Am 12. November 1998 gegen Abend reiste Abdullah Öcalan nach Italien ein und seit diesem Tag wird unter Beteiligung der Regierungen verschiedenster Länder, unterschiedlichster Organisationen und Personen die Frage diskutiert - was nun ?
Unabhängig davon, wie auf internationaler rechtlicher wie politischer
Ebene über den zukünftigen Status des Vorsitzenden der PKK entschieden
werden wird, diese Entscheidung wird mit Sicherheit auch entscheidend
den weiteren Verlauf des "kurdischen Konflikts" mitbestimmen.
Der folgende Artikel beabsichtigt, ein wenig die seit diesem Tag in
der Türkei stattfindenden Entwicklungen und die sie begleitende pogromartige
Hysterie darzustellen, die ein entscheidendes Licht auf die zu erwartenden
Probleme bei dem Versuch einer "politischen Lösung der kurdischen
Frage" werfen.
Am 26.11.1998 ist die 55. Regierung der Türkischen Republik unter
Mesut Yilmaz durch ein Mißtrauensvotum im Parlament zu Fall gekommen.
Und es ist davon auszugehen, daß auch eine 56. Regierung sich nicht
lange halten wird.
Solange die totale Verleugnung der durch angesehene Organisationen
immer wieder belegten ungeheuren Dimension von Menschenrechtsverletzungen
und Verletzungen des internationalen Völkerrechts durch die Türkei
anhält und ohne die restlose Aufklärung und Ahndung derselben,
ist mit einer "politischen Lösung der kurdischen Frage" und einer
Demokratisierung des Apparates und seiner gesetzlichen Grundlagen nicht
zu rechnen.
Unabhängig von eventuellen Verletzungen der Genfer Konventionen
von 1949 und ihrer Zusatzprotokolle von 1977, welche im übrigen im
Gegensatz zur PKK (Januar 1995) von der Türkei nicht ratifiziert wurden,
oder anderer völkerrechtlicher Prinzipien durch die PKK
- wer heute eine Aufklärung von Kriegsverbrechen und Verbrechen
gegen die Menschlichkeit fordert und dies einseitig unter Ignorierung der
Tatsache tut, daß die absolute Hauptlast dieser Art von Verbrechen,
begangen durch staatliche Kräfte oder dem Staat zuzurechnenden Kräften
wie Dorfschützern etc., die kurdische Bevölkerung und die zivile
Opposition zu tragen hat, unternimmt keineswegs einen Schritt in Richtung
"gerechten und würdevollen Frieden".
So ist es denn auch berechtigterweise die größte Furcht
der Türkei, daß der Versuch einer Aufklärung begangener
Vebrechen auf internationaler Ebene dazu führen könnte, daß
der Staat selber plötzlich zum Hauptangeklagten werden könnte
(so Justizminister Hasan Denizkurdu unter Bezugnahme auf den Berliner Prozeß
gegen den armenischen Attentäter Talat Paþa`s, in dem letztendlich
über den an den Armeniern begangenen Völkermord geurteilt wurde,
Radikal vom 28.11.1998).
Sämtliche Beispiele der Geschichte lehren jedoch, daß die
Aufklärung staatlicher Verbrechen unerläßliche Voraussetzung
zur Einleitung eines gerechten Friedensprozesses ist.
Die offizielle Staatspropaganda lautet nach wie vor:
a. In der Türkei existiere kein "kurdisches Problem" oder selbst
"Menschenrechtsproblem" sondern lediglich ein "Terrorismusproblem";
b. Aufgrund des notwendigen Kampfes gegen den "Terrorismus" könne
es vereinzelt zu Menschenrechtsverletzungen gekommen sein, von einer Systematik
derselben zu sprechen sei jedoch pure Verleumdung;
c. Solange das "Terrorismusproblem" nicht "ausgelöscht" sei,
könne es zu keiner Verbesserung der Menschenrechtssituation kommen
(so der Staatspräsident Demirel während seines Besuches in Östereich
vor einer Woche und der Minister für Menschenrechte, Hikmet Türk,
am 20.11.1998 auf einer von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer und Amnesty
International organisierten Menschenrechtskonferenz).
