Neue Trennlinien im alten Bundestag
von Ada Brandes
BONN, 16. Oktober. Seit dem 27. September steht fest, welche Abgeordneten
die Wählerinnen und Wähler in den Deutschen Bundestag entsandt
haben. Vor drei Tagen ist die Zusammensetzung des neuen Parlaments amtlich
bestätigt worden. Aber nicht der neugewählte, sondern der alte
Bundestag stimmt an diesem Freitag dem Antrag auf Teilnahme der Bundeswehr
an Nato-Operationen im Kosovo-Konflikt zu - einem Antrag, den die abgewählte
Regierung gestellt hat.
Fast alles ist ungewöhnlich an dieser Sondersitzung des Bundestages.
Nicht im großen Plenarsaal, wo gerade die Bestuhlung entsprechend
den neuen Machtverhältnissen umgruppiert wird, tagt das Parlament,
sondern im engen ehemaligen Bonner Wasserwerk. Nicht zwischen Regierung
und Opposition verläuft eine Trennlinie, sondern quer durch die künftige
Koalition. Ungewöhnlich auch, daß der Noch-Oppositionsführer
Rudolf Scharping (SPD) seinem künftigen Vorgänger, dem amtierenden
Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU), dauernd kopfnickend Beifall
zollt, ungewöhnlich, daß Noch-Kanzler Kohl auf der Regierungsbank
die Ausführungen des SPD-Politikers Karsten Voigt beklatscht. Und
ganz besonders ungewöhnlich ist das beredte Lob für Außenminister
Klaus Kinkel (FDP) aus dem Munde des künftigen Vizekanzlers Joschka
Fischer, Sprecher der bündnisgrünen Fraktion - jenes Grünen,
den die alte Koalition noch vor wenigen Wochen als Super-Risiko für
die deutsche Außenpolitik verschrie.
Bonbons für den Kanzler
Ungewohnt ist auch das Bild, das die Regierungsbank bietet. Während
früher die Ministerinnen und Minister die Debatten zum Aufarbeiten
von Akten nutzten, sitzen an diesem Tag die nicht mehr regierenden Regierungsmitglieder
tatenlos herum und wissen nicht, wohin mit ihren Händen. Nur Finanzminister
Theo Waigel (CSU) und der verbissen dreinblickende Innenminister Manfred
Kanther (CDU) haben Wichtiges zu schreiben - oder geben sich jedenfalls
den Anschein. CSU-Gesundheitsminister Horst Seehofer („Ich geh jetzt
rein, ich will das noch mal genießen“) gibt nur ein kurzes Gastspiel
in der Kabinettsrunde, die junge Familienministerin Claudia Nolte (CDU)
wirkt grau und verhärmt - das personifizierte Unglück. Helmut
Kohl ist die meiste Zeit zum Buddha erstarrt, in Bewegung gerät er
erst, als ihn ein Bedürfnis überkommt: Von der Regierungsbank
wird Botschaft an die Fraktionsspitze gegeben, und wenige Minuten später
wird dem Kanzler der übliche diskrete Umschlag gereicht - schnell
steckt sich Kohl ein, zwei Bonbons in den Mund. Dann machen die Süßigkeiten
die Runde. Das Kabinett kaut.
Wolfgang Schäuble ist es, der die gewohnte Normalität wiederherstellt
und die allumfassende Einigkeit, die wie Weihrauch über dem Plenum
wabert, durchbricht. Wie Kinkel und Rühe, wie der künftige SPD-Kanzler
Gerhard Schröder, wie fast alle Redner an diesem Tag würdigt
auch er das, was hier unter dem Signum „Kontinuität“ gelaufen ist:
die Zusammenarbeit zwischen alter und künftiger Regierung, eine Zusammenarbeit
in der schwierigen Frage, ob sich deutsche Soldaten an einem Nato-Einsatz
„zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovokonflikt“ beteiligen
sollten. Aber Schäuble verzichtet keineswegs darauf, Schärfe
in die Debatte zubringen. Er zieht gegen den SPD-Verteidigungsexperten
Günter Verheugen vom Leder und stellt dar, daß die Zustimmung
durch den alten Bundestag keineswegs die Idee der alten Regierung war,
sondern ein „Wunsch der künftigen Mehrheit von SPD und Grünen“.
Und: „Im kommenden Deutschen Bundestag werden wir schon darauf achten,
daß die Regierung eine eigene Mehrheit auch in solchen Entscheidungen
hat - damit auch daran kein Zweifel besteht.“
Zwingende Logik
Daß der Bundestag mit großer Mehrheit dem Nato-Einsatz
zustimmen würde, mußte nie bezweifelt werden. Die Gegner des
Beschlusses finden deshalb auch wenig Aufmerksamkeit für ihre Ausführungen
- obwohl sowohl der FDP-Politiker Burkhard Hirsch wie auch Redner der PDS
logisch zwingend begründen, daß ein Militärschlag der Nato
ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates keine Völkerrechts-Grundlage habe.
Immerhin verweigern 63 Abgeordnete die Zustimmung, 18 enthalten sich der
Stimme. Viele von ihnen stoßen sich auch an der fehlenden Antwort
auf die Frage, für welchen Zeitraum das „Ja“ des Parlaments Geltung
habe und ob damit ein Präzedenzfall geschaffen werde.
