Existenzängste der NATO
Warum interveniert der Nordatlantikpakt
im Kosovo-Konflikt? Von Rainer Rupp
(Rainer Rupp war 16 Jahre im NATO-Hauptquartier
als Wirtschaftsexperte und Topspion der DDR tätig. Seit seiner Verurteilung
1994 verbüßt er
eine 12jährige Freiheitsstrafe
in der JVA Saarbrücken)
Nach der Auflösung des Warschauer
Vertrags und dem Zerfall der Sowjetunion war eine Neuauflage des Kalten
Krieges unmöglich geworden.
Auch aus dem verengten Wahrnehmungswinkel
eingefleischter Kalter Krieger waren die Grenzen der Nordatlantischen Allianz
nirgendwo mehr
bedroht. Die NATO, das Hauptinstrument
des Westens zur Führung des Kalten Krieges, hatte ihren Zweck erfüllt,
das Ziel war erreicht. Somit
stellte sich folgerichtig die
Frage nach ihrer weiteren Existenzberechtigung. Diese Frage wurde nicht
nur unter alten Gegnern im linken Spektrum der
westeuropäischen Öffentlichkeit
aufgeworfen. Lebhafte Diskussionen dazu fanden auch in den Sitzungsräumen
und Korridoren des
NATO-Hauptquartiers in Brüssel
statt. An diesen war ich als Mitarbeiter der Politischen Abteilung der
NATO von Anfang an beteiligt.
Durch ihren Erfolg habe sich die
NATO selbst arbeitslos gemacht, hieß damals der von Eigenlob triefende
Slogan. Nur die Arbeitslosigkeit wollte
niemand akzeptieren. Aus unterschiedlichsten
Gründen waren die Regierungen aller Mitgliedsländer - egal welcher
parteipolitischen Couleur - für
den Erhalt der NATO, auch ohne
äußere Bedrohung. Der Grund dafür lag im Inneren der NATO:
Es ging um nicht mehr aber auch um nicht
weniger als die Neuordnung der
machtpolitischen Kräfteverhältnisse in Europa, in dessen Mitte
nun wieder ein besonders großer und womöglich
schwer verdaulicher Brocken lag,
das neue, größere Deutschland. Wie würde es sich verhalten?
Während des Kalten Krieges
war die BRD ein wirtschaftlicher Riese, der jedoch durch vielfache Beschränkungen
im Vergleich zu Frankreich und
Großbritannien ein politisches
Zwergendasein führte. Belastet vom schlimmen Erbe des Dritten Reichs,
abhängig von amerikanischen und alliierten
Garantien und gelähmt von
den speziellen außenpolitischen Erfordernissen der deutschen Teilung
konnte Bonn weder innerhalb noch außerhalb der
NATO seine Machtansprüche
voll entfalten. In der von nuklearer Rüstung bestimmten Welt des Kalten
Krieges hatte der atomare Habenichts BRD
relativ zu seiner Wirtschaftsmacht
wenig zu sagen.
Nun hatte sich schlagartig alles
geändert. Mit dem Ende des Kalten Krieges hatten die Nuklearwaffen
innerhalb der Allianz ihre Bedeutung als
politische Manövriermasse
stark eingebüßt. Insgesamt hatte sich die Wahrnehmung der Machtattribute
geändert. Nicht mehr militärische, sondern
wirtschaftliche Potenz wurden
in der neuen Weltordnung das »A« und »O« sein.
Und unter diesem Gesichtspunkt war allen Beteiligten klar, daß
sich ein Erdrutsch zugunsten des
neuen, größeren Deutschlands ereignet hatte, das nun mit Abstand
die bedeutendste wirtschaftliche Macht Europas
war. Es konnte nur eine Frage
der Zeit sein, bis Deutschland, nun frei von den Zwängen der Vergangenheit,
dies in größere politische Macht
übersetzen würde, was
notgedrungen auf Kosten der Einflußmöglichkeiten der anderen
gehen mußte. Für viele eine traumatische Vorstellung, wenn
dies außerhalb des bestehenden
Rahmens der NATO geschehen würde. Nur notdürftig zugeschüttetes,
dafür aber tiefsitzendes altes Mißtrauen
gegenüber Deutschland trat
erneut zutage. Das hatte sich bereits in den Widerständen gegen die
deutsche Einheit in Paris und London geäußert.
Und nach der Einheit war es deshalb
auch nicht verwunderlich, daß z. B. in Holland selbst ehemals linke
NATO-Gegner sich mit Blick auf
Deutschland nachhaltig für
den Erhalt der NATO einsetzten. Nicht die Abwehr einer möglichen Bedrohung
von außen hatten sie im Sinn, sondern
die Einbindung und die geregelte
Machtentfaltung des größeren Deutschlands innerhalb der NATO.