Das nationale Gedächnis beginnt also zum einen erst 1984 und funktioniert
zum anderen auch ab diesem Zeitpunkt nur selektiv. Diese Logik führt
dazu, daß alle Peronen, die sich außerhalb der offiziellen
Staatspropaganda äußern und bewegen, zu Staatsfeinden und "Vaterlandsverrätern"
erklärt und als solche verfolgt werden. Menschen, die die Menschenrechts-
und Konventionsverletzungen beim Namen nennen, werden für dieselben
auch noch verantwortlich gemacht, indem sie staatlicherseits als Teil des
"Terrorismusproblems" lanciert werden.
Die Medien hämmern diese Logik entsprechend aufbereitet der Öffentlichkeit
solange ein, bis sie, wie im Moment, in einen Taumel nationaler Hysterie
verfällt. Sodann wird erklärt, wie vor einer Woche in der Fernsehsendung
"Siyaset Meydaný" auf dem Kanal atv geschehen, die Masse sei leider
für eine Demokratisierung und poltische Lösung der "kurdischen
Frage" noch nicht reif. Diejenigen Medien, die von der vorgegebenen Linie
abweichen, werden kurzerhand verboten, wie vor einem Monat erneut die Zeitung
"Özgür Gündem", oder zumindest vorübergehend eingestellt,
wie etliche Radio- und Fernsehsender, welche unliebsame Meinungsäußerungen
ausstrahlen.
Beispiele:
Am 25. April 1998 wurde über eine im nachhinein erwiesenermaßen
lancierte und falsche Meldung in der Zeitung "Hürriyet" behauptet,
laut Aussagen des festgenommenen ehemaligen Kommandanten der PKK, Þemdin
Sakýk, werde der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Akýn
Birdal, auf Anweisung der PKK tätig.
Eine solche Aussage gab es jedoch nie und auch wenn es inoffiziell
allen klar ist, daß diese Mitteilung nur aus staatlichen und höchstwahrscheinlich
militärischen Kreisen stammen kann, gibt es bis heute keinerlei Bemühung
um Aufklärung der ursprünglichen Quelle.
Am 12. Mai 1998 wurde sodann in der Zentrale des IHD in Ankara ein
Attentat auf Akýn Birdal verübt, das er nur wie durch ein Wunder
überlebte.
Zufall ??
Die festgenommenen Personen, unter ihnen ein Offizier der Gendarmerie,
rechnen sich den "Türkischen Rachebrigaden" ,TIT, zu. Sie schwören
offen:
"Wir haben eine ganze Liste mit Namen staatsfeindlicher Personen und
werden zu gegebener Zeit weitermachen."
Die TIT ist eine Organisation, die immer wieder Verbrechen gegen insbesondere
kurdische Oppositionelle verübte und sich auch hierzu bekannte.
Nach wie vor erfolgen in ihrem Namen Drohbriefe und -anrufe z.B. gegen
MenschenrechtsaktivistInnen. Von der Organisation wird angenommen, daß
sie innerhalb des staatlichen Apperates angesiedelt ist. Nach dem Attentat
auf Akýn Birdal konnten diese staatlichen Verbindungen nicht mehr
völlig verheimlicht werden, eine wirkliche Aufklärung derselben
ist selbstverständlich nicht zu erwarten.
In der gleichen wie in der folgenden Zeit wurde der Sitzprotest der
Anghörigen der Verschwundenen, der seit über drei Jahren jeden
Samstag in Istanbul/ Galatasaray stattfindet, in den Medien ebenfalls als
"von der PKK gesteuert" dargestellt. Seitdem waren die "Samstagsmütter"
ständigen Angriffen ausgesetzt, bis dieser Protest seit dem 15.8.1998
mit Massenfestnahmen und vielen Verletzten durch Polizeikräfte regelmäßig
aufgelöst wird.
Zufall ??
Ende September 1998 wurde in Adana durch eine Person der Versuch unternommen,
ein Flugzeug der Inlandslinie in ein westliches Land umzuleiten, also zu
entführen. Die Maschine wurde in Ankara gestürmt und der Entführer
erschossen. Er wurde später der Öffentlichkeit als "Terrorist
und Mörder der PKK" vorgestellt und nicht genug damit, seine Schwestern
wurden kurzerhand zu Prostituierten gemacht, um auch ja die Niedertracht
der gesamten kurdischen Familie und eigentlich sämtlicher Kurden zu
belegen.
Der Staat jedoch habe durch diese gelungene Operation erneut seine
Überlegenheit bewiesen. Die Nation war glücklich.
