Die Hintergründe der Krise zwischen Syrien und der Türkei
sind so undurchsichtig, daß man gut daran tut, einige Fakten festzuklopfen.
Erstens: Die Türkei führt seit 14 Jahren einen Krieg gegen die
„Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK), der 30 000 Tote gefordert hat.
Zweitens: Die Türkei betrachtet die PKK als Terrororganisation. Drittens:
Syriens Staatschef Assad, der auch anderen Terroristen Unterstützung
gewährt hat, hält seine Hand über die PKK und deren Führer
Abdullah Öcalan.
Rechnet man dazu, daß Damaskus territoriale Ansprüche gegenüber
dem türkischen Nachbarn erhebt, so hat Ankara genügend Gründe,
um den Syrern zu zürnen. Was allerdings fehlt, ist ein konkreter Anlaß,
mit dem die Türkei ihren Tobsuchtsanfall begründen könnte.
Alle Vorwürfe gegen Syrien sind seit Jahren bekannt, ohne daß
die Türken bisher je mit einem Krieg gedroht hätten. Bis zum
gestrigen Tag hatten Ankaras Diplomaten ja noch nicht einmal in den Vereinten
Nationen Beschwerde gegen Syrien geführt.
Notwehr gegen den Terrorismus, wie sie die USA oder Israel in Anspruch
nehmen, mag auch für die Türkei gerechtfertigt sein. Doch glaubwürdig
ist das nur, wenn man einen Anschlag umgehend mit einem Gegenschlag vergilt
– wie es zuletzt Washington mit seinen Raketenangriffen auf Afghanistan
und Sudan demonstriert hat. Wer jedoch ohne konkreten Anlaß aus heiterem
Himmel eine internationale Krise vom Zaun bricht wie jetzt Ankara, macht
sich nicht nur unglaubwürdig. Er beweist zudem erschreckenden Mangel
an politischer Reife und Verantwortungsbewußtsein. Beides sollte
man jedoch erwarten können von einem Staat, der für sich eine
Führungsrolle reklamiert. ky.
08.10.98
Politik
Sondersitzung zum Konflikt mit Syrien
Türkisches Parlament will Krieg zustimmen
Ägyptens vermittelnder Staatschef schlägt Direktgespräche
Ankaras mit Damaskus vor
ky. Istanbul (Eigener Bericht) – Das türkische Parlament wird der
Regierung in Ankara voraussichtlich sein Einverständnis für eine
etwaige Militäraktion gegen Syrien geben. Die Volksversammlung war
zu einer Sondersitzung einberufen worden, in deren Verlauf Ministerpräsident
Mesut Yilmaz über die Krise unterrichtete. Nach Artikel 92 der türkischen
Verfassung muß das Parlament der Regierung die Vollmacht für
eine Kriegserklärung geben. In einer gemeinsamen Erklärung aller
Parteien drohte das Parlament Syrien „Konsequenzen“ an.
Bei einem Treffen mit dem ägptischen Staatschef Hosni Mubarak
am Dienstag hatte der türkische Staatschef Süleyman Demirel Mubarak
eine Mappe mit den Forderungen Ankaras an die Führung in Damaskus
gegeben. Laut Presseberichten verlangt die Türkei unter anderem die
Auslieferung von Abdullah Öcalan, dem Chef der separatistischen „Arbeiterpartei
Kurdistans“ (PKK), sowie die sofortige Schließung aller PKK-Lager
in Syrien und in der syrisch-kontrollierten libanesischen Bekaa-Ebene.
Yilmaz unterstrich, daß die Türkei erst dann zu einem Dialog
bereit sei, sobald Syrien die Forderungen erfüllt habe.
Mubarak legte auf dem Rückweg nach Kairo einen Zwischenstop in
der syrischen Hauptstadt Damaskus ein, um den Staatspräsidenten Hafis
el-Assad über die Situation zu unterrichten. Nach Angaben des ägyptischen
Fernsehens schlug Mubarak die Aufnahme direkter Gespräche zwischen
der Türkei und Syrien vor. Als er von Demirel die Mappe mit den türkischen
Forderungen erhielt, sagte er: „Sie geben mir jetzt eine Mappe, und auch
die Syrer werden mir eine Mappe geben. Es wäre eigentlich richtig,
wenn Sie beide direkt zusammenkommen
würden.“
Die USA zeigten sich unterdessen „ermutigt“ durch die Vermittlungsbemühungen
Mubaraks. Der Sprecher des amerikanischen Außenministeriums, James
Rubin, erklärte, es wäre ein „schwerer Fehler“, wenn die Spannungen
in der Region außer Kontrolle gerieten. Auch der iranische Außenminister
Kamal Charrasi hat seine Dienste in dem Konflikt angeboten. „Unsere Pflicht
ist es, einen Zusammenstoß zwischen Syrien und der Türkei zu
verhindern“, sagte er. „Wir glauben, daß beide zivilisierte Staaten
sind, die ihre Probleme friedlich lösen können.“ Die Türkei
gibt sich für den Fall eines Krieges mit dem Nachbarn siegesbewußt.
Die Massenzeitung Hürriyet zitierte ungenannte Offiziere mit den Worten:
„Wir können am Morgen einmarschieren und wären am Nachmittag
in Damaskus. Wir würden sie zu Lande und aus der Luft plattmachen.“
Die türkischen Streitkräfte seien den Syrern in jeder Hinsicht
überlegen. Auch Verteidigungsminister Ismet Sezgin meinte, daß
ein Krieg nur einen Tag dauern würde. Die Türkei wolle
jedoch keinen Krieg und gebe der Diplomatie „eine letzte Chance“.
Gleichzeitig wurden Fragen über den Zeitpunkt der Krise gestellt.
Der ehemalige Oberkommandierende der Marine, Admiral Güven Erkaya,
sagte im Fernsehen: „Ich habe zwar keine Geheiminformationen mehr, aber
wenn ich ehrlich sein soll, kann ich mir nicht vorstellen, was inzwischen
passiert sein kann und weshalb man jetzt so heftig reagiert.“ Er könne
auch nicht erkennen, was das Ziel einer Militäroperation sein könne,
falls diese beschlossen worden sei.
Der ehemalige Außenminister Mümtaz Soysal vertrat unterdessen
die Ansicht, daß der neue Generalstabschef Hüseyin Kivrikoglu
für die härtere Gangart gegenüber Syrien verantwortlich
sein könnte. Vielleicht wolle er das Problem anders lösen als
sein Vorgänger.