Im Nordirak hat Ankara freie Hand
Von unserer Korrespondentin Astrid Frefel
ISTANBUL. Unterstützt von Flugzeugen und Helikoptern haben türkische
Truppen die Grenze zum Nordirak an mehreren Stellen überschritten.
Rund
25000 Mann sollen in den vergangenen Tagen 30 Kilometer tief ins Nachbarland
einmarschiert sein, um vermutete Lager und Verstecke der Kurdischen
Arbeiterpartei (PKK) nahe der iranischen Grenze zu zerstören, berichteten
türkische Medien.
Eine Bestätigung der Operation, die seit der Übereinkunft der Türkei mit Syrien erwartet worden war, gab Verteidigungsminister Ismet Sezgin: „Wir schätzen, daß 400 bis 500 Leute von Syrien in den Nordirak geflüchtet sind, wo es ein Machtvakuum gibt. Es ist unser Ziel, diese PKK-Mitglieder zu vernichten“. Eine offizielle Mitteilung der Militärs wird erst für die kommenden Tage erwartet.
Die Operationen türkischer Truppen im Nordirak sind in den vergangenen
Jahren zu einer Routine geworden, die in der Türkei kaum mehr Erwähnung
findet. Die
Generäle können auf das Verständnis der Washingtoner
Regierung zählen. Diese duldet die Grenzüberschreitungen, weil
sie ihrerseits von türkischem Gebiet aus
Aufklärungsflüge über dem Irak starten darf.
Der Zeitpunkt der jüngsten Invasion wird einerseits vom bevorstehenden
Wintereinbruch diktiert und zum zweiten von den politischen Veränderungen
im Nordirak. Mitte September haben die beiden rivalisierenden Kurdenparteien
in Washington einen Friedensvertrag unterzeichnet. Dieser sieht eine gemeinsame
Verwaltung des
Gebietes und Neuwahlen für das regionale Parlament in Erbil vor.
Massoud Barzani, der Vorsitzende der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP)
und Jalal Talabani, der Chef der Patriotischen Union (PUK) haben sich in
Ankara getroffen und erklärt, die Umsetzung des Abkommens verlaufe
zügiger als geplant.
Die beiden irakischen Kurdenführer versicherten gleichzeitig, daß
sie die PKK in ihrem Gebiet nicht dulden würden und daß die
regionale Verwaltung nicht auf einen
unabhängigen Staat hinauslaufe, sondern nur auf einen föderalen
Aufbau des Irak. Die Türkei war über das Abkommen von Washington
und die Tatsache, daß sie
nicht daran beteiligt war, so verärgert, daß sie demonstrativ
ihre diplomatischen Beziehungen zu Bagdad auf Botschafterebene anhob. Sollte
die kurdische
Selbstverwaltung im Nordirak wirklich funktionieren, würde dies
den Spielraum Ankaras in diesem Gebiet wesentlich einschränken. Eine
solche Lösung könnte
überdies den Kurden in der Türkei als Vobild dienen.
Verluste in der Türkei, ihre Verfolgung auf irakischem Gebiet und
das türkisch-syrische Abkommen haben die militärische Schlagkraft
der Separatisten-Organisation
PKK massiv geschwächt. Die Flucht ihres Anführers Öcalan
aus Syrien hat nun auch ihre Führungsstruktur angeschlagen. Dafür
kann die PKK aber politische Erfolge verbuchen. Das russische Parlament
verlangte Asyl für Öcalan, über 100 griechische Abgeordnete
haben eine Einladung an ihn unterzeichnet und in Skandianvien gab es große
pro-kurdische Demostrationen. Überraschend viele türkische Kommentatoren
stellen sich die Frage, ob die PKK, die am 1. September einen einseitigen
Waffenstillstand erklärt hatte, eine ähnliche Entwicklung wie
PLO, IRA oder ETA durchmachen werde.
(Badische Zeitung,09.11.98)