Marschbefehl auf Vorrat
Zum Ja von SPD und Bündnisgrünen
zu Luftangriffen auf Jugoslawien
- Von Winfried Wolf (*) -
Die Entscheidung des Bundestags
vom 16. Oktober 1998, gegebenenfalls mit Beteiligung der Bundeswehr NATO-
»Luftoperationen« gegen die
Bundesrepublik Jugoslawien durchzuführen,
stellt einen tiefen Einschnitt in der deutschen Geschichte dar. Mit ihm
werden Kontinuität und Bruch
zum Ausdruck gebracht - Kontinuität
mit einer fortgesetzten Militarisierung der deutschen Politik; Bruch mit
den politischen Traditionen, die mit
Bündnis 90/Die Grünen
und mit der Sozialdemokratie verbunden wurden.
Das Besondere ist zunächst
die breite Mehrheit, mit welcher die genannte Entscheidung getroffen wurde:
Von 580 anwesenden
Bundestagsabgeordneten des alten
Parlaments stimmten 500 für den Antrag der - alten - Bundesregierung.
Gemessen an den anwesenden
Parlamentariern stimmten demnach
86 Prozent für den Aggressionsakt. Gemessen an der vollen Zahl der
Abgeordneten brachten es die Bellizisten
auf eine Dreiviertelmehrheit,
wobei davon auszugehen ist, daß viele der Abwesenden auch für
den Antrag gestimmt und diese Mehrheit damit
nochmals höher gewesen wäre.
Die Nein-Stimmen sind ausgesprochen dünn gesät: alle 29 anwesenden
PDS-MdBs, 21 SPD-Parlamentarier und
nur neun Mitglieder der Fraktion
von Bündnis 90/Die Grünen votierten gegen die geplanten Luftangriffe.
Diese Mehrheiten kamen zustande,
obgleich der Beschluß zum möglichen ersten, großangelegten
Kampfeinsatz der Bundeswehr »out of area« in
der Bevölkerung höchst
umstritten sein dürfte, obgleich dieser in eklatantem Widerspruch
zu dem beschlossenen Programm der Grünen und zu
diversen Parteitagsbeschlüssen
der SPD steht. Trotz alldem gab es für diese Entscheidung eine Mehrheit,
die sogar für eine Verfassungsänderung
ausgereicht hätte.
Apropos Verfassung: Im Grundgesetz
steht (noch), die Bundeswehr dürfe »nur zu Verteidigungezwecken«
eingesetzt werden, Dort steht auch, daß
Angriffskriege verfassungwidrig
sind. Der Bundestagsbeschluß vom 16. Oktober liest sich wie Hohn
auf diese Verfassungs-Artikel.
Kein Militär vorgesehen
Die Entscheidung vom 16. Oktober
1998 stellt einen vorläufigen Höhepunkt in einer Entwicklung
dar, bei der Westdeutschland und das »neue
Deutschland« von 1990 ff.
zunehmend in die Uniform des alten militaristischen Deutschlands, das in
den vergangenen 125 Jahren allein in Europa
drei Aggressionskriege führte
und dabei zwei Weltkriege auslöste, »hineinwächst«.
Wie ein brauner Faden zieht sich
durch die Nachkriegsgeschichte diese Militarisierung der westdeutschen
und seit 1990 gesamtdeutschen
Außenpolitik. Der parallel
eingewirkte rote Faden in dieser Geschichte ist der des Widerstands gegen
diese Militarisierung.
Im Grundgesetz war kein Militär
vorgesehen; durch eine Verfassungsänderung wurde dessen Einführung
in den fünfziger Jahren beschlossen. Gegen
diese erste Militarisierung gab
es breite Bewegungen: die »ohne mich« und »Helm ab«-Kampagne
gegen die »Wiederbewaffnung« und die
»Atomtod-Bewegung«
gegen eine deutsche Option auf Atomwaffen.
In den sechziger Jahren wurden
die Bundeswehr in die NATO integriert und der US-amerikanische Krieg in
Indochina unterstützt - auch von der
SPD, u. a. im Rahmen der großen
Koalition 1966 - 1969. Parallel entwickelte sich die bis heute existente
Ostermarsch-Bewegung und die
Kampagne gegen den Vietnamkrieg;
letztere ist untrennbar verbunden mit dem großen Aufbruch von 1968.
Ende der siebziger und in den achtziger
Jahren kam es - unter den Kanzlern Helmut Schmidt und Helmut Kohl - zur
Militärpolitik der
»Nachrüstung«
und dem »star wars«- Programm, eine Hochrüstungspolitik,
die die Welt an den Rand einer atomaren Katastrophe brachte.
