junge Welt         29.10.1998

       Existenzängste der NATO
       Warum interveniert der Nordatlantikpakt im Kosovo-Konflikt? Von Rainer Rupp

       (Rainer Rupp war 16 Jahre im NATO-Hauptquartier als Wirtschaftsexperte und Topspion der DDR tätig. Seit seiner Verurteilung 1994 verbüßt er
       eine 12jährige Freiheitsstrafe in der JVA Saarbrücken)

       Nach der Auflösung des Warschauer Vertrags und dem Zerfall der Sowjetunion war eine Neuauflage des Kalten Krieges unmöglich geworden.
       Auch aus dem verengten Wahrnehmungswinkel eingefleischter Kalter Krieger waren die Grenzen der Nordatlantischen Allianz nirgendwo mehr
       bedroht. Die NATO, das Hauptinstrument des Westens zur Führung des Kalten Krieges, hatte ihren Zweck erfüllt, das Ziel war erreicht. Somit
       stellte sich folgerichtig die Frage nach ihrer weiteren Existenzberechtigung. Diese Frage wurde nicht nur unter alten Gegnern im linken Spektrum der
       westeuropäischen Öffentlichkeit aufgeworfen. Lebhafte Diskussionen dazu fanden auch in den Sitzungsräumen und Korridoren des
       NATO-Hauptquartiers in Brüssel statt. An diesen war ich als Mitarbeiter der Politischen Abteilung der NATO von Anfang an beteiligt.

       Durch ihren Erfolg habe sich die NATO selbst arbeitslos gemacht, hieß damals der von Eigenlob triefende Slogan. Nur die Arbeitslosigkeit wollte
       niemand akzeptieren. Aus unterschiedlichsten Gründen waren die Regierungen aller Mitgliedsländer - egal welcher parteipolitischen Couleur - für
       den Erhalt der NATO, auch ohne äußere Bedrohung. Der Grund dafür lag im Inneren der NATO: Es ging um nicht mehr aber auch um nicht
       weniger als die Neuordnung der machtpolitischen Kräfteverhältnisse in Europa, in dessen Mitte nun wieder ein besonders großer und womöglich
       schwer verdaulicher Brocken lag, das neue, größere Deutschland. Wie würde es sich verhalten?

       Während des Kalten Krieges war die BRD ein wirtschaftlicher Riese, der jedoch durch vielfache Beschränkungen im Vergleich zu Frankreich und
       Großbritannien ein politisches Zwergendasein führte. Belastet vom schlimmen Erbe des Dritten Reichs, abhängig von amerikanischen und alliierten
       Garantien und gelähmt von den speziellen außenpolitischen Erfordernissen der deutschen Teilung konnte Bonn weder innerhalb noch außerhalb der
       NATO seine Machtansprüche voll entfalten. In der von nuklearer Rüstung bestimmten Welt des Kalten Krieges hatte der atomare Habenichts BRD
       relativ zu seiner Wirtschaftsmacht wenig zu sagen.

       Nun hatte sich schlagartig alles geändert. Mit dem Ende des Kalten Krieges hatten die Nuklearwaffen innerhalb der Allianz ihre Bedeutung als
       politische Manövriermasse stark eingebüßt. Insgesamt hatte sich die Wahrnehmung der Machtattribute geändert. Nicht mehr militärische, sondern
       wirtschaftliche Potenz wurden in der neuen Weltordnung das »A« und »O« sein. Und unter diesem Gesichtspunkt war allen Beteiligten klar, daß
       sich ein Erdrutsch zugunsten des neuen, größeren Deutschlands ereignet hatte, das nun mit Abstand die bedeutendste wirtschaftliche Macht Europas
       war. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis Deutschland, nun frei von den Zwängen der Vergangenheit, dies in größere politische Macht
       übersetzen würde, was notgedrungen auf Kosten der Einflußmöglichkeiten der anderen gehen mußte. Für viele eine traumatische Vorstellung, wenn
       dies außerhalb des bestehenden Rahmens der NATO geschehen würde. Nur notdürftig zugeschüttetes, dafür aber tiefsitzendes altes Mißtrauen
       gegenüber Deutschland trat erneut zutage. Das hatte sich bereits in den Widerständen gegen die deutsche Einheit in Paris und London geäußert.
       Und nach der Einheit war es deshalb auch nicht verwunderlich, daß z. B. in Holland selbst ehemals linke NATO-Gegner sich mit Blick auf
       Deutschland nachhaltig für den Erhalt der NATO einsetzten. Nicht die Abwehr einer möglichen Bedrohung von außen hatten sie im Sinn, sondern
       die Einbindung und die geregelte Machtentfaltung des größeren Deutschlands innerhalb der NATO.

