Hamburger Abendblatt 29.10.98

Für Amerika gehört das Land am Bosporus zu Europa

Von FRIEDERICH MIELKE

Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU sind gestört. Die Regierung von Ministerpräsident Mesut Yilmaz hat es den Europäern verübelt, daß sie die Türkei Ende vergangenen Jahres beim Luxemburger Gipfel nicht als EU-Beitrittskandidaten anerkannt haben. Seither sind die diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und den Vereinigten Staaten intensiviert worden. Washington tut alles, um die Türkei an Europa zu binden, um so eigene nationale Interessen im Nahen Osten zu stärken.Die amerikanisch-türkischen Bindungen haben Tradition. Die „Truman-Doktrin“ vom März 1947, massive Militär- und Wirtschaftshilfe nach dem Zweiten Weltkrieg, der Beitritt der Türkei zur NATO (1952) und die türkische Beteiligung am Koreakrieg legten die Grundlage zu einer proamerikanischen Außenpolitik der Türkei.  Schon 1952 nahm die Türkei diplomatische Beziehungen mit Israel auf und unterstützte die Nahostpolitik der USA.
1979, nach der Revolution in Iran und dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, hatten die USA erneut ein großes Interesse an stabilen sicherheitspolitischen Beziehungen mit der Türkei. Während des Golfkrieges war die Türkei auf ihrer Seite. Im Juli 1991 reiste Präsident George Bush nach Ankara - der erste Besuch eines amerikanischen Präsidenten in der Türkei seit 32 Jahren: eine weitere Vertiefung der Beziehungen. Washington sieht die Türkei als Gegengewicht zu Iran und Irak und als Puffer und strategische Plattform für die US-Interessen in der Region.

Bindung an den Westen

Die Aufnahme der Türkei in die EU, so die USA, wäre ein wichtiges Instrument zur Verankerung der Türkei in den Westen. Strategische, wirtschaftliche und energiepolitische Gemeinsamkeiten würden diesen Schritt rechtfertigen. Die Türkei sei für die USA wichtig:
Die geostrategische Lage verankert
US-Sicherheitsinteressen mit anderen nationalen Interessen in Bosnien, Rußland, im Kaukasus, in den neuen GUS-Staaten, in Zentralasien, im Irak und Iran, im Nahen Osten, in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer. Für die USA sind der Kampf gegen Drogen und Terror, Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Einsatz für Frieden im Nahen Osten eng mit der Türkei verbunden.Washington sieht die Türkei als ein großes muslimisches Land mit gesunder Marktwirtschaft. Die Türkei hat eine Schlüsselstellung bei der Versorgung der Weltmärkte mit den großen Energieressourcen des kaspischen Beckens und Zentralasiens. Der EU-Beitritt wird von Washington als Garantie dafür gewertet, daß´ die Türkei im Westen verankert bleibt und den Versuchungen eines außenpolitischen Abdriftens in Richtung des politischen Islamismus widersteht.
Deshalb hat Washington zur Frage des EU-Beitritts der Türkei Druck auf die EU und die europäischen Regierungen ausgeübt. Das Land wird seit 400 Jahren als Teil des „europäischen Systems“ gesehen. Washington verweist darauf, daß die Türkei ihre demokratischen Institutionen entwickeln und einen Ausgleich zwischen dem Laizismus und den Kräften des politischen Islam finden muß.