Dagegen entwickelte sich die bisher
breiteste Bewegung im Nachkiegsdeutschland: die Friedensbewegung. Letztere
wiederum ist eng mit der
Grünen-Partei verbunden.
Nach dem Zusammenbruch der DDR
wurde im neuen, größeren Deutschland forciert an der Militarisierungs-Spirale
gedreht. Die
»Verteidigungspolitischen
Richtlinien« propagierten bereits 1992 die Notwendigkeit von Bundeswehr-Einsätzen
weltweit - zur Sicherung der
Rohstoffzufuhr. Zum selben Zeitpunkt
wurde das 200- Milliarden-Mark-Programm in Gang gesetzt, mit dem die deutsche
Armee
angriffskriegs-fähig gemacht
werden soll: Großraum-Militärtransporter, NH 90-Kampfhubschrauber,
Eurofighter, Krisenreaktionskräfte. Ab diesem
Zeitpunkt begann auch die Springprozession
der Bundeswehreinsätze »out of area«: von Kambodscha über
Somalia nach Bosnien.
Doch anders als in den Jahrzehnten
zuvor gibt es in den neunziger Jahren keine neue Bewegung gegen die beschleunigte
Militarisierung des Landes -
weder im Westen, obgleich hier
die alte Losung »nach Rüstung kommt Krieg« zunehmend bestätigt
wird, noch im Osten, wo die Losung
»Schwerter zu Pflugscharen«
heute anachronistisch erscheint.
Lackmus-Test Krieg
Die Formulierung, wonach der Krieg
die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, spricht den engen
Zusammenhang von Konkurrenz und
Krieg an; imperialistische Kriege
sind dem Kapitalismus nicht nur inhärent; sie stellen die Zuspitzung
des Grundwiderspruchs zwischen Kapital und
Arbeit und des Konkurrenzverhältnisses
dar: Krieg nach innen, Faschismus, und Krieg nach außen, also imperialistische
Aggression.
Die hohen Weihen, die der Krieg
in der bürgerlichen Gesellschaft erfährt, erklären auch,
weshalb die herrschenden »Linkskräfte«, die sich nach
rechts bewegen, sich immer dem
Lackmustest »Wie hältst du's mit dem imperialistischen Krieg?«
unterziehen. Das war 1914 beim Ja der SPD zu
den Kriegskrediten, als der Kaiser
»keine Parteien mehr« kannte, so. Das wußte der Ex-Kommunist
Wehner, als er 1959 mit dem Godesberger
Programm das Ja der SPD zu Wiederbewaffnung
und NATO festschrieb. Das war 1966 der Fall, als die SPD beim Eintritt
in den Kabinettssaal
der großen Koalition das
Ja zu den Notstandsgesetzen mit der Möglichkeit des Einsatzes der
Bundeswehr gegen Streikende abzugeben hatte.
Und das war im Wahljahr 1998 so.
Da gab es zunächst die völkerrechtswidrigen US-Militärschläge
in Afghanistan und im Sudan. Obgleich nicht
direkt gefragt, schlug der Gefreite
Fischer, Joseph, die Hacken zusammen und brüllte »Jawoll.«
Nach der Wahl traten die noch nicht Regierenden
Gerhard Schröder, Joseph
Fischer und Ludger Volmer bei der westlichen Weltmacht Nr. 1 zum Appell
an und erhielten ihr »briefing« für die sich
abzeichnenden NATO-Militärschläge
auf Serbien. Der US-Präsident habe dargelegt, daß die NATO die
Durchsetzung der UN-Resolution
militärisch erzwingen könne,
so Schröder vor laufenden Kameras. Und dann wörtlich: »Und
dann ist das so.« Als darauf die Reporter Clinton
fragten, ob die Grünen nicht
»ein Problem« seien, antwortete der US-Präsident mit schallendem
Chauvi- Gelächter, er habe »genug andere
Probleme in Amerika«. Worauf
Schöder in präzisem Englisch eingriff: »That's my problem!«
Bereits die Form des am 16. Oktober
angenommenen Bundestagsantrags ist höchst ungewöhnlich: Es ist
ein Antrag der alten Bundesregierung, der
die neue bindet, beschlossen in
einer Übergangszeit, wobei selbst Liberale wie der Abgeordnete Burkhard
Hirsch bezweifeln, daß die Einberufung
des alten Bundestags nach der
Wahl eines - erheblich anders zusammengesetzten - neuen verfassungsrechtlich
möglich ist. Es handelt sich bei
diesem Antrag nicht einmal um
einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnisgrünen,
wie dies zuvor bei vergleichbaren
Anlässen der Fall war. Allein
die alte Bundesregierung wird als Antragstellerin ausgewiesen. Vor dem
Durchschreiten dieses Antrags-Jochs konnte
man SPD und Bündnisgrüne
noch als Linksparteien bezeichnen; nach Absolvierung dieses Initiationsritus
handelt es sich um Parteigänger des
imperialistischen Kriegs.