       Nun war ja Deutschland auch noch in die europäischen Institutionen eingebunden. Aber nach Ansicht der kleineren europäischen Mitgliedsländer
       konnten diese die Vorteile der NATO nicht ersetzen. Nicht nur, weil Deutschland die stärkste Kraft in der EU war, sondern auch, weil sie innerhalb
       der EU ein Direktorium der Großen (BRD und Frankreich) befürchteten, dem die kleineren Länder nichts entgegenzusetzen gehabt hätten.
       Innerhalb der NATO stellten jedoch die USA ein Gegengewicht gegen mögliche Entwicklungen dieser Art dar, was den Spielraum der kleineren
       Länder erheblich vergrößerte.

       Auch für die USA war der Erhalt der NATO unabdingbar, garantierte sie doch eine institutionalisierte direkte Einflußnahme auf europäische
       Entwicklungen. Mit anderen Worten: In der EU saßen die USA nicht einmal am Tisch, während sie in der NATO den größten Stuhl hatten. Auch
       Großbritannien war bedingungslos für den Fortbestand der NATO. In den Institutionen der EU spielte es vor dem Hintergrund der Achse
       Paris-Bonn die zweite Geige. In der NATO dagegen konnte London durch den engen und immer wieder demonstrativ zur Schau gestellten
       Schulterschluß mit dem großen Bruder USA in dessen Fahrwasser so manche britische Interessen durchsetzen. Die britisch-amerikanischen
       »besonderen Beziehungen« (special relationship) sicherten London eine Einflußnahme auf die kontinental-europäische Politik, die ihm jedoch nur im
       Rahmen der NATO möglich war.

       Nur Fankreich wollte Bedeutung und Einfluß der US- geführten NATO zurückdrängen, zugunsten des Aufbaus der Westeuropäischen
       (Verteidigungs) Union (WEU), natürlich unter französischer Führung. Aber auch Paris wollte nicht die Auflösung der NATO, denn für seine
       hochgesteckten WEU- Ziele brauchte es in möglichen Krisen nach wie vor die materielle Unterstützung durch die USA im Rahmen der NATO.

       Bonn sah sich von Washington und Paris umworben und hin und her gezogen. Zu beiden Positionen vertrat es ein klares Jein. Einerseits lockte die
       Möglichkeit, gemeinsam mit Frankreich das neue deutsche Gewicht im Rahmen der WEU unverdünnt und voll zur Geltung zu bringen, andererseits
       erschienen die politischen und institutionellen Schwierigkeiten zur Durchsetzung einer »europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität« auf
       absehbare Zeit unüberwindlich. Außerdem hatten die Amerikaner Bonn ein Angebot gemacht, das so ganz nach dem Geschmack der deutschen
       Machtpolitiker war, die die alten Fesseln abschütteln wollten. Nach dem Fall der Mauer hatte Präsident George Bush in Berlin eine Rede gehalten,
       die versprach, das europäische Machtgefüge zugunsten Deutschlands zu revolutionieren: Eine strategische Partnerschaft zwischen den USA und der
       BRD, dem gewichtigsten Land Europas, hatte Bush vorgeschlagen, selbstredend innerhalb der NATO. Die Aussicht, die »special relationship«
       Washington- London zu ersetzen, ließ in Bonn die Sektkorken knallen, wenn auch manche sich über die negativen Auswirkungen einer solchen
       Entwicklung auf die deutsch-französischen Beziehungen sorgten. In Großbritannien löste die Bush-Rede dagegen Alarmstimmung aus. Und seither
       bemüht man sich dort erst recht, sich möglichst schnell und bedingungslos hinter die außenpolitischen Abenteuer Washingtons zu stellen, um so seine
       Zuverlässigkeit als europäischer Partner der USA unter Beweis zu stellen. Ein Beweis, den Bonn in Krisensituationen bisher noch nicht erbringen
       konnte. Im Kosovo und mit dem NATO-Angriff auf Jugoslawien sollte es nun zum ersten Mal anders sein. Nicht umsonst würden deutsche
       Tornados die Speerspitze des völkerrechtswidrigen Angriffs darstellen.

       Dies sind in groben Zügen die Hintergründe, warum die NATO nach dem Ende des Kalten Krieges nicht aufgelöst wurde. Auch die anderen, hier
       nicht erwähnten NATO- Mitgliedsländer hatten alle ihr eigenes machtpolitisches Interesse an deren Fortbestand. Der mußte jedoch vor der
       Öffentlichkeit gerechtfertigt werden, weshalb nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dringend neue Aufgaben für die NATO gefunden werden
       mußten.

