Gerhard Schröder und Joschka Fischer, der damit als Außenminister
inthronisiert ist, werden morgen in Washington nicht nur einen Antrittsbesuch
machen, um Bill Clinton von ihrer außenpolitischen Seriosität
zu überzeugen. Die frischgebackenen Chefpolitiker sind um das, worum
es in Washington vor allem gehen wird, nicht zu beneiden: um die Zustimmung
zu einem von der UNO nicht autorisierten Militärschlag der Nato gegen
ein serbisches Regime, das ein weiteres Mal eine „ethnische Säuberung“
betreibt.
Auch die jüngsten Berichte zeigen, daß das Milosevic-Regime
den weltweiten Appellen und dem Beschluß des Sicherheitsrates zum
Trotz die Zivilbevölkerung im Kosovo durch Militärs und Sondereinheiten
vertreiben und zum Teil massakrieren läßt. Inzwischen
sind nach Aussagen internationaler Organisationen etwa 200.000 Menschen
aus ihren Dörfern vertrieben worden. Die Vertreibungen und Massaker
an Zivilisten gingen auch dann weiter, als der vermeintliche Anlaß
- die Bekämpfung sogenannter UCK-Terroristen - längst nicht mehr
gegeben war.
Bis in die letzten Tage umzingelten serbische Truppen Dörfer,
belegten sie mit Granaten- und Artilleriefeuer, ehe Polizei, Militär
und Paramilitärs in die Dörfer eindrangen und diejenigen, die
nicht fliehen konnten, bedrohten, ermordeten und ihre Häuser plünderten,
bevor sie diese bis auf die Grundmauern niederbrannten. So werden im Namen
der „Terroristenbekämpfung“ Männer, Greise, Frauen und Kinder
einer Kollektivstrafe unterzogen sowie ihre Lebensgrundlage unwiderruflich
zerstört. Danach ist an eine Rückkehr kaum zu denken.
Die in die Wälder geflüchteten Menschen werden durch ein
enges Netz von Militär- und Polizeisperren gehindert, anderswohin
zu fliehen, um den kommenden Winter zu überleben. Sie sind damit von
der Außenwelt abgeschnitten und in den Wäldern ghettoisiert.
Diese Menschen sind ohne zureichende Nahrung und ärztliche Versorgung,
ohne Schutz vor Regen und Kälte. Kranke Kinder und schwangere Frauen
werden neben Älteren die ersten sein, die bei Einbruch der Kälte
zu Tausenden sterben werden, sofern sie die Wälder nicht verlassen
können. Sie sitzen in einer tödlichen Falle.
Angesichts der Gefahr anhaltenden Terrors scheitert jede humanitäre
Lösung, die nicht zugleich ein Mindestmaß international kontrollierter
Sicherheit für die Flüchtlinge bietet. Nach neuesten Informationen
demokratischer serbischer Oppositioneller wurden die Spezialeinheiten und
Zivilpolizisten, die die Politik der verbrannten Erde und die Massaker
ausüben, von Milosevic direkt eingesetzt. Zu ihnen gehören Einheiten,
die schon in Vukovar und dann in Bosnien schwerste Kriegsverbrechen begangen
haben. Aus diesem Grund treten sogar demokratische serbische Oppositionelle
hinter vorgehaltener Hand (!) für glaubwürdige militärische
Drohungen des Westens ein. Anders kann ein schleichender Völkermord
an den Kosovo-Albanern nicht mehr verhindert werden. Es gehört zur
politisch-moralischen Selbstverpflichtung des neugewählten Bundestages
und der aus ihm hervorgehenden künftigen Regierung, sich dem Wunsch
der US-Regierung nicht zu entziehen und eine militärisch gestützte
humanitäre Intervention im Kosovo mitzutragen.
Die Zustimmung, die Schröder und Fischer abverlangt wird, stellt
eine Zumutung in doppelter Hinsicht dar: Nicht nur würde eine Zustimmung,
so sie bekannt würde, die linken Flügel von SPD und Grünen
aufstören und damit Koalitionsverhandlung und Regierungsbildung beeinträchtigen.
Sie stellte zudem eine dramatische außenpolitische Kehrtwendung dar
- die deutliche Abkehr von einer internationalen Ordnung, die in der UNO
und ihren Konfliktregelungsmechanismen, die bisher von beinahe allen Regierungen
noch als das am wenigsten unvernünftige System angesehen wurde.
Die außenpolitischen Eliten der USA diskutieren diese Fragen
allerdings spätestens seit dem Golfkrieg anders. Die Überzeugung,
daß die Mechanismen der UNO der Durchsetzung von Menschenrechten
und Frieden, der Abwehr des Terrors tatsächlich dienen, wird dort
eher schwächer. Das wirkt wie ein menschenrechtlich verbrämter
Neoimperialismus. Aber die Wirklichkeit der Weltgesellschaft richtet sich
weder nach den Beschlüssen eines Sicherheitsrates, in dem noch immer
die größte Diktatur der Welt vertreten ist, noch nach dem Fahrplan
deutscher Koalitionsverhandlungen oder gar nach Parteitagsbeschlüssen.
Die Uhr läuft ab, die in die Wälder vertriebenen Albaner gehen
mit dem bevorstehenden Wintereinbruch dem Tode entgegen.
Genauso sicher ist freilich, daß weder China noch das vom Westen
und vom Weltwährungsfonds geknebelte und gedemütigte Rußland
einem Nato-Einsatz zustimmen werden. Daß Rußland in seiner
ausweglosen Situation bei einem westlichen Militärschlag ein Signal
nationalen Stolzes setzen und die Beziehungen zur Nato mit ungewissen Folgen
abbrechen würde, ist nicht unwahrscheinlich. Damit ist eine
Nato-Intervention mit Risiken belastet, die mittelfristig nicht hoch genug
eingeschätzt werden können.
Sollten diese „verantwortungsethischen“ Überlegungen dazu führen,
auf eine Intervention zu verzichten? Der Historiker Raul Hilberg hat in
seinen Forschungen zum Holocaust eine Dreiteilung der Beteiligten vorgenommen:
Täter, Opfer und Zuschauer. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte
wäre es zuwenig, lediglich von Tätern zu Zuschauern geworden
zu sein. Die Menschen im Kosovo, für die Deutschland nun einmal aus
geographischen und historischen Gründen mehr Verantwortung trägt
als für die Menschen in Ruanda, haben ein Recht auf Leben, und sie
haben es heute. Wenn dieses absolute Recht auf Leben durch einen, wenn
auch mit Risiken verbundenen, Bruch des internationalen Rechts garantiert
werden kann, wäre dieser Bruch - jedenfalls aus moralischen Gründen
- in Kauf zu nehmen. Das wäre - in der Tat - keine „Realpolitik“ mehr.
Aber womöglich sind die Menschenrechte genau jene Instanz, an der
jede Realpolitik ihre Grenzen findet. Heuchelei? Warum bombardiert
die Nato angesichts der Greuel gegen die Kurden nicht Ankara? Vielleicht
sollte sie es tun. Allerdings: Es gibt keinen Grund, warum man beim
Hinnehmen des Übels konsequent sein muß.
Micha Brumlik/Hajo Funke