Strategische Partnerschaft

Die USA sehen das Land als Festung inmitten einer konfliktträchtigen Region. Die US-Außenministerin Madeleine Albright erinnert daran, daß die Türkei der Dreh- und Angelpunkt und zugleich die Achillesferse des westlichen Bündnisses ist. „Wir sind sehr daran interessiert“, sagt ihr Stellvertreter Strobe Talbott, „daß sich die Türkei in ein starkes, wohlhabendes, laizistisches und demokratisches Land entwickelt.“Seit etwa zehn Jahren schwankt die Türkei zwischen einer West-Bindung (NATO und EU-Integration) und einer Ost-Orientierung (Islam, Panturkismus). Die innertürkischen Richtungskämpfe zwischen Kemalisten, Islamisten, Neo-Osmanen und pantürkischen Islamisten beunruhigen die USA. Die neue geopolitische Bedeutung der Türkei nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes könnte die Träume der neo-osmanischen Islamisten nähren.
Für US-Botschafter Mark Parris ist die strategische Partnerschaft zwischen der Türkei und den USA eng. Er unterstreicht das globale wirtschaftliche Potential der Türkei. Dabei gehe es um Energie, Handel, Sicherheit, regionale Kooperation und die griechisch-türkischen Beziehungen: Die USA werden den Weg für eine trans-kaspische Gasleitung von Turkmenistan und Kasachstan nach Baku freiräumen. US-Firmen stünden bereit, um beim Bau neuer Elektrizitätswerke zu helfen.
Angesichts eines Wirtschaftswachstums von fünf Prozent und einem Bruttosozialprodukt von 200 Milliarden Dollar sehen die USA die Türkei als bedeutende wirschaftliche Macht in der Region.
Die Türkei hat eine eigene industrielle Verteidigungsfähigkeit aufgebaut. Das Land ist nach Auffassung der Amerikaner auf dem Weg zu mehr militärischer Selbständigkeit und Modernisierung. Dennoch sei es im nationalen Interesse der Vereinigten Staaten, daß das türkische Militär weiterhin amerikanische Waffen benutzt und auf amerikanischem Gerät ausgebildet wird. Bei einem gemeinsamen US-türkischen Waffengang seien somit beste Leistung und reibungslose Kooperation gewährleistet.
Es ist zu erwarten, daß die diplomatischen Aktivitäten zwischen den USA und der Türkei zusätzlich ausgeweitet werden. Der EU-Betritt ist dabei ein Hauptziel der amerikanischen Diplomatie, auch wenn sich Washington gelegentlich dem Vorwurf aussetzen muß, sich in „imperialistischer“ Form in die inneren Belange der europäischen internationalen Organisation einzumischen.



 

Atatürks Ideen und die erstarrten Erben
Vor 75 Jahren: Mustafa Kemal, „Vater der Türken“, ist am Ziel. Er gründet die türkische Republik.