Zu dieser Zeit befand sich der stellvertretende Vorsitzende des IHD,
Rechtsanwalt Osman Baydemir, in Erzurum zu Vermittlungsgesprächen
zwischen hungerstreikenden Gefangenen und Anstaltsleitung. Von Journalisten
der Zeitung "Hürriyet" bedrängt, äußerte er, er könne
aufgrund mangelnder Informationen zu dem Vorfall nichts sagen, jedoch würden
sie als Menschenrechtsaktivistinnen aus rechtlicher Sicht den Standpunkt
vertreten, daß, wenn irgend möglich, Festnahmen ohne Tötung
der festzunehmenden Person erfolgen müßten.
Doch diese Äußerung war nicht opportun und als sei nur auf
sie gewartet worden, nahmen die Medien sie zum Anlaß, eine erneute
Hetzkampagne gegen den IHD einzuleiten.
Am 1.11.1998 erschien auf der Titelseite der Hürriyet neben einem
Photo Osman Baydemir`s der Aufmacher: "Schaut Euch diesen Bekloppten an...".
In den folgenden Tagen wetteiferten die Medien darin, den IHD über
die Person Osman Baydemirs als PKK- Einrichtung darzustellen. Übereinstimmender
Tenor:
"Diejenigen, die hier von Menschenrechten reden, haben sich erneut
als Staatsfeinde entlarvt. Sie vertreten nur die "Menschenrechte von Terroristen"
und sollten nicht "Menschenrechtsverein" sondern "Schlächterrechtsverein"
heißen."
Der Boden ist erneut bereitet...
Keine Absicht ??
Am 9.11.1998 erscheinen zeitgleich in den Zeitungen "Öncü"
und "Asabi" Nachrichten über angebliche Verbindungen des IHD und der
PKK: unter einem großen Photo Eren Keskin`s, Vorsitzende der
Sektion Istanbul des IHD, der Text:
"Die wöchentlichen Aktionen der Frauen, welche "Samstagsmütter"
genannt werden, finden die Unterstützung mancher Personen, die Wert
darauf legen, daß sie auf der Tagesordnung bleiben und werden mit
dem Ziel fortgesetzt, durch gegen die Türkei gerichtete Beschimpfungen
und Verleumdungen bekannt zu werden. Bei der letzten Aktion befand sich
unter den "unsere Kinder sind verschwunden" brüllenden Frauen auch
die in ihrer Aufmachung einem Photomodell in nichts nachstehende IHD Vorsitzende
Eren Keskin, die jedoch der Frage des Polizeipräsidenten Ercüment
Yilmaz, was sie denn verloren habe, die Antwort schuldig blieb."
Und unter einem Photo, welches Eren Keskin und andere Vorstandsmitglieder
des IHD zeigt, der Aufmacher: "Apo`s Unterstützung für den IHD".
Eren Keskin wird permanent bedroht und verfolgt.
Keine Absicht ?
Am 27.11.1998 erschien in der Presse (Tageszeitung radikal) ein Artikel,
in dem es u.a. heißt:
"...Das Poilzeipräsidium teilte in einer mit "geheim" betitelten
Anweisung mit, daß von der Führung der PKK an sämtliche
Kader und Kreise der legalen Ebene der Befehl erfolgt sei, in Aktion zu
treten. In dem Schreiben wurde betotnt, daß die HADEP und der Menschenrechtsverein
IHD entsprechend dieses durch die Organisation erfolgten Befehls eine Reihe
von Aktivitäten vorbereiten würden..."
Keine Absicht ?
Dies sind nur einige wenige Beispiele aus der letzten Zeit, die sich
endlos fortsetzen ließen. Durch diese Art der Propaganda laufen Menschenrechtsaktivist/innen
und kurdische Politikerinnen und Politiker Gefahr, jederzeit Ziel von Angriffen
und Attentaten zu werden. Drohanrufe und permanente Bedrohungen auf der
Straße sind an der Tagesordnung.
Das bedeutet, in dem ständigen Wissen darum zu leben und zu arbeiten,
daß es sich nur um eine Frage der Zeit handelt, wann diese Saat aufgeht...
Dies ist nun seit dem 12. November 1998 ins Unermeßliche gesteigert
worden...
