„Wir möchten uns sowohl bei den unmittelbar Gefährdeten als
auch bei der Bevölkerung Altonas entschuldigen.“ Mit diesem Quasi-Geständnis
haben sich drei mutmaßliche Anhänger des „Yagan“-Flügels
der kurdisch-türkischen Partei „Dev Sol“ gestern vor dem Hanseatischen
Oberlandesgericht von einer Schießerei in Ottensen distanziert, die
sie sich im Januar mit Anhängern des verfeindeten „Karatas“-Flügels
geliefert hatten.
Beim gestrigen Prozeßauftakt appellierten die Angeklagten an
beide Seiten, Differenzen künftig nicht mit Kämpfen, „sondern
mit politischer Diskussion“ zu lösen. „Ich bedauere, daß die
Spirale der Gewalt nicht nur zu Verletzten geführt hat, sondern daß
auch unbeteiligte Menschen massiv gefährdet wurden“, führte Anwalt
Manfred Getzmann aus, der den Angeklagten Taylan T. vertritt.
Der 20jährige muß sich gemeinsam mit Abbas Y. (18), und
Armagan U (31) wegen Mordversuchs und „Bildung einer terroristischen Vereinigung“
verantworten. Bundesanwalt Peter Berard wirft ihnen vor, zusammen mit zwei
weiteren, Männern „ein bewaffnetes Kommando gebildet“ zu haben, „um
Spendengeld einzutreiben und Karatas-Mitglieder zu erschießen“.
Armagan U. soll in Ottensen sechs Schüsse auf die Karatas-Leute
Hidir M. und Kazim G. abgefeuert haben. Hidir M. wurde durch zwei Kugeln
schwer verletzt. Der Angeklagte Taylan T. habe, so Berard, den flüchtigen
Kazim G. bis in die Nöltingstraße verfolgt und mehrmals auf
ihn geschossen.
Die Verteidigung bezeichnete die Anklage als „aufgebläht“. Zwar
ist die Dev Sol (Revolutionäre Linke) seit der Kölner Botschaftsbesetzung
1983 verboten. Das Verbot sei jedoch niemals auf die Nachfolgegruppen der
gespaltenen Partei, Yagan und Karatas, übertragen worden.
Weiterhin gehen die Anwälte davon aus, daß das Zusammentreffen
beider Flügel im Januar zufällig war. Es habe sich „um keine
Gewaltaktion eines bewaffneten Kommandos gehandelt“, erklärte Verteidiger
Michael Nitschke, bestenfalls sei die Schießerei „als Familienfehde
oder Blutrache zu bezeichnen“.
Der Prozeß wird fortgesetzt.
Peter Müller
DIE WELT, 29.10.1998
Dev Sol Hat der Terror jetzt ein Ende?
Strafverfolgung zeigt Wirkung: Verfeindete Flügel der türkischen Linksextremisten in der „Findungsphase"
Von INSA GALL
Ist die Ära der Gewalt zwischen den beiden verfeindeten
Flügeln der linksextremistischen türkischen Terrororganisation
„Dev Sol"
zu Ende? Nachdem sich die konkurrierenden Gruppen zwei Jahre
lang blutige und teilweise tödliche Auseinandersetzungen in der
Hansestadt geliefert haben, ist vorerst „abwartende Ruhe" eingekehrt,
erklärt der stellvertretende Leiter des Hamburger
Verfassungsschutzes, Manfred Murck. Während sich der „Karatas"-Flügel
in einer Findungsphase befinde, in der auch das
Verhältnis zur Gewalt neu bestimmt werde, habe sich „Yagan"
mit der verbotenen kurdischen PKK und anderen türkischen
linksextremistischen Gruppierungen in Hamburg
zum Bündnis „Vereinigte revolutionäre Kraft (DBG)"
zusammengeschlossen. „Dadurch ist das ganze Feld in Bewegung geraten, so
daß das Gewaltpotential mittelfristig gebändigt wurde",
sagt Murck.
Hinzu kommt, daß „Dev Sol" durch die spektakuläre
Verhaftung mehrerer Führungskader personell stark geschwächt
ist: Seit
gestern müssen sich drei 18-, 20- und 31jährige Anhänger
des „Yagan"-Flügels vor Gericht verantworten, die im Januar in
Ottensen auf offener Straße zwei Kontrahenten von „Karatas"
niedergeschossen hatten. Alle drei Angeklagten distanzierten sich
gestern in schriftlichen Erklärungen von der gewalttätigen
Auseinandersetzung für ihre politischen Ziele.
Der 20jährige Taylan T. einer der Schützen
entschuldigte sich ausdrücklich bei der Hamburger Bevölkerung
dafür, daß bei der
Schießerei völlig unbeteiligte Menschen gefährdet
worden seien. Gerade Altona habe immer ein offenes Ohr für türkische
Menschen gehabt. Zusammen mit Armagan U. (18) hatte er im Januar
erst einen 32jährigen Kontrahenten mit Bauchschüssen
lebensgefährlich und einen anderen schwer verletzt, so
die Anklage.