Von MARLIES FISCHER
Sein Bild hängt in jeder noch so kleinen Amtsstube der Türkei. In der Präambel der Verfassung des Landes wird er als „unsterblicher Führer und unvergleichlicher Held“ bezeichnet.  Sein Konterfei prangt auf der ersten Seite eines jeden Schulbuches oder schmückt Zehntausende von Büsten und Denkmälern: Mustafa Kemal Atatürk legte mit seinen Reformen das Fundament der Türkei, die als Republik heute vor 75 Jahren gegründet wurde. Der erste Präsident des neuen Staates ist bis heute Mythos und Teil der Gegenwart.Staatsmann und General, Dandy, Frauenheld und Alkoholiker - Mustafa Kemal, der erst 1934 den Familiennamen Atatürk (Vater der Türken) bekommt, beherrscht alle Rollen.
Als Sohn des kleinen Beamten Ali Reza kommt er im März 1881 in Saloniki zur Welt. Die heute griechische Stadt gehörte damals noch zum Osmanischen Reich. Nach dem Tod des Vaters finden Mustafa und seine Schwester sowie Mutter Zübeyde Unterschlupf bei einem Onkel. Doch dort fühlt er sich unerwünscht.
Als Mustafa mit zwölf Jahren auf die Kadettenschule kommt, ist das für ihn wie eine Flucht. Bei den Soldaten findet er die lang ersehnte Familie. Die geistigen Fähigkeiten des Jungen, etwa seine mathematische Begabung, werden gefördert. Er bekommt den Beinamen „Kemal“ (Der Vollkommene).
Trotz großer Erfolge mit seiner Offiziersgruppe, den „Jungtürken“, im Ersten Weltkrieg kann Mustafa Kemal den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches 1918 nicht verhindern. Der Friedensvertrag von Sevres von 1920 reduziert die Türkei auf ein Protektorat, auf den „kranken Mann am Bosporus“. Im westlichen Kleinasien herrschen die Griechen, nur Anatolien ist noch türkisches Staatsgebiet. Just von dort - genauer gesagt von Ankara - geht Mustafa Kemals Widerstand aus. Für ihn ist die Republik die einzig mögliche Staatsform einer modernen Türkei, die sich vom Ballast des feudalistischen Systems und seinen Verflechtungen mit der islamischen Geistlichkeit befreien soll.
Unter dem Motto „Entweder unabhängig oder tot“ beginnt Mustafa Kemal den Befreiungskrieg.  Armenien wird zerschlagen, der Sultan aus Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, vertrieben, die Griechen müssen sich aus Kleinasien zurückziehen. Mustafa Kemal bildet eine Gegenregierung und schließt im Juli 1923 mit den Alliierten den neuen Friedensvertrag von Lausanne, der die heutigen Grenzen der Türkei festlegt. Um den Bruch mit osmanischen Traditionen deutlich zu machen, verlegt er Regierung und Parlament aus Konstantinopel ins Provinznest Ankara. Am 29. Oktober 1923 wird dort die Republik ausgerufen. Kemal ist am Ziel:
Die Große Nationalversammlung wählt ihn zum Präsidenten.
Unbeirrt zwingt der Staatschef sein Land auf den westlichen Weg. Mit der Abschaffung des Kalifats 1924 endet die Macht des islamischen Klerus, die geistliche Gerichtsbarkeit wird beseitigt. Atatürk führt die lateinische Schrift und die christliche Zeitrechnung ein, streicht die islamische Rechtsordnung (Scharia) und übernimmt europäische Gesetze. Er verkündet die Gleichberechtigung der Frau sowie ihr Recht auf Bildung und Scheidung. Die traditionellen Kopfbedeckungen Fes, Turban und Schleier werden abgeschafft, Hut und Kopftuch als Alternativen empfohlen.
„Ich werde mein Volk an der Hand führen, bis seine Schritte sicher sind und bis es seinen Weg kennt“, verspricht Mustafa Kemal. Doch der Erfolg, das zähe Ringen um die Erneuerung, fordert seinen Preis: Der Staatspräsident trinkt, hat Affären. Seine im Januar 1924 geschlossene Ehe mit Latife, einer Juristin aus wohlhabendem Hause, endet nur 19 Monate später. Am 10. November 1938 stirbt Atatürk in Istanbul an Leberzirrhose.
Republikanismus, Nationalismus, Populismus, Etatismus, Laizismus und Reformismus sind die sechs Prinzipien, die Atatürk zu den Grundpfeilern seiner politischen Philosophie, des Kemalismus, erhob. Dabei hat er seine Lehre nie als Ideologie begriffen, aber genau damit tut sich die heutige Türkei schwer. Der Gründer der Republik ist ein unantastbares Denkmal, die „offenbare Beleidigung und Beschimpfung von Atatürks Andenken“ ist bei Androhung einer Haftstrafe bis zu fünf Jahren gesetzlich verboten.
Von den Prinzipien geblieben sind der Nationalismus und der Laizismus, die strenge Trennung von Staat und Religion. Diese beiden Säulen werden von den selbsternannten Erben Atatürks und Hütern des Kemalismus, den allmächtigen Generalen, um jeden Preis verteidigt. Die Autonomie der Kurdengebiete ist für sie tabu und wird seit Jahren mit blutiger Gewalt verhindert. Ebenso zwangen die Generale den ersten islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan nach knapp einjähriger Regierungszeit im Sommer 1997 in die Knie und ließen nicht zu, daß der Vorsitzende der Wohlfahrtspartei den Staat politisch eher im arabischen Raum verankerte.
Einerseits ist die Türkei heute Mitglied in der NATO, das westlichste Land Asiens und das demokratischste im islamischen Kulturkreis, wenn auch die Behandlung der Kurdenfrage, die Beschneidung der Meinungsfreiheit und andere Menschenrechtsverletzungen immer wieder zu Protesten führen und Freunde der Türkei in Erklärungsnotstand geraten lassen.
Andererseits ist das Land unter dem alles einhüllenden Mantel des Kemalismus zerrissen: hier die gen Europa orientierten Eliten, dort die Landbevölkerung, die es vornehmlich aus Anatolien in die großen Städte zieht, wo sie dann in Armenvierteln leben, sich von der Politik im Stich gelassen fühlen und dankbar die Hilfsangebote der Islamisten annehmen. An seinem Todestag vor 45 Jahren fand Mustafa Kemal Atatürk seine letzte Ruhestätte im mächtigen Masoleum Anitkabir in Ankara. Ist seine politische Idee, in diesem Nationalheiligtum in Stein gemeißelt, zur Unbeweglichkeit erstarrt?  Die Türkei hat Probleme, die Ideen des Kemalismus weiterzuentwickeln und an die Gegenwart anzupassen. Der Vater der Türken hat für sein Land und die Menschen auch hier eine Antwort parat: „Bei der Beurteilung der Lage darf man nicht einen Augenblick lang darauf verzichten, die Wahrheit zu sehen, auch wenn sie bitter ist.“