Seit diesem Tag und seitdem sich immer klarer herauskristallisierte,
daß es zu keiner Auslieferung Abdullah Öcalan`s kommen würde,
wird durch Politiker und Medien versucht, die Emotionen der Bevölkerung
in einer Art Dauerpropaganda aufzupeitschen. Permanent flackern Bilder
getöteter Kinder und Frauen über den Bildschirm, werden weinende
und schreiende Angehörige auf Begräbnissen gefallener Soldaten
gezeigt, werden verwundete Soldaten und Mütter gefallener Soldaten
interviewt, was sie tun würden, würde ihnen der "Mörder
von über 30.000 Menschen" in die Hände fallen.
Stets aufbereitet mit entsprechend dramatischer Gestaltung und den
nicht unerheblichen Hinweisen, daß es ja so etliche "Unterstützer/innen"
(siehe oben) im Lande gebe...Und die aufgepeitschten Emotionen entladen
sich wie gewünscht...
Im gesamten Land kommt es seitdem zu pogromartigen Ausschreitungen,
meist angeführt von organisierten Zivilfaschisten und häufig
mit Unterstützung der offiziellen Polizeikräfte...
Während die kleinsten Protestregungen gegen die offizielle staatliche
Politik immer zu verbotenen Demonstrationen und Kundgebungen erklärt
werden, was regelmäßig zu brutalen Auflösungen, Verletztungen,
anschließenden Festnahmen, Folter und Gerichtsverfahren führt,
dürfen die aufgepeitschten Gruppen toben.
Dies ist sogar erwünscht und wird durch Aufrufe der Politiker
unterstützt. Begleitet von Parolen und dem Aufzeigen der Zeichen der
faschistischen Parteien, dem Verbrennen von Fahnen und Demolieren u.a.
italienischer Einrichtungen, tätlichen Angriffen auf kurdische Menschen
und Angriffen jeglicher Art (Molotow-Coktails, Steine, Stöcke etc.)
auf kurdische Einrichtungen werden diese Aufmärsche als Ausdruck des
nationalen Willens hochgejubelt und in den Medien gefeiert.
In den Stadtteilen ziehen Autokonvoys hupend durch die Straßen
und heizen die Stimmung zusätzlich an. In Lynchstimmung ziehen Gruppen
z.T. in Größenordnungen von 1000 bis 1500 Menschen (Ümraniye
und Osmaniye/ Istanbul) vor die Paretibüros der HADEP und andere kurdische
Einrichtungen, versuchen in die Gebäude einzudringen und die dort
anwesenden Menschen anzugreifen.
Auf das Parteibüro der HADEP in Muþ wurde ein Brandanschlag
verübt, das Parteibüro Malatya beschossen und das Parteibüro
in Izmir am 29.11.1998 erneut mit Steinen und Stöcken angegriffen
(Quelle: HADEP Ankara).
Polizei ist in diesen Situationen entweder nicht vorhanden oder sie
schaut zu.
Zugleich kommt es zu gewalttätigen Protesten gegen italienische,
insbesondere diplomatische Einrichtungen. Fahnen werden vebrannt, italienische
Waren, u.a. Lebensmittel, auf die Straßen und Plätze ausgeleert,
zerstört und verbrannt, Läden haben Schilder mit der Aufschrift:
"Wir verkaufen keine italienische Ware" in die Schaufenster gehängt,
italienische Sender wie RAI werden an der Ausstrahlung gehindert und italienischer
Sprachunterricht an Schulen z.T. vom Stundenplan gestrichen, die entsprechenden
Lehrer entlassen (geschehen z.B. in einer Privatschule in Izmir). Politiker
drohen den westlichen Verbündeten, sich nicht mit einer zu allem entschlossenen
Türkei anzulegen (Mesut Yýlmaz erneut am 28.11.1998, Quelle:
Tageszeitung Radikal v. 29.11.1998).
Kleine italienische Läden haben aus Angst zumachen müssen.
Bei den Massenkundgebungen vor italienischen Konsulaten, bei denen
es auch zu Sachbeschädigungen kommt, sehen staatliche Kräfte,
die sonst die kleinste Ansammlung sofort brutal auflösen, wenn sie
denn von den falschen Menschen ausgeht, befriedigt zu.
Auch diese Szenen werden im Fernsehen als Demonstrationen der nationalen
Einheit belobigt.