Ungewöhnlich aufmerksam verfolgt wurde die Debatte auf der Pressetribüne
von einem Herrn im anthrazitgrauen Anzug. Jost Stollmann hatte sich zunächst,
des besseren Überblicks wegen, in der vorletzten Reihe aufgestellt.
Eine strenge Parlaments-Bedienstete hatte den ihr unbekannten künftigen
Wirtschaftsminister aber auf die vorderen Presseplätze verscheucht:
Die beiden letzten Reihen seien Abgeordneten vorbehalten.
DEBATTE
In der Aussprache vor der Abstimmung warben führende Vertreter
der alten wie der künftigen Regierung einhellig um Zustimmung zum
Antrag auf Beteiligung deutscher Soldaten am möglichen Nato-Einsatz
im Kosovo-Konflikt.
Außenminister Klaus Kinkel (FDP) betonte, daß der jugoslawische
Präsident Milosevic auf monatelange Bemühungen um eine friedliche
Lösung nicht reagiert habe. Als letztes Mittel sei nur die Drohung
mit einem militärischen Einsatz geblieben.
Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) räumte ein, daß
es der gefährlichste Einsatz in der Geschichte der Bundeswehr werden
könnte, falls die Nato doch noch losschlage. Die Soldaten bräuchten
„den vorbehaltlosen und sichtbaren Rückhalt“ des Parlaments.
Der designierte Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) sagte,
wer die vorliegende Rechtsgrundlage bezweifle und daher „nein“ sage, schaffe
selbst einen gefährlichen Präzedenzfall, wenn es um die Bewältigung
anderer Krisen gehe.
Der künftige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) dankte
dem scheidenden Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) für die Zusammenarbeit
in der Kosovo-Frage. Es sei wichtig gewesen zu zeigen, daß die demokratischen
Kräfte in Deutschland auch dann handlungsfähig seien, wenn man
mitten in einem Regierungswechsel stehe. Die Zustimmung zum Einsatz von
Bundeswehr-Soldaten falle ihm nicht leicht. Deutschland könne aber
seiner Verantwortung nicht ausweichen.
Der mögliche neue Außenminister Joschka Fischer warb zwar
auch um Zustimmung zum Einsatz, äußerte aber zugleich die Hoffnung,
daß nach dem Einlenken Milosevics eine Militäraktion nicht mehr
nötig sein werde. Ihm selbst falle die Zustimmung im Lichte
der neuen Entwicklung nicht mehr so schwer.
Die Gegner einer deutschen Beteiligung wie der Grüne Ludger Volmer
argumentierten vor allem mit der ihrer Meinung nach fehlenden rechtlichen
Grundlage.
Volmer sprach von einem Präzedenzfall, der einer künftigen
Selbstmandatierung anderer Staaten in Konfliktfällen „Tür und
Tor“ öffne. Es sei auch nicht zu begreifen, wie jemand einem Nato-Einsatz
zustimmen könne, der Jugoslawien nicht die Teilnahme an der Fußball-Weltmeisterschaft
verwehrt habe. Letzteres hätte Milosevic mehr Sympathien im Volk gekostet.
Gregor Gysi (PDS) warf der Bundesregierung und dem Westen vor, die
Eskalation des Konfliktes nicht vermieden zu haben. Für eine Stärkung
der Autonomie der Kosovo-Albaner, wie sie einst bestand, sei zu wenig getan
worden. Die Nato sei moralisch unglaubwürdig, weil sie ihr eigenes
Interesse in den Vordergrund stelle. Den Kurden im Nato-Land Türkei
sei man nicht mit einer militärischen Drohung beigestanden.
RECHTSLAGE
Die Debatte im Bundestag war begleitet vom Streit um zwei rechtliche
Fragen.
Erster Streitpunkt war die Frage, ob der scheidende 13. Bundestag berechtigt
sei, über den Bundeswehr-Einsatz zu befinden. Der amtierende Bundestagsvizepräsident
Burkhard Hirsch (FDP) verneinte dies. Das alte Parlament entspreche nicht
mehr dem Wählerwillen.
Dagegen vertrat Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU)
die Auffassung, das neue Parlament sei erst nach seiner Konstituierung
am 26. Oktober entscheidungsfähig. Die Parlamentarischen Geschäftsführer
der Fraktionen teilten diese Meinung.
Zweiter Streitpunkt war die Frage, ob die Nato mit einem möglichen
Militäreinsatz das sogenannte Gewaltmonopol der Uno ignorieren und
das Völkerrecht brechen würde. Wenn dies so wäre, dürfte
der Bundestag nicht zustimmen.
Die UN-Charta verbietet prinzipiell militärische Gewalt zwischen
Staaten. Von diesem Prinzip gibt es zwei Ausnahmen:
Der Sicherheitsrat hat das Recht, Zwangsmaßnahmen anzuordnen.
Ein solches UN-Mandat gibt es im Fall Kosovo nicht.
Ein Staat hat das Recht auf Selbstverteidigung. Der Kosovo ist aber
kein Staat, sondern Teil Jugoslawiens.
Die Nato reklamiert nun das Recht zu einem Einsatz aus humanitären
Gründen. Die Drohung (oder der Vollzug) eines Bombardements militärischer
Ziele diene den Menschen im Kosovo. Diese Rechtsgrundlage ist umstritten.