Für Amerika gehört das Land am Bosporus zu Europa
Von FRIEDERICH MIELKE
Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU sind gestört.
Die Regierung von Ministerpräsident Mesut Yilmaz hat es den Europäern
verübelt, daß sie die Türkei Ende vergangenen Jahres beim
Luxemburger Gipfel nicht als EU-Beitrittskandidaten anerkannt haben. Seither
sind die diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und den Vereinigten
Staaten intensiviert worden. Washington tut alles, um die Türkei an
Europa zu binden, um so eigene nationale Interessen im Nahen Osten zu stärken.Die
amerikanisch-türkischen Bindungen haben Tradition. Die „Truman-Doktrin“
vom März 1947, massive Militär- und Wirtschaftshilfe nach dem
Zweiten Weltkrieg, der Beitritt der Türkei zur NATO (1952) und die
türkische Beteiligung am Koreakrieg legten die Grundlage zu einer
proamerikanischen Außenpolitik der Türkei. Schon 1952
nahm die Türkei diplomatische Beziehungen mit Israel auf und unterstützte
die Nahostpolitik der USA.
1979, nach der Revolution in Iran und dem sowjetischen Einmarsch in
Afghanistan, hatten die USA erneut ein großes Interesse an stabilen
sicherheitspolitischen Beziehungen mit der Türkei. Während des
Golfkrieges war die Türkei auf ihrer Seite. Im Juli 1991 reiste Präsident
George Bush nach Ankara - der erste Besuch eines amerikanischen Präsidenten
in der Türkei seit 32 Jahren: eine weitere Vertiefung der Beziehungen.
Washington sieht die Türkei als Gegengewicht zu Iran und Irak und
als Puffer und strategische Plattform für die US-Interessen in der
Region.
Bindung an den Westen
Die Aufnahme der Türkei in die EU, so die USA, wäre ein wichtiges
Instrument zur Verankerung der Türkei in den Westen. Strategische,
wirtschaftliche und energiepolitische Gemeinsamkeiten würden diesen
Schritt rechtfertigen. Die Türkei sei für die USA wichtig:
Die geostrategische Lage verankert
US-Sicherheitsinteressen mit anderen nationalen Interessen in Bosnien,
Rußland, im Kaukasus, in den neuen GUS-Staaten, in Zentralasien,
im Irak und Iran, im Nahen Osten, in der Ägäis und im östlichen
Mittelmeer. Für die USA sind der Kampf gegen Drogen und Terror, Weiterverbreitung
von Massenvernichtungswaffen und der Einsatz für Frieden im Nahen
Osten eng mit der Türkei verbunden.Washington sieht die Türkei
als ein großes muslimisches Land mit gesunder Marktwirtschaft. Die
Türkei hat eine Schlüsselstellung bei der Versorgung der Weltmärkte
mit den großen Energieressourcen des kaspischen Beckens und Zentralasiens.
Der EU-Beitritt wird von Washington als Garantie dafür gewertet, daß´
die Türkei im Westen verankert bleibt und den Versuchungen eines außenpolitischen
Abdriftens in Richtung des politischen Islamismus widersteht.
Deshalb hat Washington zur Frage des EU-Beitritts der Türkei Druck
auf die EU und die europäischen Regierungen ausgeübt. Das Land
wird seit 400 Jahren als Teil des „europäischen Systems“ gesehen.
Washington verweist darauf, daß die Türkei ihre demokratischen
Institutionen entwickeln und einen Ausgleich zwischen dem Laizismus und
den Kräften des politischen Islam finden muß.
Strategische Partnerschaft
Die USA sehen das Land als Festung inmitten einer konfliktträchtigen
Region. Die US-Außenministerin Madeleine Albright erinnert daran,
daß die Türkei der Dreh- und Angelpunkt und zugleich die Achillesferse
des westlichen Bündnisses ist. „Wir sind sehr daran interessiert“,
sagt ihr Stellvertreter Strobe Talbott, „daß sich die Türkei
in ein starkes, wohlhabendes, laizistisches und demokratisches Land entwickelt.“Seit
etwa zehn Jahren schwankt die Türkei zwischen einer West-Bindung (NATO
und EU-Integration) und einer Ost-Orientierung (Islam, Panturkismus). Die
innertürkischen Richtungskämpfe zwischen Kemalisten, Islamisten,
Neo-Osmanen und pantürkischen Islamisten beunruhigen die USA. Die
neue geopolitische Bedeutung der Türkei nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes
könnte die Träume der neo-osmanischen Islamisten nähren.
