Gerüchte, Falschmeldungen, Dementis und neue Behauptungen scheinen in der vergangenen Woche alle sachlichen Informationen in Bezug auf die politische Lage im Nahen und Mittleren Osten verdrängt zu haben. Wir möchten hiermit den versuch machen, für unsere Leserinnen und Leser und weitere Interessierte eine Chronologie der für die Kurdistan-Politik relevanten Ereignisse der vergangenen Tage zusammenzustellen, wie sie in den kurdischen Medien dokumentiert worden sind. Dabei beziehen wir uns vor allem auf den kurdischen Fernsehsender MED-TV - soweit seine Sendungen nicht entgegen internationalem Recht von türkischer Seite gestört und unverständlich gemacht wurden - und auf die pro-kurdische Zeitung >>Özgur Politika<<.
Der Attentatsversuch
Am Donnerstag, 15.10., gab der Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK), Abdullah Öcalan, eine Erklärung im Sender MED-TV ab, die er seinen "Bericht über den Mittleren Osten für die internationale Öffentlichkeit" nannte.
Seit den ersten Oktobertagen (in denen die Drohungen der türkischen Regierung gegen Syrien begannen) waren durch ein Spezialkriegsschiff an großen Teilen der südöstlichen Mittelmeerküste Raketen stationiert worden. Am 09.10. sollte Herr Öcalan an einen von zwei vorgeschlagenen Orten gelockt werden, auf den dann bei seinem Eintreffen eine Rakete abgeschossen werden sollte. Das sei der gemeinsame Plan der Türkei und Israels zu seiner Beseitigung gewesen. Zu dieser Zeit wartete ein türkisches Team darauf, daß Abdullah Öcalan einen der beiden vorgesehenen Orte erreichte, um diese Information dann sofort an die Raketenstation weiterzuleiten und dadurch den Abschuß der Raketen zu veranlassen. Parallel zu dem beabsichtigten Attentat wurde die Frequenz von MED-TV an diesem Tag zum erstenmal innerhalb der vergangenen Woche blockiert, mit der Absicht, jegliche Äußerungen des Senders und die daraufhin zu erwartenden internationalen Reaktionen zu verhindern.
Der PKK-Vorsitzende wurde jedoch rechtzeitig mißtrauisch und: ...Wir sind zu keinem dieser Orte gegangen; so hat dieses Attentat nicht stattfinden können.“
Abdullah Öcalan fuhr dann fort und erläuterte, eine solche Provokation wäre seit denjenigen der Hitler-Regierung, die zum 2. Weltkrieg geführt hätten, nicht mehr vorgekommen. Dieses Raketenattentat auf syrisches Territorium wäre, wenn es gelungen wäre, in der Lage gewesen, einen großen Krieg auszulösen. „Die ganze Welt soll sich gegen eine Regierung wenden, die zusammen mit ihren Verbündeten auf solche Weise die Besetzung des gesamten Nahen und Mittleren Osten geplant hat“, so Herr Öcalan.
Ein frecher diplomatischer Betrug
Betrachten wir nunmehr, mit welcher fast unglaublichen Unverfrorenheit die türkische Generalität und Regierung die Situation erschaffen haben, in der sie glauben, ein solches Attentat ausführen zu können.
Da wurden zunächst geheime Kontakte zum Vorsitzenden der PKK gesucht. In ähnlicher Weise, wie Herr Öcalan von Seiten des Europaparlaments und einiger europäischer Regierungen nahegelegt worden war, er solle durch einen Waffenstillstand von seiner Seite eine Entspannung einleiten, um dadurch eine politische Lösung der kurdischen Frage zu ermöglichen, gaben nun sowohl die türkische Regierung als auch das Militär ebenfalls Signale in diese Richtung. Sie gingen sogar soweit, in sechs Punkten einleitende Bedingungen festzulegen, die zu aussichtsreichen Verhandlungen führen könnten, und in einem ‘Paket’ von elf weiteren Punkten mögliche Spielräume aufzuzeigen.