Eine ähnlich deutliche Sprache
spricht der beschlossene Antrag selbst. Auf die zwei Tage zuvor neu eingetretene
Situation - die Regierung Milosevic
machte alle von den USA geforderten
Zugeständnisse - wird mit keiner Silbe eingegangen - sicher auch,
weil es nicht in die aufgebaute
»Drohkulisse« passen
würde.
Der Bruch des Völkerrechts
wird im Antrag unverblümt dort ausgesprochen, wo die Notwendigkeit
der militärischen Aggression u. a. mit dem
Verweis begründet wird, »in
absehbarer Zeit (ist) keine weitere Resolution des VN- Sicherheitsrats
zu erwarten, die Zwangsmaßnahmen mit Blick
auf den Kosovo enthält«.
Dabei sind nach der UN-Charta militärische Maßnahmen nur möglich,
wenn sie auf einer entsprechenden Resolution des
Sicherheitsrats beruhen.
Einmalige Lage im Kosovo?
Dem Bundestagsbeschluß ist
nach einer detaillierten Darlegung der zunächst einzusetzenden Bundeswehr-Kräfte
zu entnehmen, daß »darüber hinaus
ggf. Heereskräfte zur >
Transfer interrupted!
ließlich erforderlicher Stabs-
und Unterstützungskräfte bereitgestellt (werden)«. Damit
wurde ein Freibrief für den erstmaligen Einsatz der
Krisenreaktionskräfte ausgestellt.
Übrigens: Die von SPD und
Bündnisgrünen beschworene Notwendigkeit humanitärer Hilfe
für die notleidende Bevölkerung im Kosovo wird im
Bundestagsbeschluß mit keinem
Wort erwähnt. Dabei geht dieser dort, wo das im Sinne der Militärs
gewünscht ist, durchaus ins Detail. So, wenn
es zur Definition des Söldnerlohns
heißt: »Bei dem Einsatz handelt es sich um eine besondere Auslandsverwendung
im Sinne des Paragraphen 58 a
des Bundesbesoldungsgesetzes.«
Aufschlußreich ist auch der
Schlußsatz des Bundestagsbeschlusses, wonach »die Kosten (für
den Einsatz), soweit nicht veranschlagt, aus dem
Einzelplan 14 zu erwirtschaften
(sind)«. Sollten die Kosten im Verteidigungsetat, der laut neuem
Verteidigungsminister Scharping »kein Steinbruch«
sein darf, nicht »veranschlagt«
sein, werden sie vom Steuerzahler auf andere Art »zu erwirtschaften«
sein.
Wenn die Bündnisgrünen
argumentieren, es müsse gar nicht zu den angedrohten »Luftoperationen«
kommen; es handle sich um einen
»Vorratsbeschluß«,
so liegt gerade darin die grundlegende Brisanz des Beschlusses: Dieser
ermöglicht der NATO und der Bundeswehrführung, zu
jedem von ihnen festgesetzten
Termin losschlagen zu können. Die neue Bundesregierung und die sie
tragenden Parteien haben vor ihrem
Regierungsantritt der NATO und
der Bundeswehr auf Vorrat einen Ermächtigungbeschluß für
militärische Aggressionen gegeben.
Das Besondere dieses Bundestagsbeschlusses
besteht auch in der Heuchelei, zu der sich SPD und Bündnisgrüne
hergaben. Während diese als
Begründung für ihre
Entscheidung die Lage im Kosovo als einmalig bezeichnen müssen, müssen
sie zu allen vergleichbaren Situationen, wo - bisher
- keiner auf die Idee kommt, NATO-Luftangriffe
zu fordern, schweigen. Zu recht wurden von Kritikern dieses Bundestagsbeschluß
Vergleiche mit
Afghanistan, mit Israel und Palästina
oder mit Zypern angeführt.
Der ebenfalls oft angeführte
Vergleich mit der Türkei und Kurdistan ist dabei am aussagekräftigsten:
Die Türkei verletzt die Menschenrechte im
kurdischen Gebiet seit Jahrzehnten
und wesentlich deutlicher, als dies die serbische Regierung im Kosovo tut:
- Der albanischen Minderheit wird
das Recht auf die eigene Sprache und Kultur prinzipiell gewährt; in
der Türkei ist bereits der Gebrauch der
kurdischen Sprache im Parlament
strafbar.