Nun war ja Deutschland auch noch
in die europäischen Institutionen eingebunden. Aber nach Ansicht der
kleineren europäischen Mitgliedsländer
konnten diese die Vorteile der
NATO nicht ersetzen. Nicht nur, weil Deutschland die stärkste Kraft
in der EU war, sondern auch, weil sie innerhalb
der EU ein Direktorium der Großen
(BRD und Frankreich) befürchteten, dem die kleineren Länder nichts
entgegenzusetzen gehabt hätten.
Innerhalb der NATO stellten jedoch
die USA ein Gegengewicht gegen mögliche Entwicklungen dieser Art dar,
was den Spielraum der kleineren
Länder erheblich vergrößerte.
Auch für die USA war der Erhalt
der NATO unabdingbar, garantierte sie doch eine institutionalisierte direkte
Einflußnahme auf europäische
Entwicklungen. Mit anderen Worten:
In der EU saßen die USA nicht einmal am Tisch, während sie in
der NATO den größten Stuhl hatten. Auch
Großbritannien war bedingungslos
für den Fortbestand der NATO. In den Institutionen der EU spielte
es vor dem Hintergrund der Achse
Paris-Bonn die zweite Geige. In
der NATO dagegen konnte London durch den engen und immer wieder demonstrativ
zur Schau gestellten
Schulterschluß mit dem großen
Bruder USA in dessen Fahrwasser so manche britische Interessen durchsetzen.
Die britisch-amerikanischen
»besonderen Beziehungen«
(special relationship) sicherten London eine Einflußnahme auf die
kontinental-europäische Politik, die ihm jedoch nur im
Rahmen der NATO möglich war.
Nur Fankreich wollte Bedeutung
und Einfluß der US- geführten NATO zurückdrängen,
zugunsten des Aufbaus der Westeuropäischen
(Verteidigungs) Union (WEU), natürlich
unter französischer Führung. Aber auch Paris wollte nicht die
Auflösung der NATO, denn für seine
hochgesteckten WEU- Ziele brauchte
es in möglichen Krisen nach wie vor die materielle Unterstützung
durch die USA im Rahmen der NATO.
Bonn sah sich von Washington und
Paris umworben und hin und her gezogen. Zu beiden Positionen vertrat es
ein klares Jein. Einerseits lockte die
Möglichkeit, gemeinsam mit
Frankreich das neue deutsche Gewicht im Rahmen der WEU unverdünnt
und voll zur Geltung zu bringen, andererseits
erschienen die politischen und
institutionellen Schwierigkeiten zur Durchsetzung einer »europäischen
Sicherheits- und Verteidigungsidentität« auf
absehbare Zeit unüberwindlich.
Außerdem hatten die Amerikaner Bonn ein Angebot gemacht, das so ganz
nach dem Geschmack der deutschen
Machtpolitiker war, die die alten
Fesseln abschütteln wollten. Nach dem Fall der Mauer hatte Präsident
George Bush in Berlin eine Rede gehalten,
die versprach, das europäische
Machtgefüge zugunsten Deutschlands zu revolutionieren: Eine strategische
Partnerschaft zwischen den USA und der
BRD, dem gewichtigsten Land Europas,
hatte Bush vorgeschlagen, selbstredend innerhalb der NATO. Die Aussicht,
die »special relationship«
Washington- London zu ersetzen,
ließ in Bonn die Sektkorken knallen, wenn auch manche sich über
die negativen Auswirkungen einer solchen
Entwicklung auf die deutsch-französischen
Beziehungen sorgten. In Großbritannien löste die Bush-Rede dagegen
Alarmstimmung aus. Und seither
bemüht man sich dort erst
recht, sich möglichst schnell und bedingungslos hinter die außenpolitischen
Abenteuer Washingtons zu stellen, um so seine
Zuverlässigkeit als europäischer
Partner der USA unter Beweis zu stellen. Ein Beweis, den Bonn in Krisensituationen
bisher noch nicht erbringen
konnte. Im Kosovo und mit dem
NATO-Angriff auf Jugoslawien sollte es nun zum ersten Mal anders sein.
Nicht umsonst würden deutsche
Tornados die Speerspitze des völkerrechtswidrigen
Angriffs darstellen.
Dies sind in groben Zügen
die Hintergründe, warum die NATO nach dem Ende des Kalten Krieges
nicht aufgelöst wurde. Auch die anderen, hier
nicht erwähnten NATO- Mitgliedsländer
hatten alle ihr eigenes machtpolitisches Interesse an deren Fortbestand.
Der mußte jedoch vor der
Öffentlichkeit gerechtfertigt
werden, weshalb nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dringend neue Aufgaben
für die NATO gefunden werden
mußten.