Für US-Botschafter Mark Parris ist die strategische Partnerschaft
zwischen der Türkei und den USA eng. Er unterstreicht das globale
wirtschaftliche Potential der Türkei. Dabei gehe es um Energie, Handel,
Sicherheit, regionale Kooperation und die griechisch-türkischen Beziehungen:
Die USA werden den Weg für eine trans-kaspische Gasleitung von Turkmenistan
und Kasachstan nach Baku freiräumen. US-Firmen stünden bereit,
um beim Bau neuer Elektrizitätswerke zu helfen.
Angesichts eines Wirtschaftswachstums von fünf Prozent und einem
Bruttosozialprodukt von 200 Milliarden Dollar sehen die USA die Türkei
als bedeutende wirschaftliche Macht in der Region.
Die Türkei hat eine eigene industrielle Verteidigungsfähigkeit
aufgebaut. Das Land ist nach Auffassung der Amerikaner auf dem Weg zu mehr
militärischer Selbständigkeit und Modernisierung. Dennoch sei
es im nationalen Interesse der Vereinigten Staaten, daß das türkische
Militär weiterhin amerikanische Waffen benutzt und auf amerikanischem
Gerät ausgebildet wird. Bei einem gemeinsamen US-türkischen Waffengang
seien somit beste Leistung und reibungslose Kooperation gewährleistet.
Es ist zu erwarten, daß die diplomatischen Aktivitäten zwischen
den USA und der Türkei zusätzlich ausgeweitet werden. Der EU-Betritt
ist dabei ein Hauptziel der amerikanischen Diplomatie, auch wenn sich Washington
gelegentlich dem Vorwurf aussetzen muß, sich in „imperialistischer“
Form in die inneren Belange der europäischen internationalen Organisation
einzumischen.
Atatürks Ideen und die erstarrten Erben
Vor 75 Jahren: Mustafa Kemal, „Vater der Türken“, ist am Ziel.
Er gründet die türkische Republik.
Von MARLIES FISCHER
Sein Bild hängt in jeder noch so kleinen Amtsstube der Türkei.
In der Präambel der Verfassung des Landes wird er als „unsterblicher
Führer und unvergleichlicher Held“ bezeichnet. Sein Konterfei
prangt auf der ersten Seite eines jeden Schulbuches oder schmückt
Zehntausende von Büsten und Denkmälern: Mustafa Kemal Atatürk
legte mit seinen Reformen das Fundament der Türkei, die als Republik
heute vor 75 Jahren gegründet wurde. Der erste Präsident des
neuen Staates ist bis heute Mythos und Teil der Gegenwart.Staatsmann und
General, Dandy, Frauenheld und Alkoholiker - Mustafa Kemal, der erst 1934
den Familiennamen Atatürk (Vater der Türken) bekommt, beherrscht
alle Rollen.
Als Sohn des kleinen Beamten Ali Reza kommt er im März 1881 in
Saloniki zur Welt. Die heute griechische Stadt gehörte damals noch
zum Osmanischen Reich. Nach dem Tod des Vaters finden Mustafa und seine
Schwester sowie Mutter Zübeyde Unterschlupf bei einem Onkel. Doch
dort fühlt er sich unerwünscht.
Als Mustafa mit zwölf Jahren auf die Kadettenschule kommt, ist
das für ihn wie eine Flucht. Bei den Soldaten findet er die lang ersehnte
Familie. Die geistigen Fähigkeiten des Jungen, etwa seine mathematische
Begabung, werden gefördert. Er bekommt den Beinamen „Kemal“ (Der Vollkommene).
Trotz großer Erfolge mit seiner Offiziersgruppe, den „Jungtürken“,
im Ersten Weltkrieg kann Mustafa Kemal den Zusammenbruch des Osmanischen
Reiches 1918 nicht verhindern. Der Friedensvertrag von Sevres von 1920
reduziert die Türkei auf ein Protektorat, auf den „kranken Mann am
Bosporus“. Im westlichen Kleinasien herrschen die Griechen, nur Anatolien
ist noch türkisches Staatsgebiet. Just von dort - genauer gesagt von
Ankara - geht Mustafa Kemals Widerstand aus. Für ihn ist die Republik
die einzig mögliche Staatsform einer modernen Türkei, die sich
vom Ballast des feudalistischen Systems und seinen Verflechtungen mit der
islamischen Geistlichkeit befreien soll.