- NATO und Bundeswehr fordern den
Abzug von serbischem Militär und von »Sicherheitskräften«
Jugoslawiens aus dem Kosovo, obgleich keiner
bestreitet, daß Kosovo Teil
der Bundesrepublik Jugoslawien ist. Der kurdische Teil der Türkei
ist von Truppen besetzt, dort herrscht seit langem
der Ausnahmezustand, mit dem alle
demokratischen Rechte außer Kraft gesetzt wurden.
- Die türkische Armee nimmt
sich auch regelmäßig das Recht heraus, ihren Krieg gegen die
PKK und die kurdische Bevölkerung über das
türkische Staatsgebiet hinaus
- u. a. im Irak - zu führen; aktuell droht die türkische Regierung
sogar mit einem Krieg gegen Syrien. Die
»Völkergemeinschaft«
äußert sich dazu erst gar nicht, und ebenso schweigen SPD und
Bündnisgrüne. Dabei wäre der Ansprechpartner und
Aggressor hier wesentlich beeinflußbarer,
als es die serbische Regierung ist: die Türkei ist NATO-»Partner«.
Die in diesem Land Herrschenden
saßen nicht im alten und sie sitzen nicht im neuen Kabinett. Sie
treffen ihre Entscheidungen an anderer Stelle - u.
a. in den Chefetagen von Daimler/Chrysler
und der Deutschen Bank. Wer nun genau den Initiationsritus erfand, mit
dem die Linksparteien SPD und
Grüne am 16. Oktober 1998
ihre »Bündnistreue« - gemeint ihr Bündnis mit Kapital
und imperialistischem Krieg - zu dokumentieren hatten, mag
Angelegenheit der Geschichtsforschung
sein. Ich würde mich nicht wundern, wenn belegt würde, daß
BDI-Chef Henkel mit Kumpan Kopper diese
famose Idee ausgeheckt hatte;
ist doch von Henkel der treffliche Satz aus der Wahlnacht, als er Schröder
besuchte, überliefert: »Ich bin immer auf
der Seite der Sieger«.
Aufschlußreicher Dialog
Aktenkundig ist allerdings ein
anderer Vorgang. Auf der Hauptversammlung der Daimler-Benz AG am 18. September
fragte ich als Kritischer
Aktionär: »Herr Schrempp,
kann der Souverän, die Wählerschaft, am 27. September den Eurofighter
abwählen? Kann eine rot-grüne Regierung
das Projekt stoppen?« Der
Vorstandsvorsitzende des in Europa führenden Rüstungskonzerns,
Schrempp, antwortete: »Herr Dr. Wolf, das Projekt
Eurofighter kann nicht mehr gestoppt
werden, auch nicht von einer rot-grünen Regierung.«
Zwar ist es politisch und damit
auch juristisch falsch, daß der Eurofighter nicht gestoppt werden
könne. Allein aus der Verfassungsbestimmung,
wonach Aggressionskriege nicht
geführt werden dürfen, könnte ein gut bezahlter Winkeladvokat
ableiten, daß die Beschaffung der Angriffswaffe
Eurofighter verfassungswidrig
ist. Doch die Juristerei ist hier nebensächlich. Immerhin sagten sich
die Militaristen in diesem Land auch, »legal, illegal,
scheißegal«, als sie
1992 die nie in einem Parlament beschlossenen »Verteidigungspolitischen
Richtlinien« vorlegten, die sich zumindest zu diesem
Zeitpunkt in Widerspruch zur geltenden
Rechtsauffassung befanden.
Letztlich geht es um die gesellschaftlichen
Kräfteverhältnisse. Je nachdem, wie diese beschaffen sind, besteht
für Juristen immer die Möglichkeit,
dafür passende Paragraphen
zu finden oder bestehende zu biegen. Der angeführte Wortwechsel auf
der Hauptversammlung von Daimler-Benz ist
Ausdruck dafür, daß
in den herrschenden Kreisen auch zehn Tage vor der Wahl das Wissen vorhanden
war, daß »rot-grün« die strategischen
Entscheidungen, die hier getroffen
wurden und werden, nicht tangiert.
Heute wissen wir: Der Koalitionsvertrag
von SPD und Bündnisgrünen versucht erst gar nicht, diese realen
Machtverhältnisse wenigstens punktuell
und dort, wo eine Mehrheit der
Bevölkerung dies will, in Frage zu stellen. Der »Eurofighter«
immerhin das größte Rüstungsprojekt in der deutschen
Geschichte wird von den neuen
Parteigängern des imperialistischen Kriegs konsequenterweise nicht
in Frage gestellt.
(*) Winfried Wolf ist wiedergewähltes
Mitglied des Bundestages - gewählt über die Landesliste der PDS
Baden-Württemberg
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