Neben diesen drei „Yagan"-Anhängern stehen seit Mai drei
Führungskader des „Karatas"-Flügels in Hamburg vor dem Richter.
Unter ihnen ist nicht nur der Deutschland-Chef der Organisation,
sondern auch der Hamburger Bezirksleiter Ali E. Demnächst
wird auch dessen Nachfolger an der Spitze der Hamburger „Karatas"-Organisation,
Ilhan Y. (32), angeklagt. Er war im Juni im
Gerichtssaal verhaftet worden.
Bundesweit sitzen drei weitere „Dev Sol"-Funktionäre in
Untersuchungshaft, gegen 16 Führungskader laufen derzeit
Ermittlungsverfahren, wie Eva Schübel, Sprecherin von Generalbundesanwalt
Kay Nehm, mitteilt. „Angesichts dieses erhöhten
Strafverfolgungsdrucks haben sich die Aktivisten deutlich gemäßigt
die Schießereien haben aufgehört", sagt sie. „Die
Strafverfolgungsmaßnahmen haben Wirkung gezeigt", meint
auch Verfassungsschützer Murck. Die rund 100 „Dev Sol"-Anhänger
in Hamburg seien durch den erhöhten Polizeidruck verunsichert.
Für eine völlige Entwarnung ist es jedoch zu früh: Der
Grundkonflikt zwischen den Flügeln bestehe weiter.
Doch in der „politisch-ideologischen Nachdenkensphase", in der
sich der „Karatas-Flügel" derzeit „neu sortiere", stehe auch die
Gewaltbereitschaft zur Disposition. Nachdem der Verfassungschutz
im Anschluß an die Schießerei in Ottensen weitere blutige
Racheakte befürchtet hatte, sagt Murck heute: „In der bekannten
gewalttätigen Form sind die Konflikte derzeit nicht virulent."
Hamburger Abendblatt 29.10.98
Schüsse in der Einkaufsstraße
Mammut-Prozeß gegen mutmaßliche Dev-Sol-Mitglieder
Der blutige Streit zweier verfeindeter türkischer Extremistengruppen
erschütterte Ottensen:
Schüsse peitschten am 29. Januar 1998 an der Bahrenfelder Straße,
erschreckten Passanten in der belebten Einkaufsstraße. Zwei Extremisten
(31, 33) wurden von Kugeln verletzt. Seit gestern beschäftigt die
Schießerei das Hanseatische Oberlandesgericht (OLG). Angeklagt sind
drei mutmaßliche Mitglieder der in Deutschland verbotenen türkischen
Extremisten-Organisation Devrimci Sol (= Revolutionäre Linke, „Dev
Sol“). Versuchten Mord sowie Mitgliedschaft in einer terroristischen
Vereinigung wirft die Bundesanwaltschaft Abbas Y. (31), Taylan T. (20)
und Armagan U. (18) vor, überdies einen vollendeten bzw. zwei Erpressungsversuche.
Bei türkischen Geschäftsleuten sollen sie „Spenden“ eingetrieben
haben.
Es ist ein Mammutprozeß. Die Akten umfassen rund 20 Ordner, in
der Terminsverfügung sind etwa 50 Zeugen genannt. Ein Verfahren mit
einem brisanten politischen Hintergrund: Dev Sol, 1978 in der Türkei
gegründet, dem Leninismus-Marxismus verschrieben, wurde 1982 in Deutschland
verboten. Nach einem Führungsstreit zwischen den Anführern spaltete
sich Dev Sol 1993 in zwei konkurrierende, sich gewaltsam bekämpfende
Gruppierungen: der „Karatas“- und der „Yagan“-Flügel, benannt nach
ihren Anführern. Morde und Brandanschläge, so die Bundesanwaltschaft,
gingen auch in Deutschland zuhauf auf das Konto der Flügel - mit mehr
als 100 Toten. Die Angeklagten im OLG-Prozeß sollen dem Yagan-, die
Opfer dem Karatas-Flügel angehören.
Die Angeklagten zeigen Pokermiene, lassen ihre Anwälte für
sie Erklärungen vortragen: wohlformulierte allgemeine Erklärungen.
Die Angeklagten distanzieren sich von einer gewalttätigen Auseinandersetzung
für politische Ziele. „Die Spirale der Gewalt“, so Taylan T., habe
auch Unbeteiligte massiv gefährdet, er bedaure dies. Einer der Verteidiger
kritisiert die Anklage als „rechtlich wenig fundiert“. Er hoffe auf Einsicht
bei Gericht - „damit wir hier nicht bis zum Jahr 2000 verhandeln müssen.“
Es ist das zweite Dev-Sol-Großverfahren in Hamburg. Seit Mai
1998 müssen sich vor einem anderen OLG-Strafsenat drei mutmaßliche
Karatas-Funktionäre verantworten. Ein zentraler Punkt in beiden Verfahren:
Die Klärung, ob die Gruppierungen, ihre Strukturen eine terroristische
Vereinigung darstellen - schwierigste Rechtsmaterie.
(neh)