Staatlicherseits werden die kleinsten Regungen von Protest, wie auch
zuvor schon immer, verboten und kriminalisiert, so z.B. passive Hungerstreikts
in den Büros der pro-kurdischen Partei HADEP, indem sie zu "Unterstützungsaktionen
der PKK" erklärt werden.
Landesweit kommt es immer wieder zu überfallartigen Durchsuchungen
von Parteibüros der HADEP und anderen, insbesondere kurdischen Einrichtungen
durch die Polizei, bei denen bis heute tausende Menschen festgenommen und
anschließend Frauen, Kinder wie Männer z.T. schwer mißhandelt
und gefoltert wurden.
Arbeitsunterlagen, Akten, Computer der Partei wurden beschlagnahmt.
Vielleicht sei zur Information darauf hingewiesen, daß es sich bei
der HADEP um eine legale politische Partei handelt.
Am 19.11.1998 wurden auf Anordnung des Staatssicherheitsgerichtes Ankara
landesweit alle Parteibüros der HADEP durchsucht, z.T. kurz und klein
geschlagen.
Wiederum am 19.11.1998 wurden landesweit Redaktionsräume der zur
Zeit nicht publizieren könnenden Zeitung "Özgür Gündem"
durch Polizei durchsucht (Istanbul, Ankara, Urfa, Malatya, Diyarbakýr,
Van, Batman, Izmir) und z.T. verwüstet, etliches Material beschlagnahmt
und dutzende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter festgenommen (Quelle: IHD
Istanbul).
Die polizeilichen Operationen halten seitdem an.
Landesweit ist es bis jetzt zu über 3000 Festnahmen allein in HADEP-Büros
gekommen.
Gegen 204 festgenommene Parteifunktionäre wurde anschließend
Haftbefehl erlassen, unter ihnen:
6 Vorstandsmitglieder der Parteizentrale Ankara, u.a. der Vorsitzende
der HADEP, Murat Bozlak, der stellvertretende Parteivorsitzende, Bahattin
Günel und der Parteisekretär, Ahmet Turan Demir,
7 Pateivorsitzende und 23 Vorstandsmitglieder verschiedener Provinzen,
16 Vorstandsmitglieder verschiedener Landkreise sowie
10 Vorstandsmitglieder der Jugendkommissionen der Partei (Quelle: HADEP
Ankara).
In Diyarbakýr kam es bis jetzt zu über 1.100 Festnahmen,
davon über 700 Menschen während der gegen die HADEP gerichteten
Operationen. Gegen 53 HADEP-Funktionäre und Mitglieder wurden anschließend
Haftbefehle erlassen (Quelle: ehemaliges Vorstandsmitglied der geschlossenen
IHD-Sektion, Diyarbakýr).
In diesen Zahlen sind nicht diejenigen Festnahmen enthalten, die auf
Straßen, Plätzen und in anderen Einrichtungen stattfanden.
Es ist ungeheuer schwierig, genaue Informationen zu erhalten, da kaum
noch intakte Strukturen bestehen, die kontinuierlich Informationen zusammenstellen
und weiterleiten können. Manche der Festgenommen werden kurz nach
einer Freilassung erneut festgenommen, etliche Orte wurden bereits mehrmals
Ziel polizeilicher Operationen.
Beim Abführen der Menschen sind plötzlich nicht genug Polizeikräfte
vorhanden, um diese vor der draußen wartenden Menge zu schützen
- einer Polizei, die sich sonst nicht zu schade ist, hunderte schwer aufgerüsteter
und bewaffneter Beamte gegen 30 Samstagsmütter einzusetzen - so daß
es zu etliche Schwerverletzten durch versuchte Lynchjustiz kam.
Im Fernsehen wurden diese Szenen aus allen Teilen der Türkei nicht
ohne eine gewisse Art von Stolz und Befriedigung damit kommentiert, daß
"das Volk seine nationale Einheit gegenüber Gruppen von PKK-Sympathisanten
demonstriert" hätte.
Bis jetzt sind zwei Menschen durch polizeiliche Übergriffe getötet
worden.
Ein Mensch wurde in der Zentrale der HADEP in Diyarbakir vor den Augen
vieler Menschen zu Tode geprügelt, ein anderer nach Festnahme im Gebäude
der HADEP in Izmit durch die Polizei zu Tode gefoltert.