       In der ersten Zeit war man ziemlich orientierungs- und konzeptionslos. Nebulös wurde von allgemeinen, nicht zu spezifizierenden »Risiken« geredet,
       gegen die die NATO »gewappnet sein müßte«. Unter der Hand wurde eine Wiedergeburt und einen Wiedererstarken der Sowjetunion gehandelt.
       Zugleich wurden am laufenden Band neue Ideen für zukünftige NATO-Aufgaben lanciert: Überwachung und Hilfestellung bei der nuklearen
       Abrüstung und Verschrottung in Rußland, Kontrolle des internationalen Waffenhandels, Unterbindung der Proliferation von ABC-Waffen und
       Trägersystemen, usw. usf. Sogar an der Bekämpfung des internationalen Terrorismus wollte man sich beteiligen. Es gab fast keinen Strohhalm, nach
       dem die NATO in dieser Zeit nicht griff, um ihre Existenzberechtigung vor der Öffentlichkeit nachzuweisen.

       Langsam schälten sich dann aber zwei neue, ineinandergreifende Aufgabenbereiche heraus, in die sich die NATO verbiß und die in den Metropolen
       die Unterstützung des Großkapitals erhielten, sollte doch damit der »neuen Weltordnung« der Weg geebnet werden.

       Nach der Auflösung des Warschauer Vertrages und der Sowjetunion liefen die Regierungsdelegationen der Vertragsländer und der GUS der
       NATO die Türen ein. Alle suchten sie gute Kontakte und Beziehungen zum Westen und insbesondere zur NATO, besonders aber finanzielle und
       materielle Hilfen und Zusicherungen gegen ein möglicherweise wiedererstarkendes Rußland. So wurde die Idee der »NATO-Partnerschaft für den
       Frieden« geboren, die diese Beziehungen auf vielerlei Ebenen institutionalisierte und die Grundlagen für die NATO-Ostexpansion legte. Wichtig war
       dabei, bereits zu diesem Zeitpunkt NATO- Potenz und »Sicherheit« nach Osten zu projizieren. Dies half der neuen kapitalistischen Ordnung in den
       osteuropäischen Ländern innere Widerstände zu überwinden und sich voll und ganz der NATO zuzuwenden.

       In dieser Situation präsentierte der Bürgerkrieg in Bosnien- Herzegowina ein besonderes Dilemma für den Westen und seine Glaubwürdigkeit,
       regionale Krisen meistern zu können. Nachdem die EU, die WEU und die OSZE aufgrund unzureichender politischer Abstimmung und
       ungenügender institutioneller Kompetenzen es nicht zustande brachten, mäßigend auf den Konflikt in Bosnien einzuwirken, drängte sich die NATO
       immer ungenierter der UNO als militärisches Instrument für friedensstiftende und schließlich friedenserzwingende Maßnahmen auf. Bis sie endlich ihr
       UNO-Mandat bekam, auf das sie nun im Kosovo bereits in eigenmächtiger Arroganz verzichtet.

       So sollte die Vision des verstorbenen NATO- Generalsekretärs Wörner, des skandalgeplagten ehemaligen Verteidigungsministers der BRD, der
       sich unermüdlich um den Fortbestand der NATO verdient gemacht hatte, zur Arbeitsgrundlage werden. In einer Rede 1991 beschrieb er die
       zukünftige Rolle der NATO: Sie müßte die einzige effektive sicherheitspolitische Organisation im europäisch-atlantischen Rahmen werden, die auch
       in den osteuropäischen Partnerländern für Frieden, Demokratie und natürlich freie Märkte sorgte. Als möglicher sicherheitspolitischer Konkurrent
       wurde dafür erst einmal die OSZE weggebissen. Durch Ignorieren schafften es die NATO-Länder die OSZE fast zur politischen
       Bedeutungslosigkeit zu degradieren, obwohl gerade die OSZE die viel besseren Instrumente hat, um Krisen wie nun im Kosovo mit friedlichen
       Mitteln beizulegen, vorausgesetzt die Mitgliedsstaaten zeigen einen dafür ausreichend starken politischen Willen.

