Die Menschenrechte verpflichten jeden Demokraten
FR-Interview mit amnesty-Generalsekretär Volkmar Deile über die Erwartungen an die neue Bundesregierung
Ein unabhängiges Menschenrechtsinstitut, die Umwandlung des Unterausschusses
Menschenrechte in einen ordentlichen Bundestagsaussschuß, Verbesserungen
der Asylverfahren und eine Menschenrechtsklausel im Außenwirtschafts-
und Kriegswaffenkontrollgesetz nannte Volkmar Deile, Generalsekretär
der deutschen Sektion der Menschenrechtsorganisation amnesty international,
in einem Interview mit der FR als die wichtigsten Forderungen von ai an
die neue Bundesregierung. Mit Deile sprachen die FR-Redakteure Brigitte
Spitz und Detlef Franke.
Frankfurter Rundschau: Als Tony Blair in
Großbritannien an die Macht kam, hat er die Losung von der „ethischen
Diplomatie“ ausgegeben. Wünschen Sie sich auch ein so gutklingendes
Versprechen von der neuen Bonner Koalition?
Volkmar Deile: Losungen allein sind für uns kein Ziel. Deshalb
fordert amnesty international sichtbare Schritte, wie die Menschenrechte
ins Zentrum der Politik gerückt werden sollen. SPD und Bündnis
90/Die Grünen haben als Oppositionsparteien Menschenrechtsanliegen
oft unterstützt. Doch wie das bei ihnen als Regierungsparteien aussieht,
kann man heute natürlich noch nicht wissen. Die Grünen sind das
erste Mal in einer Bundesregierung: da gibt es keine Erfahrungswerte. Unsere
Herangehensweise ist es zu sagen: Wir haben große Erwartungen, bitte
enttäuscht sie nicht.
Haben Sie denn konkrete Forderungen an eine rot-grüne Bundesregierung?
Nicht nur amnesty international, auch andere Menschenrechtsorganisationen
in Deutschland wollen, daß erstens ein unabhängiges Menschenrechtsinstitut
geschaffen wird. Darüber hat es in der letzten Legislaturperiode Beratungen
gegeben, die bisherige Regierung hat das abgelehnt, die SPD und die Grünen
haben es befürwortet. Jetzt ist die Stunde, dieses Vorhaben zu verwirklichen.
Zweitens: Wir möchten die Aufwertung des Unterausschusses Menschenrechte,
der bisher ein Unterausschuß des Auswärtigen Ausschusses war.
Er soll ein ordentlicher Bundestagsausschuß werden, um der Tatsache
gerecht zu werden, daß Menschenrechte die Grundlage vieler Politikbereiche
sind.
Wir wollen eine Verbesserung der Asylverfahren. Frauen, die Opfer
geschlechtsspezifischer Verfolgung waren, müssen Schutz erhalten.
Es darf keine Abschiebung geben, wenn zu befürchten ist, daß
es zu Gefahren für Leib und Leben von Flüchtlingen kommen wird.
Die Genfer Flüchtlingskonvention darf nicht ausgehöhlt werden.
Wir erwarten, daß die Grundlage der Politik der Bundesregierung,
auch des Auswärtigen Amtes, gegenüber anderen Staaten die Achtung
der Menschenrechte ist, und die Bundesregierung das Leid vieler Menschen
nicht vergißt, wenn andere politische, wirtschaftliche, militärische
oder geopolitische Interessen wichtig sind.
Ferner fordern wir eine Menschenrechts- klausel im Außenwirtschafts-
und Kriegswaffenkontrollgesetz, damit keine Rüstungsexporte, keine
Ausstattungs- und Ausbildungshilfe an Militär und Polizei menschenrechtsverletzender
Staaten gehen. Ansonsten wird es unser Alltag werden, die Politiker, auch
einen Außenminister Joschka Fischer, davon zu überzeugen, daß
er sich bei den Begegnungen mit anderen Außenministern für ganz
konkrete Menschenrechtsbelange einsetzt.
Im Dezember jährt sich die Deklaration der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte zum fünfzigsten Mal. Hat sich die Situation der
Menschenrechte eher verbessert oder verschlechtert?
Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Die Erfolgsgeschichte der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte besteht darin, daß
aus einem moralischen Appell schrittweise einklagbares Völkerrecht
wurde. Wir haben heute über 60 Abkommen, die dem Schutz der Menschenrechte
dienen. Das ist sicher - auch wenn diese mit schwachen Überprüfungsmechanismen
ausgerüstet sind - ein riesiger Fortschritt. Die entstandene weltweite
Menschenrechtsbewegung wäre ohne die UN-Erklärung von 1948 ebenfalls
nicht denkbar. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist deshalb
besonders wichtig, weil sie die Hoffnungen aller Menschen artikuliert,
die sich aus Angst, Not, Unfreiheit und Gewalt befreien wollen.
Auf der anderen Seite haben wir keine objektive Verbesserung der Menschenrechtslage,
sondern ein Auf und Ab durch die Geschichte seit 1945 - ob man sich Pol
Pot in Kambodscha, Biafra in Afrika anschaut, oder den Völkermord
in Ruanda und die Menschenrechtsverletzungen beim Krieg im ehemaligen Jugoslawien.
Erfolge hat es bei den Kampagnen gegen die Todesstrafe gegeben. Sie
ist - erstmals in der Geschichte der Menschheit - von einer Mehrheit der
Staaten entweder per Gesetz abgeschafft oder wird seit über zehn Jahren
nicht mehr angewendet. amnesty international stellt außerdem fest,
daß es tendenziell weniger gewaltlose politische Gefangene gibt,
für deren Freilassung wir arbeiten. Aber es gibt eine Zunahme von
„Verschwindenlassen“ und politischem Mord.
Sie sprachen von einer weltweit wachsenden Menschenrechtsbewegung.
Wie sieht es denn mit der Unterstützung für amnesty aus? Was
ist mit den Geldproblemen, von denen jüngst berichtet wurde.
amnesty international hat heute weltweit 54 Sektionen, die Mehrheit
davon nicht in Europa oder Nordamerika, sondern in anderen Erdregionen.
Dieses Wachstum ist erfreulich, doch steht ihm eine finanziell schwierige
Situation gegenüber. Vor allem die Recherchen von Menschenrechtsverletzungen
verschlingen Millionen. Die deutsche Sektion zahlt zur Zeit etwa vier Millionen
Mark in das internationale ai-Budget, um diese sorgfältigen Ermittlungen
sicherzustellen. Insgesamt verfügten wir im vergangenen Jahr über
zwölf Millionen Mark Einnahmen, hatten aber Kosten von 13 Millionen.
Die Spendeneinnahmen sind zwar nicht gesunken, doch hatten wir bei Erbschaften
einen spürbaren Rückgang. Da wir von Regierungen Geld weder
beantragen noch akzeptieren, sind wir davon abhängig, daß mehr
Menschen bei uns mitarbeiten oder uns finanziell unterstützen. Viele
Menschen in Deutschland gehen offenbar davon aus, daß amnesty wegen
seines guten Rufes auch finanziell automatisch abgesichert ist. Weil
die Finanzen nicht so stabil sind, wie wir uns das wünschen, haben
wir unter anderem eine Aktion „5000 neue Förderer gesucht“ gestartet.
Seitdem haben sich schon mehr als 2000 Menschen entschlossen, ai regelmäßig
finanziell zu unterstützen. Dadurch konnten wir einigen Menschen zusätzlich
helfen. Unter anderem beteiligen wir uns an den Kosten für die Rehabilitation
des türkischen Menschenrechtlers Akin Birdal, der im Mai bei einem
Attentat schwer verletzt wurde.
Die Organisation „Brot für die Welt“ plant eine Kampagne, mit
der sie Ölkonzerne zur Einhaltung von Menschenrechten zwingen will.
Was halten Sie von einem Ethik-Siegel für Ölfirmen oder andere
weltweit agierende Konzerne? Plant ai, in diesem Bereich ebenfalls aktiv
zu werden?
Ja, das sind wir schon. Unsere Organisation hat ein Papier erarbeitet,
das sich „Human Rights Principles for Companys“ - also Menschenrechtskriterien
für Wirtschaftsunternehmen - nennt, in dem von der Gestaltung der
Arbeitsbeziehungen bis hin zur Frage, was Firmen zur Förderung und
Einhaltung der Menschenrechte praktisch tun können, eine Reihe von
Vorschlägen gemacht werden.
Wir haben in der Vergangenheit die Auseinandersetzung mit „Shell“ gehabt,
weil wir den Konzern dazu bewegen wollten, sich für die Freilassung
von 20 Ogoni in Nigeria einzusetzen, die gegen die Umweltzerstörung
durch die Erdölförderung in ihrem Land protestiert hatten, und
mit einem Todesurteil rechnen mußten, weil man ihnen - wie schon
zuvor dem Schriftsteller Ken Saro-Wiwa - einen Mord anhängen wollte.
