Stoff für einen neuen Anzug
Im Blickpunkt: Koalitionssuche in Ankara
Von Gerd Höhler (Athen)
Voraussichtlich an diesem Wochenende wird der türkische Staatspräsident
Süleyman Demirel den Auftrag zur Bildung einer neuen Regierung erteilen
- an wen, ist noch offen. Der 74jährige, selber siebenmal Ministerpräsident,
gilt als gewiefter Taktiker.
„Baba“, der Vater, wie ihn die Türken nennen, muß wieder
einmal sein Geschick beweisen und einen Ausweg aus der innenpolitischen
Krise finden, in die das Land mit dem Sturz der Regierung von Mesut Yilmaz
geraten ist.
„Mal sehen, welchen Anzug ich aus diesem Stoff schneidern kann“, sagte
Demirel gelassen, als er am Donnerstag, wenige Stunden nach dem Mißtrauensvotum
gegen Yilmaz, seine Sondierungen begann. Aber leicht wird es nicht, im
gegenwärtigen Parlament eine Regierungsmehrheit zusammenzubringen.
Auf zehn Parteien verteilen sich die 550 Sitze, keine hat eine absolute
Mehrheit. Die stärkste Fraktion ist die der islamistischen Tugend-Partei
(FP). Eigentlich wäre ihr Führer Recai Kutan, der parlamentarischen
Tradition zufolge, an der Reihe, ein Regierungsbildung zu versuchen. Aber
daß Demirel ihm den Auftrag erteilt, ist unwahrscheinlich, denn das
könnte zu Konflikten mit den Militärs führen, die erst 1997
den islamistischen Premier Necmettin Erbakan aus dem Amt vertrieben hatten.
Überdies hat Kutan kaum Aussichten, Koalitionspartner zu finden.
Als arithmetisch und politisch tragfähigste Lösung gilt eine
Koalition der beiden großen konservativen Parteien, der von Yilmaz
geführten Mutterlandspartei (Anap) und der Partei des Wahren Weges
(DYP) der früheren Ministerpräsidentin Tansu Ciller. Der Sozialdemokrat
Bülent Ecevit signalisierte bereits seine Bereitschaft, als Dritter
in eine solche Koalition einzutreten. Die Intimfeinde Yilmaz und Ciller
ließen durchblicken, daß sie ihre Rivalitäten zumindest
zeitweilig begraben und auf die Führungsrolle verzichteten wollten.
Als möglicher Premier wird Ecevit gehandelt.
Die jetzt offenbar auch von Demirel angestellten Überlegungen,
eine solche Regierung könne die regulär bis Ende 2000 laufende
Legislaturperiode in voller Länge durchstehen, womit die auf April
nächsten Jahres vorgezogenen Wahlen überflüssig würden,
haben aber keine großen Chancen. Vor allem Yilmaz will die Wähler
möglichst bald zu den Urnen rufen, am liebsten schon im Februar. Er
hofft trotz der gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe auf eine Rückkehr
an die Macht.