Überraschung für Freund und Feind
Die Türkei schickt 10 000 Soldaten an die Grenze zu Syrien
Zuerst werden die syrischen Radarstellungen ausgeschaltet, dann fliegen
türkische Kampfbomber Angriffe auf das Haus des kurdischen Separatistenchefs
Abdullah Öcalan in Damaskus und auf Trainingslager seiner „Arbeiterpartei
Kurdistans“ (PKK) in der libanesischen Bekaa-Ebene. Zum Abschluß
vernichten die Türken alle Kraftwerke der Syrer, bevor sie ihren Kurz-Krieg
beenden.
Detailliert und anschaulich illustriert stimmte die Istanbuler Massenzeitung
Sabah ihre Leser auf die jüngste Krise zwischen der Türkei und
Syrien ein. In den Zeitungen und im Fernsehen stehen die Zeichen auf Krieg.
„Man kann nicht alles am grünen Tisch regeln“, hieß es in Milliyet,
manchmal müsse man mit der Faust auf den Tisch schlagen. Der neue
Luftwaffenchef Orhan Kilic pflichtete bei: „Wenn es keine diplomatische
Lösung gibt, dann stehen wir bereit.“
Ankaras Wutausbruch gegenüber Syrien hat Freund und Feind gleichermaßen
überrascht. Niemand weiß, was die Türkei bewogen hat, das
Thema ausgerechnet jetzt auf die Tagesordnung zu setzen. Denn daß
Syrien den PKK-Chef und seine Organisation unterstützt, ist lange
bekannt. Unklar ist zudem, welche Forderungen die Türken konkret erheben.
Staatspräsident Süleyman Demirel forderte Syrien lediglich dazu
auf, die Unterstützung für die PKK einzustellen – wie schon dutzende
Male zuvor. Doch was genau Ankara erwartet, sagte er nicht.
Soll Öcalan ausgeliefert, getötet oder in ein syrisches Gefängnis
gesteckt werden? Sollen syrische Truppen PKK-Lager ausräuchern?
Sogar der neue Spezialfreund der Türken ging vorsichtig auf Distanz.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ließ mitteilen,
sein Land habe nichts mit dem türkischen Säbelrasseln zu tun.
Gleichzeitig schickte er ein deutliches Entspannungsignal nach Damaskus:
Die israelische Armee wird ihre Aktivitäten an der syrischen Grenze
deutlich einschränken. Für Israel und die USA kommt die Krise
in der Tat zum ungünstigsten Zeitpunkt: Denn gerade erst wurde mit
Mühe der Nahost- Friedensprozeß wieder angeschoben.
Manche politische Beobachter vermuten daher, daß der eigentliche
Adressat des türkischen Tobens nicht Damaskus ist, sondern Washington.
Demnach sollen die Amerikaner gewarnt werden, nichts zu tun, was türkischen
Interessen in der Region zuwiderläuft. Die Botschaft ist klar: Gegen
uns geht nichts, und wir können euch große Probleme machen.
Die Amerikaner hatten Ankara gegen sich aufgebracht, als sie die beiden
im Nord-Irak operierenden kurdischen Clan-Chefs Dschalal Talabani und Massoud
Barsani zur Unterzeichnung eines Abkommens bewegten – ohne die Türken
zu konsultieren oder zu den Gesprächen hinzuzuziehen. Die Türkei
befürchtet, daß Washington die Gründung eines unabhängigen
Kurdenstaates im Nord-Irak anstrebt. Ein solches Gemeinwesen könnte
sich zum Vorbild für die türkischen Kurden entwickeln.
Am meisten aber war das türkische Militär über jenen
Passus im Washingtoner Kurden-Abkommen erzürnt, in dem sich alle Seiten
verpflichten, Grenzverletzungen zu unterbinden. Dies wäre das Ende
der türkischen Militäroperationen im Nord-Irak. Doch Ankara zeigte
sehr schnell, daß es sich nicht beeindrucken ließ: Der Generalstab
entsandte 10 000 Soldaten – erst mal in den Nord-Irak, und nun vielleicht
auch nach Syrien.
Wolfgang Koydl