In der ersten Zeit war man ziemlich
orientierungs- und konzeptionslos. Nebulös wurde von allgemeinen,
nicht zu spezifizierenden »Risiken« geredet,
gegen die die NATO »gewappnet
sein müßte«. Unter der Hand wurde eine Wiedergeburt und
einen Wiedererstarken der Sowjetunion gehandelt.
Zugleich wurden am laufenden Band
neue Ideen für zukünftige NATO-Aufgaben lanciert: Überwachung
und Hilfestellung bei der nuklearen
Abrüstung und Verschrottung
in Rußland, Kontrolle des internationalen Waffenhandels, Unterbindung
der Proliferation von ABC-Waffen und
Trägersystemen, usw. usf.
Sogar an der Bekämpfung des internationalen Terrorismus wollte man
sich beteiligen. Es gab fast keinen Strohhalm, nach
dem die NATO in dieser Zeit nicht
griff, um ihre Existenzberechtigung vor der Öffentlichkeit nachzuweisen.
Langsam schälten sich dann
aber zwei neue, ineinandergreifende Aufgabenbereiche heraus, in die sich
die NATO verbiß und die in den Metropolen
die Unterstützung des Großkapitals
erhielten, sollte doch damit der »neuen Weltordnung« der Weg
geebnet werden.
Nach der Auflösung des Warschauer
Vertrages und der Sowjetunion liefen die Regierungsdelegationen der Vertragsländer
und der GUS der
NATO die Türen ein. Alle
suchten sie gute Kontakte und Beziehungen zum Westen und insbesondere zur
NATO, besonders aber finanzielle und
materielle Hilfen und Zusicherungen
gegen ein möglicherweise wiedererstarkendes Rußland. So wurde
die Idee der »NATO-Partnerschaft für den
Frieden« geboren, die diese
Beziehungen auf vielerlei Ebenen institutionalisierte und die Grundlagen
für die NATO-Ostexpansion legte. Wichtig war
dabei, bereits zu diesem Zeitpunkt
NATO- Potenz und »Sicherheit« nach Osten zu projizieren. Dies
half der neuen kapitalistischen Ordnung in den
osteuropäischen Ländern
innere Widerstände zu überwinden und sich voll und ganz der NATO
zuzuwenden.
In dieser Situation präsentierte
der Bürgerkrieg in Bosnien- Herzegowina ein besonderes Dilemma für
den Westen und seine Glaubwürdigkeit,
regionale Krisen meistern zu können.
Nachdem die EU, die WEU und die OSZE aufgrund unzureichender politischer
Abstimmung und
ungenügender institutioneller
Kompetenzen es nicht zustande brachten, mäßigend auf den Konflikt
in Bosnien einzuwirken, drängte sich die NATO
immer ungenierter der UNO als
militärisches Instrument für friedensstiftende und schließlich
friedenserzwingende Maßnahmen auf. Bis sie endlich ihr
UNO-Mandat bekam, auf das sie
nun im Kosovo bereits in eigenmächtiger Arroganz verzichtet.
So sollte die Vision des verstorbenen
NATO- Generalsekretärs Wörner, des skandalgeplagten ehemaligen
Verteidigungsministers der BRD, der
sich unermüdlich um den Fortbestand
der NATO verdient gemacht hatte, zur Arbeitsgrundlage werden. In einer
Rede 1991 beschrieb er die
zukünftige Rolle der NATO:
Sie müßte die einzige effektive sicherheitspolitische Organisation
im europäisch-atlantischen Rahmen werden, die auch
in den osteuropäischen Partnerländern
für Frieden, Demokratie und natürlich freie Märkte sorgte.
Als möglicher sicherheitspolitischer Konkurrent
wurde dafür erst einmal die
OSZE weggebissen. Durch Ignorieren schafften es die NATO-Länder die
OSZE fast zur politischen
Bedeutungslosigkeit zu degradieren,
obwohl gerade die OSZE die viel besseren Instrumente hat, um Krisen wie
nun im Kosovo mit friedlichen
Mitteln beizulegen, vorausgesetzt
die Mitgliedsstaaten zeigen einen dafür ausreichend starken politischen
Willen.
Nachdem die NATO ihr Bosnien-Mandat
bekommen hatte, mußte sie dort das erste Mal gegenüber ihrer
eigenen Öffentlichkeit aber besonders
mit Blick auf Osteuropa und darüber
hinaus ihre Glaubwürdigkeit als einzige effektive sicherheitspolitische
Organisation beweisen. Das vorläufige
Ergebnis dürfte die Strategen
in Brüssel kaum zufriedenstellen. Durch den sogenannten »Frieden
von Dayton« wurden zwar die Kampfhandlungen
eingestellt, aber nur indem die
ethnische Dreiteilung des Landes de facto zementiert wurde, obwohl das
wiederum im Widerspruch zu Dayton steht.
