Nordbayerischer Kurier, 13.November 1998

Die Türkei auf dem Weg nach Europa
Der neue Staatsminister im Auswärtigen Amt, der Kulmbacher Günter Verheugen, hat sein Herz für die Türkei entdeckt. Während die alte Regierung unter Helmut Kohl vor allem mit Verweis auf ungelöste Menschenrechtsfragen und die Kurden-Problematik Ankara eher auf Abstand hielt, wenn es um eine mögliche EU-Mitgliedschaft ging, geht Verheugen in die Offensive: Die Türkei sei selbstverständlich ein Land, das als EU-Vollmitglied in Frage komme.
Die neuen Töne aus Bonn werden in Ankara aufmerksam registriert, hatte die traditionelle Deutschfreundlichkeit der Türkei zuletzt doch etwas gelitten.
Unzweifelhaft ist, daß der NATO-Staat am Bosporus ein geostrategischer Diamant für die Allianz ist. Eine noch stärkere Einbindung in westliche Strukturen wie die EU dient nicht zuletzt auch den Europäern selbst. Und auch die Menschenrechte, die die Türkei teilweise noch immer mit Füßen tritt, finden eher die ihnen gebührende Beachtung, wenn Ankara der Eintritt in den Europa-Klub konkret in Aussicht gestellt wird.
Daß ein EU-Beitritt des Riesenlandes, das Europa mit Asien verbindet, rein finanziell teuer zu stehen kommt, ist nicht von der Hand zu weisen. Doch auch die osteuropäischen Kandidaten für die Gemeinschaft werden Nettoempfänger und nicht -zahler sein.
Die Finanzen stehen in Ankara nicht zum besten; eine Reihe von Hausaufgaben müssen hier noch erledigt werden. Die gewaltige Inflationsrate - 66 Prozent im 1. Halbjahr 1998 - ist eine von vielen Hürden auf dem Gang nach Europa. Immerhin aber wächst die Wirtschaft mit zuletzt rund sechs Prozent doch recht kräftig.
Wie bei den Osteuropäern rangiert auch im Fall eines EU-Beitritts der Türkei das politische Moment vor dem rein finanziellen. Letzt Endes profitieren auch die Industrieländer von einheitlich geregelten Märkten und dem Wegfall von Handelsbarrieren.
Abseits der politisch-diplomatischen Ebene entwickeln sich die deutsch-türkischen Beziehungen gut. Heimkehrende Türkei-Reisende schwärmen auch heute noch von der beispielhaften Gastfreundschaft, die sie im Land zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer erfahren durften. Aber auch viele Türken, die früher in Deutschland arbeiteten und nun zurück in ihre Heimat gekehrt sind, denken gerne an ihre Zeit „beim Opel“ oder sonstwo zurück.
Vom fremdenfeindlichen Deutschen, wie er hierzulande mitunter beklagt wird, haben sie zumindest nichts bemerkt.
ROLAND TÖPFER