Kurden und Kurdinnen stehen z.Zt. im Bewußtsein auf, daß
sie den heutigen Tag eventuell nicht überleben werden...
Die Stimmung ist schwer zu beschreiben. Aber es ist mir ein Anliegen
und ich möchte versuchen, sie anhand von ein paar Beispielen zumindest
ansatzweise nachvollziehbar zu machen.
1.
Hamid Çakýr, 18 Jahre, Bauarbeiter in Diyarbakýr...(Zusammenfassung
eines Interviews mit einem Cousin ):
Am Mittwoch den 18.11.1998 begab sich Hamid zum Parteibüro der
HADEP in Diyarbakýr, um den dort aus Protest hungerstreikenden Menschen
einen Besuch abzustatten, als plötzlich Polizei die Türen aufbrach
und in die Räumlichkeiten eindrang. Sie schlugen mit Knüppeln
und Fäusten auf die dort Anwesenden ein, traten sie mit Füßen.
Im Gebäude befanden sich zu dieser Zeit ca. 90 Personen, die anschließend
alle festgenommen wurden, etliche von ihnen in verletztem Zustand.
Vor den Augen aller wurde Hamid durch Schläge und Tritte insbesondere
an den Kopf schwerstens verletzt. Er starb innerhalb einer halben Stunde
noch vor Ort.
Die Polizei verhinderte jeden Versuch, ärztliche Hilfe anzuforden.
Der Leichnam Hamid`s wurde durch die Polizei sogleich in die Leichenhalle
des staatlichen Krankenhauses gebracht.
Die offizielle Version der Todesursache lautet "Herzinfarkt".
Eine unabhängige Autopsie wurde verhindert und der Leichnam nicht
an die Angehörigen herausgegeben. Im Beisein von lediglich vier Angehörigen,
die die Polizei benachrichtigt hatte, wurde er sofort durch staatliche
Kräfte begraben. Ein Bruder, dem es gelang, einen Blick in den Sarg
zu werfen, sagte aus, dieser sei voller Blut gewesen. Photos oder Filmaufnahmen
waren nicht gestattet.
Die Situation in Diyarbakýr ist extrem angespannt, überall
haben sich gepanzerte Fahrzeuge, Militär und Polizei stationiert.
Nun wollen die Anwälte der Angehörigen eine erneute, echte
Autopsie durchsetzen und Anzeige gegen die beteiligten Staatskräfte
erstatten. Die Presse schweigt.
2.
Metin Yurtsever, 45 Jahre, vor kurzem pensionierter Lehrer, Aktivist
der Lehrer/innengewerkschaft Eðitim-Sen, Izmit...(Zusammenfassung eines
Interviews mit einer Angehörigen1 ):
Am 19.11.1998 begab sich Metin auf Besuch bei der Partei HADEP in Izmit.
Während er sich dort aufhielt, wurden die Räumlichkeiten überfallartig
durch die Polizei durchsucht und die Anwesenden brutal verprügelt.
Zur gleichen Zeit kamen Faschisten aus ihrem Parteibüro im gleichen
Gebäude hinzu und stürzten sich ebenfalls auf die Anwesenden.
Der schon durch diesen Angriff schwer verletzte Metin und andere wurden
festgenommen und anschließend durch die Polizei gefoltert. Metin
starb an den erlittenenVerletzungen am Abend des 20.11.1998 gegen 20 Uhr.
Seiner ins Krankenhaus gerufenen Ehefrau konnte er noch zuflüstern,
er sei schwer gefoltert worden. Die Ehefrau sagte aus, der Körper
ihres Mannes sei unterhalb des Bauches so entstellt gewesen, daß
er als Körper nicht mehr zu erkennnen gewesen sei. Durch Eindringen
gebrochener Rippen in die Lunge wurde diese so schwer verletzt, daß
Metin nicht mehr gerettet werden konnte. Obwohl die erstuntersuchenden
Ärzte in einem Protokoll festhielten, Metin sei an den Folgen der
durch Schläge erlittenen Verletzungen gestorben, behaupten offizielle
staatliche Stellen in der Öffentlichkeit, er sei an Blurgefäßverengung
verstorben.
Durch den Angriff wurden zwei weitere Personen so schwer verletzt,
daß sie sich über längere Zeit im Koma befanden. Die Presse
schweigt.
3.