Außerdem wurden die NATO-Truppen
tief in den kostspieligen bosnischen »Sumpf« hineingezogen,
und es ist nicht absehbar, wann sie sich dem
wieder entziehen können.
Die meisten Probleme zwischen den sich feindlich gegenüber stehenden
Ethnien schwelen unter der Oberfläche weiter.
Bei den letzten Wahlen haben auf
allen Seiten extremistische Nationalisten gewonnen. Ein Abzug der SFOR-Truppen
- darüber ist man sich auch in
der NATO einig - würde ein
Wiederaufflammen der Kämpfe bedeuten. Anspruch der NATO und Wirklichkeit
klaffen weit auseinander. Darüber
kann eine auch noch so geschönte
Berichterstattung aus Bosnien nicht hinwegtäuschen. Größere
Opfer konnte die NATO in Bosnien bisher nur
deshalb vermeiden, weil sich die
SFOR-Truppen vor Ort im ethnischen Konflikt eher neutral verhalten haben,
weil sie, zweitens, keine
Polizeiaufgaben erfüllen
müssen und, drittens, weil sie erst intervenierten, nachdem alle Seiten
damit einverstanden waren. Alle drei Bedingungen
würden bei einer NATO-Intervention
im Kosovo nicht erfüllt, die ohne UN-Sicherheitsratsmandat außerdem
einen völkerrechtswidrigen
Angriffskrieg darstellen würde.
Darüber hinaus würden NATO-Truppen auf eine im Abwehrkampf gegen
fremde Okkupanten erfahrene Armee
und Bevölkerung treffen.
Ein NATO-Angriff auf Serbien würde
nicht nur die Terrortaktik der nationalistischen Extremisten der sogenannten
Kosovo-Befreiungsarmee
(UCK) belohnen, sondern auch Nachahmer
in anderen Teilen der Welt ermutigen. Ein NATO-Bombenangriff würde
nicht nur unter vielen Serben
unschuldige Opfer fordern, sondern
auch die für Sicherheit und Frieden in Europa wichtigen guten Beziehungen
zu Rußland vergiften. Und die
Gefahren einer Ausweitung des
Konfliktes sind unabsehbar.
Hier stellt sich notgedrungen die
Frage, warum die NATO im Kosovo solche Risiken auf sich nimmt. Die Sorge
um die Menschenrechte kann es
nicht sein, sonst hätte sie
wegen der Kurdenverfolgung längst ihr eigenes Mitglied, die Türkei
bombardiert. Der Grund für einen Angriff auf Serbien
muß also woanders liegen.
Wiederholt hörte man ihn in letzter Zeit aus Brüssel. So zitierte
Anfang Oktober die International Herald Tribune einen
hohen NATO-Beamten wie folgt:
»Die Glaubwürdigkeit der NATO steht auf dem Spiel. Wir dürfen
nicht zulassen, daß er (Milosevic) die Allianz
als unfähig hinstellt.«
Nicht humanitären Zielen soll
die Bombardierung Serbiens dienen, sondern für die Glaubwürdigkeit
der NATO und ihre strategischen Ziele sollen
Menschen sterben. Das humanitäre
Engagement der manipulierten Öffentlichkeit soll für machtpolitische
Ziele mißbraucht werden. In der Tat steht
für die NATO viel auf dem
Spiel. Schafft sie es nicht, dem schwachen Serbien ihren Willen aufzuzwingen,
läuft sie Gefahr, erneut in Frage gestellt zu
werden. Davon hängen aber
nicht nur die Ostexpansion der NATO und ihr »neues strategisches
Konzept« ab, das »Interessen« des Westens
überall auf der Welt »verteidigen«
soll, sondern - viel wichtiger - zentrale strategische Interessen in bezug
auf die Neuordnung der Machtverhältnisse
in Europa, wie eingangs gezeigt.
Bei einem hohen Einsatz kann man schon mal völkerrechtswidrig bombardieren.
Und auch der Gipfel des
Zynismus, daß womöglich
auch türkische Flugzeuge humanitäre Bomben diesmal nicht auf
Kurdendörfer, sondern auf serbische abwerfen werden,
spielt keine Rolle, wenn es darum
geht, die NATO vor einem »Gesichtsverlust« zu bewahren.
Aber Kriege haben schon immer eine
Eigendynamik entwickelt. Sie verlaufen selten wie geplant. Ob die Rechnung
der NATO aufgeht steht
deshalb auf einem anderen Blatt.
Nur müssen bis dahin viele Menschen sterben.