Da ein solch gigantischer Bluff fast unglaublich erscheint, werden wir von türkischer Seite vorgegebenen Verhandlungsgrundlagen an dieser Stelle dokumentieren. Es ist zu erwähnen, daß von diesen Vorverhandlungen sowohl schriftliche Dokumente als auch Tonkassetten existieren, so daß der Beweis für die betrügerischen Wege der türkischen Geheimdiplomatie und deren teuflisches Spiel mit der Friedenssehnsucht der Völker jederzeit erbracht werden kann.
Die ersten sechs Punkte:
1. Die PKK solle ihre politische Einstellung nochmals deutlich machen
2. Fehler bei den früheren Waffenstillstandsversuchen seien von
beiden Seiten zu beurteilen und zu diskutieren.
3. Der Waffenstillstand 1993 sei von der türkischen Seite - trotz
politischer Vorbereitung - nicht deutlich genug verstanden worden
4. Die politischen Erklärungen des Vorsitzenden der PKK müßten
in die Praxis umgesetzt werden; die Türkei werde diese Umsetzung beobachten
5. Als Termin für den Beginn eines Waffenstillstandes werde der
1. September als günstiger Zeitpunkt vorgeschlagen. „Wenn das so geschieht,
werden wir als türkischer Staat eine Antwort geben. Dafür werden
wir alle Provokationsmöglichkeiten unterbinden.“
6. Die Beurteilung eines solchen Waffenstillstandes würde ergeben,
daß er ein Gewinn auch für die kurdische Seite sein werde.
Das zweite „Punkte-Paket“ beinhaltet Forderungen des türkischen Staates und solche, die als Forderungen von der Seite der PKK vorgeschlagen werden könnten:
1. Alle Operationen gegen die PKK könnten beendet werden
2. Das Dorfschützersystem könnte aufgelöst werden
3. Die Kurdische Frage könne auf einer demokratischen Basis gelöst
werden
4. Die Türkei werde den Waffenstillstand auch als eine Chance
für den neu besetzten türkischen Generalstab ansehen
5. Die vergangenen Waffenstillstände seien nicht richtig beurteilt
worden; solche Fehler sollten sich nicht wiederholen
6. Der Waffenstillstand könnte auf eine bestimmte Zeit begrenzt
angekündigt werden; innerhalb dieser würde er beantwortet werden
7. Es solle berücksichtigt werden, daß der Waffenstillstand
auch für die vorgezogenen Wahlen allen Parteien in einer entspannten
Atmosphäre eine reelle demokratische Chance bieten würde
8. Der Waffenstillstand würde auch die Möglichkeit einer
Generalamnestie für alle politischen Gefangenen bieten
9. Persönlichkeiten aus Europa könnten zur Beobachtung aufgefordert
erden
10. Für eine breite internationale Pressekonferenz könnten
Politiker vieler Richtungen aus Inland und Ausland als Sprecher gewonnen
werden
11. Die kurdische Seite könne fordern, ihre Sicherheitskräfte
zu ihrer Selbstverteidigung zu behalten.
Diese Vorschläge von türkischer Seite bilden die Basis; auf sie bezog sich der von der PKK verkündete Waffenstillstand.
Zunächst war zugesichert worden, bis Mitte September werde eine Antwort erfolgen. Auf Anfrage, warum bisher keine Reaktionen erfolgt seien, wurde Mitte und Ende September jeweils erklärt, es gäbe Schwierigkeiten und es seien noch nicht alle zu beteiligenden Kräfte in der Türkei unter Kontrolle. Es wurde an die PKK als Verhandlungspartner die ausdrückliche Bitte herangetragen, noch bis Mitte Oktober abzuwarten.
