Süddeutsche Zeitung, 08.10.98
Meinungsseite
Türkische Tobsucht ohne konkreten Anlaß

Die Hintergründe der Krise zwischen Syrien und der Türkei sind so undurchsichtig, daß man gut daran tut, einige Fakten festzuklopfen. Erstens: Die Türkei führt seit 14 Jahren einen Krieg gegen die „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK), der 30 000 Tote gefordert hat.  Zweitens: Die Türkei betrachtet die PKK als Terrororganisation. Drittens: Syriens Staatschef Assad, der auch anderen Terroristen Unterstützung gewährt hat, hält seine Hand über die PKK und deren Führer Abdullah Öcalan.
Rechnet man dazu, daß Damaskus territoriale Ansprüche gegenüber dem türkischen Nachbarn erhebt, so hat Ankara genügend Gründe, um den Syrern zu zürnen. Was allerdings fehlt, ist ein konkreter Anlaß, mit dem die Türkei ihren Tobsuchtsanfall begründen könnte. Alle Vorwürfe gegen Syrien sind seit Jahren bekannt, ohne daß die Türken bisher je mit einem Krieg gedroht hätten. Bis zum gestrigen Tag hatten Ankaras Diplomaten ja noch nicht einmal in den Vereinten Nationen Beschwerde gegen Syrien geführt.
Notwehr gegen den Terrorismus, wie sie die USA oder Israel in Anspruch nehmen, mag auch für die Türkei gerechtfertigt sein. Doch glaubwürdig ist das nur, wenn man einen Anschlag umgehend mit einem Gegenschlag vergilt – wie es zuletzt Washington mit seinen Raketenangriffen auf Afghanistan und Sudan demonstriert hat. Wer jedoch ohne konkreten Anlaß aus heiterem Himmel eine internationale Krise vom Zaun bricht wie jetzt Ankara, macht sich nicht nur unglaubwürdig. Er beweist zudem erschreckenden Mangel an politischer Reife und Verantwortungsbewußtsein. Beides sollte man jedoch erwarten können von einem Staat, der für sich eine Führungsrolle reklamiert. ky.
 
 
 

                           08.10.98
Politik

Sondersitzung zum Konflikt mit Syrien
Türkisches Parlament will Krieg zustimmen
Ägyptens vermittelnder Staatschef schlägt Direktgespräche Ankaras mit Damaskus vor

ky. Istanbul (Eigener Bericht) – Das türkische Parlament wird der Regierung in Ankara voraussichtlich sein Einverständnis für eine etwaige Militäraktion gegen Syrien geben. Die Volksversammlung war zu einer Sondersitzung einberufen worden, in deren Verlauf Ministerpräsident Mesut Yilmaz über die Krise unterrichtete. Nach Artikel 92 der türkischen Verfassung muß das Parlament der Regierung die Vollmacht für eine Kriegserklärung geben. In einer gemeinsamen Erklärung aller Parteien drohte das Parlament Syrien „Konsequenzen“ an.
Bei einem Treffen mit dem ägptischen Staatschef Hosni Mubarak am Dienstag hatte der türkische Staatschef Süleyman Demirel Mubarak eine Mappe mit den Forderungen Ankaras an die Führung in Damaskus gegeben. Laut Presseberichten verlangt die Türkei unter anderem die Auslieferung von Abdullah Öcalan, dem Chef der separatistischen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK), sowie die sofortige Schließung aller PKK-Lager in Syrien und in der syrisch-kontrollierten libanesischen Bekaa-Ebene. Yilmaz unterstrich, daß die Türkei erst dann zu einem Dialog bereit sei, sobald Syrien die Forderungen erfüllt habe.
Mubarak legte auf dem Rückweg nach Kairo einen Zwischenstop in der syrischen Hauptstadt Damaskus ein, um den Staatspräsidenten Hafis el-Assad über die Situation zu unterrichten. Nach Angaben des ägyptischen Fernsehens schlug Mubarak die Aufnahme direkter Gespräche zwischen der Türkei und Syrien vor. Als er von Demirel die Mappe mit den türkischen Forderungen erhielt, sagte er: „Sie geben mir jetzt eine Mappe, und auch die Syrer werden mir eine Mappe geben. Es wäre eigentlich richtig, wenn Sie beide direkt zusammenkommen
würden.“
Die USA zeigten sich unterdessen „ermutigt“ durch die Vermittlungsbemühungen Mubaraks. Der Sprecher des amerikanischen Außenministeriums, James Rubin, erklärte, es wäre ein „schwerer Fehler“, wenn die Spannungen in der Region außer Kontrolle gerieten. Auch der iranische Außenminister Kamal Charrasi hat seine Dienste in dem Konflikt angeboten. „Unsere Pflicht ist es, einen Zusammenstoß zwischen Syrien und der Türkei zu verhindern“, sagte er. „Wir glauben, daß beide zivilisierte Staaten sind, die ihre Probleme friedlich lösen können.“  Die Türkei gibt sich für den Fall eines Krieges mit dem Nachbarn siegesbewußt. Die Massenzeitung Hürriyet zitierte ungenannte Offiziere mit den Worten: „Wir können am Morgen einmarschieren und wären am Nachmittag in Damaskus. Wir würden sie zu Lande und aus der Luft plattmachen.“ Die türkischen Streitkräfte seien den Syrern in jeder Hinsicht überlegen. Auch Verteidigungsminister Ismet Sezgin meinte, daß ein Krieg nur einen Tag dauern würde.  Die Türkei wolle jedoch keinen Krieg und gebe der Diplomatie „eine letzte Chance“.
Gleichzeitig wurden Fragen über den Zeitpunkt der Krise gestellt. Der ehemalige Oberkommandierende der Marine, Admiral Güven Erkaya, sagte im Fernsehen: „Ich habe zwar keine Geheiminformationen mehr, aber wenn ich ehrlich sein soll, kann ich mir nicht vorstellen, was inzwischen passiert sein kann und weshalb man jetzt so heftig reagiert.“ Er könne auch nicht erkennen, was das Ziel einer Militäroperation sein könne, falls diese beschlossen worden sei.
Der ehemalige Außenminister Mümtaz Soysal vertrat unterdessen die Ansicht, daß der neue Generalstabschef Hüseyin Kivrikoglu für die härtere Gangart gegenüber Syrien verantwortlich sein könnte. Vielleicht wolle er das Problem anders lösen als sein Vorgänger.