       Nachdem die NATO ihr Bosnien-Mandat bekommen hatte, mußte sie dort das erste Mal gegenüber ihrer eigenen Öffentlichkeit aber besonders
       mit Blick auf Osteuropa und darüber hinaus ihre Glaubwürdigkeit als einzige effektive sicherheitspolitische Organisation beweisen. Das vorläufige
       Ergebnis dürfte die Strategen in Brüssel kaum zufriedenstellen. Durch den sogenannten »Frieden von Dayton« wurden zwar die Kampfhandlungen
       eingestellt, aber nur indem die ethnische Dreiteilung des Landes de facto zementiert wurde, obwohl das wiederum im Widerspruch zu Dayton steht.
       Außerdem wurden die NATO-Truppen tief in den kostspieligen bosnischen »Sumpf« hineingezogen, und es ist nicht absehbar, wann sie sich dem
       wieder entziehen können. Die meisten Probleme zwischen den sich feindlich gegenüber stehenden Ethnien schwelen unter der Oberfläche weiter.
       Bei den letzten Wahlen haben auf allen Seiten extremistische Nationalisten gewonnen. Ein Abzug der SFOR-Truppen - darüber ist man sich auch in
       der NATO einig - würde ein Wiederaufflammen der Kämpfe bedeuten. Anspruch der NATO und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Darüber
       kann eine auch noch so geschönte Berichterstattung aus Bosnien nicht hinwegtäuschen. Größere Opfer konnte die NATO in Bosnien bisher nur
       deshalb vermeiden, weil sich die SFOR-Truppen vor Ort im ethnischen Konflikt eher neutral verhalten haben, weil sie, zweitens, keine
       Polizeiaufgaben erfüllen müssen und, drittens, weil sie erst intervenierten, nachdem alle Seiten damit einverstanden waren. Alle drei Bedingungen
       würden bei einer NATO-Intervention im Kosovo nicht erfüllt, die ohne UN-Sicherheitsratsmandat außerdem einen völkerrechtswidrigen
       Angriffskrieg darstellen würde. Darüber hinaus würden NATO-Truppen auf eine im Abwehrkampf gegen fremde Okkupanten erfahrene Armee
       und Bevölkerung treffen.

       Ein NATO-Angriff auf Serbien würde nicht nur die Terrortaktik der nationalistischen Extremisten der sogenannten Kosovo-Befreiungsarmee
       (UCK) belohnen, sondern auch Nachahmer in anderen Teilen der Welt ermutigen. Ein NATO-Bombenangriff würde nicht nur unter vielen Serben
       unschuldige Opfer fordern, sondern auch die für Sicherheit und Frieden in Europa wichtigen guten Beziehungen zu Rußland vergiften. Und die
       Gefahren einer Ausweitung des Konfliktes sind unabsehbar.

       Hier stellt sich notgedrungen die Frage, warum die NATO im Kosovo solche Risiken auf sich nimmt. Die Sorge um die Menschenrechte kann es
       nicht sein, sonst hätte sie wegen der Kurdenverfolgung längst ihr eigenes Mitglied, die Türkei bombardiert. Der Grund für einen Angriff auf Serbien
       muß also woanders liegen. Wiederholt hörte man ihn in letzter Zeit aus Brüssel. So zitierte Anfang Oktober die International Herald Tribune einen
       hohen NATO-Beamten wie folgt: »Die Glaubwürdigkeit der NATO steht auf dem Spiel. Wir dürfen nicht zulassen, daß er (Milosevic) die Allianz
       als unfähig hinstellt.«

       Nicht humanitären Zielen soll die Bombardierung Serbiens dienen, sondern für die Glaubwürdigkeit der NATO und ihre strategischen Ziele sollen
       Menschen sterben. Das humanitäre Engagement der manipulierten Öffentlichkeit soll für machtpolitische Ziele mißbraucht werden. In der Tat steht
       für die NATO viel auf dem Spiel. Schafft sie es nicht, dem schwachen Serbien ihren Willen aufzuzwingen, läuft sie Gefahr, erneut in Frage gestellt zu
       werden. Davon hängen aber nicht nur die Ostexpansion der NATO und ihr »neues strategisches Konzept« ab, das »Interessen« des Westens
       überall auf der Welt »verteidigen« soll, sondern - viel wichtiger - zentrale strategische Interessen in bezug auf die Neuordnung der Machtverhältnisse
       in Europa, wie eingangs gezeigt. Bei einem hohen Einsatz kann man schon mal völkerrechtswidrig bombardieren. Und auch der Gipfel des
       Zynismus, daß womöglich auch türkische Flugzeuge humanitäre Bomben diesmal nicht auf Kurdendörfer, sondern auf serbische abwerfen werden,
       spielt keine Rolle, wenn es darum geht, die NATO vor einem »Gesichtsverlust« zu bewahren.

       Aber Kriege haben schon immer eine Eigendynamik entwickelt. Sie verlaufen selten wie geplant. Ob die Rechnung der NATO aufgeht steht
       deshalb auf einem anderen Blatt. Nur müssen bis dahin viele Menschen sterben.