Dann demaskierte sich der türkische Staat Schlag auf Schlag. In den ersten Oktobertagen begannen die massiven Drohungen gegen Syrien (die selbst viele Politiker in der Türkei verblüfften und für sie keine Erklärung wußten), unter dem Vorwand von Manövern hielten sich Schiffe im Mittelmeerraum auf, die mit scharfer Munition bestückt waren. Der am 9. Oktober („Gebt uns Zeit bis Mitte Oktober!“) ausgeübte Attentatsversuch auf Abdullah Öcalan demaskierte den Betrug endgültig.
Wenn wir nun die internationale Politik seit dem Spätsommer betrachten, sind noch größere Dimensionen zu erkennen:
· Die USA / Israel-Lobby rückte die Clinton/Lewinski Affäre
in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und lähmte damit
gleichzeitig die Bewegungsfreiheit des amerikanischen Präsidenten
· Der Kosovo wurde in Europa in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit
gerückt; gleichzeitig wurden Rußland und Europa auf diese Weise
vom Mittleren Osten abgelenkt
· Ein wesentlicher Teil des iranischen Militärs wurde (unmittelbar
vor dem Beginn der Drohungen gegen Syrien) an der afghanischen Grenze gebunden
· Über den PKK-Waffenstillstand gab es von Anfang an kaum
ein Wort in den Medien, in welchem Land auch immer
Wenn diese Ereignisse in Beziehung gesetzt werden, so zeigt es sich, daß es um weitaus mehr ging als um die PKK oder die Kurden. Offensichtlich haben internationale Kräfte (beispielsweise der CIA im Komplott mit Israel und der Türkei) ein Interesse daran, im Nahen und Mittleren Osten keinesfalls Ruhe einkehren zu lassen; statt dessen scheint es, daß zumindest in dieser Region die „Karten neu gemischt“ werden sollten. Nachdem jedoch das initiale Ereignis, das Attentat auf den PKK-Vorsitzenden, fehlgeschlagen war, entspannte sich die Lage plötzlich überall: Im Kosovo wurde eingelenkt, ebenfalls in Afghanistan. Die Situation zwischen der Türkei und Syrien entspannte sich ebenfalls, und die Kurden sind über das nachgeben der syrischen Regierung keineswegs erstaunt: Denn Syrien zählte in Wirklichkeit auch vorher nicht zu den Freunden der Kurden oder der PKK. Wenn die PKK dort Hilfe bekam, dann durch die im Norden Syriens lebenden Kurden, die sehr gut organisiert sind und die Guerilla und den Befreiungskampf mit allen Kräften unterstützen. In seinen im Fernsehsender MED-TV und in >>Özgur Politika<< veröffentlichten, äußerst fundierten Beurteilungen der Lage nach dem gescheiterten Attentat (denen wir auch mit dieser Erklärung folgen) betonte Abdullah Öcalan, daß sich seit langem mehr als hundert PKK-Militante in syrischen Gefängnissen befinden; das bedeute wohl nicht gerade eine Unterstützung oder politische Freundschaft.
Zum Schluß noch ein Wort zu den Spekulationen über den derzeitigen Aufenthalt von Herrn Öcalan: Am Abend des 21.10. hat der seit langer Zeit in Schweden lebende kurdische Journalist und Schriftsteller Mahmut Baksi in den MED-TV-Nachrichten erklärt, er habe eine halbe Stunde vor der Sendung eine Stunde lang mit dem Vorsitzenden der PKK telefoniert; dieser befinde sich in Freiheit und bei bester Gesundheit. Des weiteren verweisen wir auf die persönliche Erklärung von Herrn Öcalan, die wir - in der Übersetzung des Kurdistan Informations-Zentrums - zu Ihrer Information mitschicken.
Damit schließen wir unsere Sonderausgabe; wir hoffen, einige
Fragen beantwortet und damit zum weiteren Nachdenken angeregt zu haben.
das nächste >>Bülteni<< mit den in dieser Woche nicht berücksichtigten
Themen wird in der Kommenden Woche, am 29.10., erscheinen.
YEK-KOM
YEK-KOM, Föderation Kurdischer Vereine in Deutschland e.V.
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