei

„Wir möchten uns sowohl bei den unmittelbar Gefährdeten als auch bei der Bevölkerung Altonas entschuldigen.“ Mit diesem Quasi-Geständnis haben sich drei mutmaßliche Anhänger des „Yagan“-Flügels der kurdisch-türkischen Partei „Dev Sol“ gestern vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht von einer Schießerei in Ottensen distanziert, die sie sich im Januar mit Anhängern des verfeindeten „Karatas“-Flügels geliefert hatten.
Beim gestrigen Prozeßauftakt appellierten die Angeklagten an beide Seiten, Differenzen künftig nicht mit Kämpfen, „sondern mit politischer Diskussion“ zu lösen. „Ich bedauere, daß die Spirale der Gewalt nicht nur zu Verletzten geführt hat, sondern daß auch unbeteiligte Menschen massiv gefährdet wurden“, führte Anwalt Manfred Getzmann aus, der den Angeklagten Taylan T. vertritt.
Der 20jährige muß sich gemeinsam mit Abbas Y. (18), und Armagan U (31) wegen Mordversuchs und „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ verantworten. Bundesanwalt Peter Berard wirft ihnen vor, zusammen mit zwei weiteren, Männern „ein bewaffnetes Kommando gebildet“ zu haben, „um Spendengeld einzutreiben und Karatas-Mitglieder zu erschießen“.
Armagan U. soll in Ottensen sechs Schüsse auf die Karatas-Leute Hidir M. und Kazim G. abgefeuert haben. Hidir M. wurde durch zwei Kugeln schwer verletzt. Der Angeklagte Taylan T. habe, so Berard, den flüchtigen Kazim G. bis in die Nöltingstraße verfolgt und mehrmals auf ihn geschossen.
Die Verteidigung bezeichnete die Anklage als „aufgebläht“. Zwar ist die Dev Sol (Revolutionäre Linke) seit der Kölner Botschaftsbesetzung 1983 verboten. Das Verbot sei jedoch niemals auf die Nachfolgegruppen der gespaltenen Partei, Yagan und Karatas, übertragen worden.
Weiterhin gehen die Anwälte davon aus, daß das Zusammentreffen beider Flügel im Januar zufällig war. Es habe sich „um keine Gewaltaktion eines bewaffneten Kommandos gehandelt“, erklärte Verteidiger Michael Nitschke, bestenfalls sei die Schießerei „als Familienfehde oder Blutrache zu bezeichnen“.
Der Prozeß wird fortgesetzt.
Peter Müller


 DIE WELT, 29.10.1998

Dev Sol ­ Hat der Terror jetzt ein Ende?

  Strafverfolgung zeigt Wirkung: Verfeindete Flügel der türkischen Linksextremisten in der „Findungsphase"

  Von INSA GALL
  Ist die Ära der Gewalt zwischen den beiden verfeindeten Flügeln der linksextremistischen türkischen Terrororganisation „Dev Sol"
  zu Ende? Nachdem sich die konkurrierenden Gruppen zwei Jahre lang blutige und teilweise tödliche Auseinandersetzungen in der
  Hansestadt geliefert haben, ist vorerst „abwartende Ruhe" eingekehrt, erklärt der stellvertretende Leiter des Hamburger
  Verfassungsschutzes, Manfred Murck. Während sich der „Karatas"-Flügel in einer Findungsphase befinde, in der auch das
  Verhältnis zur Gewalt neu bestimmt werde, habe sich „Yagan" mit der verbotenen kurdischen PKK und anderen türkischen
  linksextremistischen Gruppierungen in Hamburg
  zum Bündnis „Vereinigte revolutionäre Kraft (DBG)" zusammengeschlossen. „Dadurch ist das ganze Feld in Bewegung geraten, so
  daß das Gewaltpotential mittelfristig gebändigt wurde", sagt Murck.

  Hinzu kommt, daß „Dev Sol" durch die spektakuläre Verhaftung mehrerer Führungskader personell stark geschwächt ist: Seit
  gestern müssen sich drei 18-, 20- und 31jährige Anhänger des „Yagan"-Flügels vor Gericht verantworten, die im Januar in
  Ottensen auf offener Straße zwei Kontrahenten von „Karatas" niedergeschossen hatten. Alle drei Angeklagten distanzierten sich
  gestern in schriftlichen Erklärungen von der gewalttätigen Auseinandersetzung für ihre politischen Ziele.

  Der 20jährige Taylan T. ­ einer der Schützen ­ entschuldigte sich ausdrücklich bei der Hamburger Bevölkerung dafür, daß bei der
  Schießerei völlig unbeteiligte Menschen gefährdet worden seien. Gerade Altona habe immer ein offenes Ohr für türkische
  Menschen gehabt. Zusammen mit Armagan U. (18) hatte er im Januar erst einen 32jährigen Kontrahenten mit Bauchschüssen
  lebensgefährlich und einen anderen schwer verletzt, so die Anklage.

  Neben diesen drei „Yagan"-Anhängern stehen seit Mai drei Führungskader des „Karatas"-Flügels in Hamburg vor dem Richter.
  Unter ihnen ist nicht nur der Deutschland-Chef der Organisation, sondern auch der Hamburger Bezirksleiter Ali E. Demnächst
  wird auch dessen Nachfolger an der Spitze der Hamburger „Karatas"-Organisation, Ilhan Y. (32), angeklagt. Er war im Juni im
  Gerichtssaal verhaftet worden.

  Bundesweit sitzen drei weitere „Dev Sol"-Funktionäre in Untersuchungshaft, gegen 16 Führungskader laufen derzeit
  Ermittlungsverfahren, wie Eva Schübel, Sprecherin von Generalbundesanwalt Kay Nehm, mitteilt. „Angesichts dieses erhöhten
  Strafverfolgungsdrucks haben sich die Aktivisten deutlich gemäßigt ­ die Schießereien haben aufgehört", sagt sie. „Die
  Strafverfolgungsmaßnahmen haben Wirkung gezeigt", meint auch Verfassungsschützer Murck. Die rund 100 „Dev Sol"-Anhänger
  in Hamburg seien durch den erhöhten Polizeidruck verunsichert. Für eine völlige Entwarnung ist es jedoch zu früh: Der
  Grundkonflikt zwischen den Flügeln bestehe weiter.

  Doch in der „politisch-ideologischen Nachdenkensphase", in der sich der „Karatas-Flügel" derzeit „neu sortiere", stehe auch die
  Gewaltbereitschaft zur Disposition. Nachdem der Verfassungschutz im Anschluß an die Schießerei in Ottensen weitere blutige
  Racheakte befürchtet hatte, sagt Murck heute: „In der bekannten gewalttätigen Form sind die Konflikte derzeit nicht virulent."