Die Presseerklärung, die am Wochenende von der Nationalen Befreiungsfront Kurdistans (ERNK) herausgegeben wurde, war mehr als nur eine Meldung unter vielen zum Krieg in Kurdistan: Andrea Wolf, die, bevor sie sich vor geraumer Zeit der kurdischen Guerilla anschloß, in politischen Strukturen im Rhein-Main-Gebiet aktiv gewesen ist, sei am 24. Oktober bei einem Gefecht zwischen kurdischer ARGK-Guerilla, dem bewaffneten Arm der PKK, und türkischen Spezialeinheiten gefangengenommen und »später hingerichtet« worden. Weiter heißt es in der vom Kurdistan Informations-Zentrum in Köln verbreiteten Erklärung: »Unsere Partei hat im Januar 1995 die Genfer Kriegskonvention aus dem Jahre 1949 sowie die Zusatzprotokolle aus dem Jahre 1977 unterzeichnet und damit alle Verpflichtungen durch diese Unterschrift garantiert. (...) Obwohl wir diese Verpflichtungen eingehalten haben, hat die Türkische Republik das Zusatzprotokoll aus dem Jahre 1977 noch nicht einmal unterzeichnet. Jeden Tag werden all diese internationalen Vereinbarungen (durch die türkische Armee) verletzt. Die Hinrichtung der ARGK- Guerilla Andrea Wolf ist dafür das jüngste Beispiel. (...) Die Türkische Republik ist in Sachen Kriegsverbrechen das Land, das den Rekord hält.«
Tatsächlich hat sich die Türkei in den letzten Jahren weder
an die Genfer Kriegskonvention gehalten, die die Ermordung von Gefangenen
ebenso untersagt wie deren Mißhandlung und Folterung, noch sind völkerrechtlich
bindende Bestimmungen eingehalten worden. Als beispielsweise vor einem
Jahr, im Oktober 1997, das Büro für Auswärtige Beziehungen
der im Nord-Irak (Südkurdistan) ansässigen Patriotischen Front
Kurdistans (PUK) einen Brief an UN- Generalsekretär Kofi Annan schrieb,
in dem darauf hingewiesen wurde, daß türkische Truppen in Irakisch-
Kurdistan in einer die Hoheitsrechte eines Nachbarlandes verletzenden Aktion
die Zivilbevölkerung des Autonomiegebiets vertreibe und auf fremdem
Territorium »einen Vernichtungskrieg« betreibe, antwortete
die Türkei auf ihre Weise. Die Militäroffensive wurde für
beendet erklärt, gleichzeitig wurde die Mißachtung internationalen
Rechts sogar offiziell verkündet: Nach Abzug eines Teils der türkischen
Truppen, so Ankara, würden mehrere tausend Soldaten dauerhaft im Nachbarland
stationiert. Die Frage, ob die Türkei das Völkerrecht mit
Füßen tritt und die Genfer Konventionen nicht einhält,
schien aber jahrelang die Regierungen der verbündeten Länder
in Europa und Nordamerika nicht zu interessieren. Die alte Bundesregierung
honorierte die Mißachtung der Menschenrechte und immer neue Vernichtungsfeldzüge
auf ganz besondere Weise: Die Bundesrepublik war zeitweise noch vor den
USA der wichtigste Waffenlieferant der Türkei. Sollte sich nun
der Vorwurf bestätigen, daß türkische Soldaten die bei
Gefechten gefangene Deutsche zunächst festgenommen und später
hingerichtet haben, dann müßte das, anders als in der Vergangenheit,
zumindest für den Juniorpartner der neuen Bundesregierung Anlaß
sein, eine grundlegende Änderung bei den deutsch-türkischen Beziehungen
ins Auge zu fassen. Schließlich gibt es neben den Beteuerungen
führender bündnisgrüner Politiker aus Oppositionszeiten,
daß die eklatante Mißachtung der Menschenrechte Konsequenzen
haben müsse, aktuell auch vom neuen Außenminister Fischer eindeutige
Worte: Dieser hatte sich in den letzten Tagen mehrfach für eine Stärkung
der UNO und des internationalen Rechts ausgesprochen. Die Einhaltung von
Menschenrechten und internationalen Normen sei, so Fischer, Richtschnur
der deutschen Außenpolitik.
Thomas Klein
(jW, 09.11.98)