Kultureller Artenschutz
Es gibt kaum ein europäisches Land, das auf seinem Territorium
nicht - historisch bedingt - autochthone Gruppen hätte, die eine andere
Sprache als die Mehrheitsbevölkerung sprechen. Die meisten dieser
Minderheiten finden wie die Ungarn Rumäniens ihr Sprachvolk als
Titularnation eines anderen Staates wieder. Das gilt für die Tessiner,
die in Italien ihre eigene Kultur majoritär vertreten sehen und die
sich dank dem reichen Medien- und Literatur-Angebot mit ihrer Muttersprache
keineswegs als Minorität fühlen müssen. Sprachgemeinschaften
ohne Rückhalt in einem Nationalstaat, wie die Basken, die Friesen
oder die Sorben, haben es schwerer. Ein Sonderfall sind die Rätoromanen,
die Träger einer Landessprache sind, wenngleich der kleinsten von
vier, deren Idiom aber in keinem Staat Mehrheitssprache ist. Auf kulturelle
Befruchtung von aussen können sie nicht zählen, kulturpolitisch
aber erfahren sie eine komfortable Förderung, und niemand, nicht einmal
der Zeitgeist, bedrängt sie.
Ob alteingesessen, ob aus einem Konfliktgebiet vertrieben oder freiwillig
gewandert - Menschengruppen anderer Zunge sind eine alltägliche Erscheinung
in Europas Nationen, die ja keine monokulturellen Einheiten sind. Der Europarat
befasste sich während Jahren mit der Frage, bevor er 1992 eine Charta
für Regional- und Minderheitensprachen verabschiedet hat. Mit dem
Ziel, Europas kulturelles Erbe zu erhalten, soll nicht nur Diskriminierung
verboten, sollen auch Fördermassnahmen gepflegt werden, indem Regionalsprachen
in Schule, Medien und Verwaltung zum Zug kommen.
Es geht dabei um Förderung von Minderheitssprachen, und nicht
von Sprachminderheiten, keine Sonderrechte sollen den Sprechern dieser
Sprachen gewährt werden. Die Sprachen-Charta geht ausdrücklich
auf Distanz zu nationalen Gruppen, die Separatismus oder
Grenzverschiebungen anstreben.
Die Charta bezieht sich nur auf europäische Sprachen und nicht
auf solche, die erst im Zuge der jüngsten Migrationen in Europa aufgetaucht
sind. Tatsächlich ist die Stellung der Tessiner in der Schweiz - wo
die Charta bereits in Kraft ist - noch kein Garant für eine erfolgreiche
Integration der Kurden oder Algerier. Sinti und Roma wiederum, in ganz
Europa vertreten und Inhaber der entsprechenden Staatsbürgerschaft,
können sehr wohl durch die Sprachen-Charta kulturelle Förderung
erwarten, so ihre Länder sie denn ratifizieren.
Deutschland hat dies unlängst getan, nicht zuletzt im Bewusstsein
um die historische Verantwortung, die es für die Vernichtung der Zigeuner
trägt. Begründet wird der Schutz kultureller Vielfalt auch damit,
dass er dem verbreiteten Eindruck entgegenwirke, durch die europäische
Einheit werde alles uniform.
He.