Messen mit zwei Ellen
Erfolgreich wären die angedrohten Luftangriffe gegen die Serben
nur, wenn sie nie stattfinden würden
Von Pierre Simonitsch
Nach Ansicht der Völkerrechtler darf die Nato nicht ohne ausdrückliches
UN-Mandat militärisch im Kosovo-Konflikt eingreifen. Fast einstimmig
warnen die Gelehrten vor einem gefährlichen Präzedenzfall: Schon
die Androhung von Gewalt verstoße gegen den Geist und die Buchstaben
der Charta der Vereinten Nationen. Wenn heute die Nato unter Führung
der USA das Recht breche, können morgen andere Mächte folgen.
Das nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete Gerüst einer internationalen
Ordnung drohe einzustürzen.
Im Prinzip haben alle Nationen die gleichen Rechte und den gleichen
Anspruch auf Sicherheit. Als Nationen definieren die UN nicht Volksgruppen,
sondern anerkannte Staaten. Darin liegt eine der Schwächen der Weltorganisation.
Als die Gründer der UN deren Charta zu Papier brachten, dachten sie
nur an die Verhütung von Kriegen zwischen Staaten. Daß ein halbes
Jahrhundert später praktisch alle bewaffneten Konflikte innerhalb
der Staatsgrenzen stattfinden würden, war damals nicht voraussehbar.
Unter welchen Umständen Streitkräfte zur Wiederherstellung
des Friedens und der internationalen Sicherheit eingesetzt werden dürfen,
ist in der UN-Charta eindeutig umschrieben. Nur der Sicherheitsrat kann
eine Militäraktion anordnen oder genehmigen. Die einzige Ausnahme
ist die legitime Selbstverteidigung. Wenn ein Staat Opfer einer Aggression
wird, darf er sich umgehend zur Wehr setzen, bis der Sicherheitsrat aktiv
wird.
Allerdings gab es seit 1945 eine ganze Reihe von Militärinterventionen,
die nicht vom Sicherheitsrat angeordnet oder genehmigt wurden. In allen
Fällen versuchten aber die Interventionsmächte, zumindest den
Schein der Legalität zu wahren.
Das Eingreifen der USA im Koreakrieg unter der Flagge der UN wurde
1950 vom Sicherheitsrat in Abwesenheit des sowjetischen Vertreters beschlossen.
Den Sitz Chinas hatte damals noch Taiwan inne. Nach Südvietnam zogen
die ersten US-Truppen Ende der fünfziger Jahre auf Einladung der prowestlichen
Marionettenregierung. Als sowjetische Panzer 1968 den „Prager Frühling“
niederwalzten, berief sich Kreml-Chef Leonid Breschnew auf ein angebliches
Hilfeersuchen tschechoslowakischer Patrioten. Später verkündete
Breschnew die Doktrin der „begrenzten Souveränität“ der anderen
Mitglieder des Warschauer Pakts.
Die in der UN-Charta verbriefte Souveränität der Staaten
wurde 1975 in ganz anderer Weise relativiert. Ein Schlüsselsatz in
der KSZE-Schlußakte von Helsinki lautet: „Die Teilnehmerstaaten anerkennen
die universelle Bedeutung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren
Achtung ein wesentlicher Faktor für den Frieden ist.“ Damit akzeptierten
die 35 Konferenzteilnehmer die Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten
im Falle der Mißachtung der Menschenrechte. Zugleich enthält
die KSZE-Schlußakte aber ein striktes Verbot der „Androhung oder
Anwendung von Gewalt als Mittel zur Regelung von Streitfällen“.
Auf dem Höhepunkt der Kriege im ehemaligen Jugoslawien führte
der Westen ein neues Element in die internationalen Beziehungen ein: die
„humanitäre Intervention“. Damit gemeint sind bewaffnete Eingriffe
in einem anderen Staat, um dort gefährdete Menschen zu retten. Diese
umstrittene Rechtsauslegung ebnete den Weg für die Luftangriffe der
Nato in Bosnien und die spätere Stationierung einer internationalen
Schutztruppe.
Selbst das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat sich gegen ein
„humanitäres Interventionsrecht“ ausgesprochen, das manche schon zur
„Interventionspflicht“ ausweiten wollen. Solche Rechte und Pflichten mögen
gut gemeint sein, doch sie öffnen der Willkür die Tür, besonders
wenn im Entscheidungsprozeß der Weltsicherheitsrat umgangen wird.
Schon jetzt wird mit zweierlei Elle gemessen. Als die Russen in Tschetschenien
Krieg führten, stand keine „humanitäre Intervention“ der Nato
zur Debatte. Das Nato-Mitglied Türkei unterdrückt die Kurden,
zerstört deren Dörfer, bekämpft kurdische Rebellen sogar
auf irakischem Gebiet und droht jetzt Syrien mit Krieg. Doch die schützende
Hand ihrer Verbündeten bewahrt die Türkei davor, daß die
Kurdenfrage aufs Tapet kommt.
Den vorbereiteten Militärschlägen gegen die Serben fehlen
drei Dinge: die Rechtsgrundlage, die glaubhafte lautere Absicht und das
politische Konzept. Ein jahrhundertealter ethnischer Konflikt läßt
sich nicht mit Bomben beenden. Wenn die maßgeblichen Mächte
den Kosovo-Albanern weiterhin die Gründung eines eigenen Staates verweigern,
wird deren Ruf nach Nato-Truppen rasch in Verbitterung und Feindschaft
umschlagen. Erfolgreich wären die angedrohten Luftangriffe nur,
wenn sie nie stattfinden würden: Wenn nämlich die beiden Konfliktparteien
zuvor einem Kompromiß zustimmen würden. Auf dem Balkan wäre
das allerdings etwas Neues.