Wir haben mehrfach mit Wirtschaftsunternehmen diskutiert und gefordert,
daß sie nicht mit „Sicherheits“-Kräften kooperieren, die an
Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Es ging auch darum, wie Firmen
in ihren Niederlassungen im Ausland Mitarbeiter behandeln, die zum Beispiel
wie in Iran gezwungen werden, Kleidervorschriften einzuhalten. Oder wie
in China, wo Mitarbeitern nicht zugestanden wird, eine unabhängige
Gewerkschaft zu gründen.
Einer Ihrer Arbeitsschwerpunkte in jüngster Zeit war der internationale
Strafgerichtshof. Denken Sie, daß der überhaupt vernünftig
wird arbeiten können, wenn die Amerikaner weiterhin dagegen sind?
Die Arbeit des internationalen Strafgerichtshofs hängt jetzt nicht
mehr von den USA ab. Natürlich können sie versuchen, das Gremium
zu verhindern, aber 120 Staaten haben dafür gestimmt, das im Juli
auf der Staatenkonferenz in Rom beschlossene Statut schnell zu ratifizieren
und das notwendige Geld zur Verfügung zu stellen, damit dieser Gerichtshof
arbeitsfähig wird. Wir betrachten es - auch im Rahmen unserer am Dienstag
gestarteten Kampagne gegen Menschenrechtsverletzungen in den USA - als
eine Aufgabe, Druck auf die USA zu organisieren, damit sie das Statut schnell
unterzeichnen und ratifizieren.
Einige Klauseln, zum Beispiel daß jeder Staat, der beitritt,
erst einmal sieben Jahre die Arbeit des Strafgerichtshofes für sich
aussetzen kann, beeinträchtigen eine schnelle Arbeitsfähigkeit.
Man sieht: Die Arbeit für einen besseren Menschenrechtsschutz braucht
manchmal viel Geduld und einen langen Atem.
Nach unserer Einschätzung ist mit dem Statut, obwohl es eine Fülle
von Lücken aufweist, ein Anfang gemacht worden. Es hilft, die Straflosigkeit
für schwere Menschenrechtsverletzungen zu überwinden. Für
Massenmörder und Völkermörder gab es bisher kein zuständiges
internationales Gericht. In Zukunft wird es, wenn ein Staat nicht willens
oder in der Lage ist, eine solche Person vor Gericht zu stellen, dieser
internationale Strafgerichtshof tun. Wir halten das für eine Revolution
im Völkerrecht.
Was würden Sie jemandem entgegnen, der sagt, in Zeiten der ökonomischen
Krise, in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, müssen bei den internationalen
Kontakten die Menschenrechte in den Hintergrund treten.
Da kann man nur antworten, die Menschenrechte sind kein Luxus. Jeder
ökonomische Fortschritt kann nur funktionieren, wenn die Menschenrechte
gesichert und integraler Bestandteil politischer Bemühungen sind.
Bundespräsident Roman Herzog hat einmal sinngemäß gesagt,
daß für Hungernde Menschenrechte wie die Meinungsfreiheit nicht
so wichtig seien, sie bräuchten erst einmal etwas zu essen. Das sehen
wir anders: Menschenrechte sind unteilbar, und das Folterverbot oder die
Meinungsfreiheit gelten für hungernde genauso wie für satte Menschen.
Menschenrechtler aus Indien haben uns wissen lassen, daß sie keine
Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation erreichen können, wenn
sie nicht die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit als Grundbedingung
haben. Und da kein Staat allein auf diesem Globus existiert, wird auch
unsere ökonomische Situation von einer Verbesserung insgesamt abhängen.
Das Gegenteil erleben wir gerade. Wie Wirtschaftskrisen in anderen
Ländern unsere Wirtschaft beeinflussen, zeigen die aktuellen Entwicklungen.
Wenn die deutsche und europäische Außen- und Wirtschaftspolitik
gegenüber autokratischen asiatischen Staaten die Menschenrechte wichtiger
genommen hätte, wäre es vielleicht nicht zu der Wirtschaftskrise
gekommen.
Sehen Sie jetzt viele Fürsprecher für Menschenrechte in der
künftigen Regierung?
Darauf gibt es nur eine Antwort: Gleichgültig, ob einer links,
rechts oder in der Mitte steht, die Menschenrechte stellen eine Verpflichtung
für jeden Demokraten dar.