Lindau (lz) - Ein paar Theaterinteressierte hätten es schon mehr sein
dürfen, die das kleine Häuflein deutscher Zuschauer
im Club Vaudevile vergrößert hätten. So aber blieben mehr
als zweihundert Kurden weitgehend unter sich, um einer
Theateraufführung von ungeheurer Faszination beizuwohnen.
Ein Bericht über die Aufführung des „Teatra Jiyana Nu“ kann die
existentiellen Beweggründe, die zu seiner Entstehung
führten, nicht außer acht lassen: mit den Mitteln der Sprache,
der Musik und der Bewegung wird da versucht, die
bedrohte, meist brutal unterdrückte Kultur des kurdischen Volkes wach
zu halten.
Daß da selbst normale Probeabende regelmäßig zu Behinderungen,
Zerstörungen, ja: Verhaftung und Folter führen,
vermag sich ein einheimischer Hobbyschauspieler, der sich hier eher um
angemessene Raumtemperaturen oder eine
geeignete Bühnengröße sorgt, kaum vorzustellen. Unter diesem
Aspekt wird das Bedürfnis dieser Gruppe nach
Solidarität unter Gleichgesinnten vermutlich ausgeprägter sein
als unter jenen, die nur der Wunsch nach größerer
Beachtung ihres schauspielerischen Tuns eint. „Sermola-die Republik der
Verrückten“ dürfte gerade auch bei jenen
Begeisterung ausgelöst haben, dich sich vom Theater außer intelligenter
Unterhaltung auch einen größeren
gesellschaftlichen und politischen Bezug wünschen. Dabei kam die schlichtweg
überwältigende Darstellung dieser
professionellen Gruppe, die im „Mesopotamischen Kulturzentrum Istanbul“
sein unerwünschtes Zuhause hat, nur selten
mit erhobenem Zeigefinger daher. Da wurden mit Verve, schier unerschöpflichem
Gestenreichtum und mimischen
Leistungen, die bei Charlie Chaplin geschult schienen, Szenen erschaffen,
die oft zum Verzweifeln schön und traurig
waren.
Alltagsgeschichten standen da Extremsituationen gegenüber, und allesamt
lieferten sie das Material, das Menschen
plötzlich zu Außenseitern, zu „Verrückten“ macht: Opfer
ihrer Famiilie, ihres Berufes, eines Schichsalschlages - oder
auch nur einer besonderen Begabung.
Doch dann tritt der unwahrscheinlichste, der wünschenswerteste aller
Fälle ein: all die ausgegrenzten, eigentlich schon
toten Menschen tun sich zusammen, stemmen sich gegen ihr unverschuldetes
Los, und auf einmal taucht die Frage, wer
da nun eigentlich „normal“ und wer verrückt ist, in beklemmender Dringlichkeit
auf - die Politik läßt grüßen.
Beinahe dreieinhalb Stunden hat diese packende Inszenierung gedauert, und
vielleicht war das ja auch ein Ausdruck
dafür, daß die Akteure auf ihrer Deutschland-Tournee möglichst
lange mit ihren weniger bedrohten Landsleuten
zusammen sein wollten. Bezeichnend genug, daß eine Szene kurzfristig
gestrichen werden mußte, weil ihr Darsteller in
seiner Heimat zurückgehalten wurde.
Für die meisten kurdischen Zuhörer bedeutete diese Aufführung
wohl mehr als eine kulturelle Abwechslung - allen
anderen gewährte sie einen faszinierenden und lebendigen Blick auf
modernes Theater aus einer Region, die ihre
Schlagzeilen meist aus anderen Gründen erhält. (10.11.1998)