Unter dem Motto „Entweder unabhängig oder tot“ beginnt Mustafa
Kemal den Befreiungskrieg. Armenien wird zerschlagen, der Sultan
aus Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, vertrieben, die Griechen müssen
sich aus Kleinasien zurückziehen. Mustafa Kemal bildet eine Gegenregierung
und schließt im Juli 1923 mit den Alliierten den neuen Friedensvertrag
von Lausanne, der die heutigen Grenzen der Türkei festlegt. Um den
Bruch mit osmanischen Traditionen deutlich zu machen, verlegt er Regierung
und Parlament aus Konstantinopel ins Provinznest Ankara. Am 29. Oktober
1923 wird dort die Republik ausgerufen. Kemal ist am Ziel:
Die Große Nationalversammlung wählt ihn zum Präsidenten.
Unbeirrt zwingt der Staatschef sein Land auf den westlichen Weg. Mit
der Abschaffung des Kalifats 1924 endet die Macht des islamischen Klerus,
die geistliche Gerichtsbarkeit wird beseitigt. Atatürk führt
die lateinische Schrift und die christliche Zeitrechnung ein, streicht
die islamische Rechtsordnung (Scharia) und übernimmt europäische
Gesetze. Er verkündet die Gleichberechtigung der Frau sowie ihr Recht
auf Bildung und Scheidung. Die traditionellen Kopfbedeckungen Fes, Turban
und Schleier werden abgeschafft, Hut und Kopftuch als Alternativen empfohlen.
„Ich werde mein Volk an der Hand führen, bis seine Schritte sicher
sind und bis es seinen Weg kennt“, verspricht Mustafa Kemal. Doch der Erfolg,
das zähe Ringen um die Erneuerung, fordert seinen Preis: Der Staatspräsident
trinkt, hat Affären. Seine im Januar 1924 geschlossene Ehe mit Latife,
einer Juristin aus wohlhabendem Hause, endet nur 19 Monate später.
Am 10. November 1938 stirbt Atatürk in Istanbul an Leberzirrhose.
Republikanismus, Nationalismus, Populismus, Etatismus, Laizismus und
Reformismus sind die sechs Prinzipien, die Atatürk zu den Grundpfeilern
seiner politischen Philosophie, des Kemalismus, erhob. Dabei hat er seine
Lehre nie als Ideologie begriffen, aber genau damit tut sich die heutige
Türkei schwer. Der Gründer der Republik ist ein unantastbares
Denkmal, die „offenbare Beleidigung und Beschimpfung von Atatürks
Andenken“ ist bei Androhung einer Haftstrafe bis zu fünf Jahren gesetzlich
verboten.
Von den Prinzipien geblieben sind der Nationalismus und der Laizismus,
die strenge Trennung von Staat und Religion. Diese beiden Säulen werden
von den selbsternannten Erben Atatürks und Hütern des Kemalismus,
den allmächtigen Generalen, um jeden Preis verteidigt. Die Autonomie
der Kurdengebiete ist für sie tabu und wird seit Jahren mit blutiger
Gewalt verhindert. Ebenso zwangen die Generale den ersten islamistischen
Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan nach knapp einjähriger
Regierungszeit im Sommer 1997 in die Knie und ließen nicht zu, daß
der Vorsitzende der Wohlfahrtspartei den Staat politisch eher im arabischen
Raum verankerte.
Einerseits ist die Türkei heute Mitglied in der NATO, das westlichste
Land Asiens und das demokratischste im islamischen Kulturkreis, wenn auch
die Behandlung der Kurdenfrage, die Beschneidung der Meinungsfreiheit und
andere Menschenrechtsverletzungen immer wieder zu Protesten führen
und Freunde der Türkei in Erklärungsnotstand geraten lassen.
Andererseits ist das Land unter dem alles einhüllenden Mantel
des Kemalismus zerrissen: hier die gen Europa orientierten Eliten, dort
die Landbevölkerung, die es vornehmlich aus Anatolien in die großen
Städte zieht, wo sie dann in Armenvierteln leben, sich von der Politik
im Stich gelassen fühlen und dankbar die Hilfsangebote der Islamisten
annehmen. An seinem Todestag vor 45 Jahren fand Mustafa Kemal Atatürk
seine letzte Ruhestätte im mächtigen Masoleum Anitkabir in Ankara.
Ist seine politische Idee, in diesem Nationalheiligtum in Stein gemeißelt,
zur Unbeweglichkeit erstarrt? Die Türkei hat Probleme, die Ideen
des Kemalismus weiterzuentwickeln und an die Gegenwart anzupassen. Der
Vater der Türken hat für sein Land und die Menschen auch hier
eine Antwort parat: „Bei der Beurteilung der Lage darf man nicht einen
Augenblick lang darauf verzichten, die Wahrheit zu sehen, auch wenn sie
bitter ist.“