Augenzeugenbericht über die Lynchversuche einer aufgebrachten
Menge an kurdischen Menschen, Hand in Hand mit der Polizei am 17.11.1998,
Istanbul/ Beyoðlu...(Interview mit dem Augenzeugen und Betroffenen
Selahattin Bulut, Inhaber des Buchladens "Medya", Beyoðlu - Galatasaray)
"Gegen 12 Uhr befand ich mich auf dem Weg von einem Verlag zu meinem
Buchladen, der sich am Platz Galatasaray, an dem wöchentlich der Sitzprotest
der Samstagsmütter stattfindet, in einer Einkaufspassage im zweiten
Stock befindet. Daher konnte ich alles gut beobachten.
Eine Gruppe Kurden machte einen Sitzprotest in der Kirche St. Antonio.
Eine andere - ca. 60 bis 70 Menschen - kam Parolen rufend aus Richtung
Tunel in Richtung Galatasaray. Es fiel mir auf, daß sich dort keinerlei
Polizei und Taxis befanden, obwohl am Platz Galatasaray sonst immer - auch
wenn kein besonderer Tag ist - Polizei postiert ist. Die Gruppe wollte
sich dort gerade auflösen, als aus der auf der Srtaße befindlichen
Menge heraus ein auffällig großer Mann "Es lebe Attatürk,
es lebe die Türkei" skandierte. Wie auf ein Zeichen stürzten
sich Unmengen von Leuten auf die kleine Gurppe und begannen alle, die sie
in die Hände bekammen, brutal zu verprügeln. Viele wurden blutig
geschlagen und lagen verletzt auf der Straße - erst dann kam auf
einmal Polizei.
Doch statt die Angreifer festzunehmen, nahmen sie die verletzten Kurden
fest und führten sie zu Polizeibussen. Obwohl sich die Verletzten
schon in den Händen der Polizei befanden, wurde die Menge nicht daran
gehindert, weiter auf sie einzuschlagen. In den Polizeifahrzeugen schlug
auch die Polizei auf die Festgenommenen ein. Ich habe dann meinen Laden
zugemacht und bin ins Erdgeschoß gegangen. Doch das Gitter am Eingang
der Passage war verschlossen. Zivile Polizei ließ das Gitter aufmachen
und stürmte in die Passage.
Sie riefen: "Wo sind die Verräter, haben sich welche von den Verrätern
hierhergeflüchtet ?" In sämtlichen neun Stockwerken des Gebäudes
begannen Personalkontrollen. Ich konnte beobachten, daß sie Menschen
unter Schlägen abführten, die nichts mit der Sache zu tun hatten,
nur weil ihr Geburtsort im Ausweis ein kurdischer ist.
Neben mir wurden drei kurdische Jugendliche festgenommen. Die Polizei
sah in ihre Ausweise, aus denen sich über den Geburtsort ergab, daß
sie Kurden sind. Sie führten sie ab und ketteten sie dann mit Handschellen
von außen an die Gitter des Passageneinganges. So überließen
sie sie der weiter tobenden Menge, die begann, die Jugendlichen unter Parolen
wie: "Die Türkei ist groß, es lebe Attatürk", zusammenzuschlagen.
Sie schrien um Hilfe und baten die Polizei, sie zu den Polzeibussen zu
bringen.
Doch die Polizei wartete und führte sie erst nach einer Weile
ab. Da ich wegen meines Ausweises Angst hatte, begab ich mich ein Stockwerk
tiefer. Dort wurde ich von 4 - 5 zivilen Polizeibeamten umzingelt. Sie
schlugen mich eine Weile und erst dann haben sie nach meinem Ausweis gefragt.
Als ob sie mich bei einer schweren Straftat erwischt hätten, schubsten
und stießen sie mich in den Keller. Dort wurde ich geschlagen und
getreten, beleidigt und beschimpft.
"Wer bist du, was hast du hier zu suchen", fragten sie. Ich sagte,
ich hätte hier einen Buchladen. Sie sagten:"Alle Händler hier
helfen uns, die Verräter aufzuspüren und du schließt deinen
Laden und gehst. Warum ?"
Ich antwortete, ich hätte Angst wegen meines Ausweises gehabt.
"Wieso?" - "Weil mein Geburtsort Mardin ist." - "Ja und, was ist mit Mardin
?" - "Mit Mardin ist nichts, aber ihr nehmt die Menschen fest und führt
sie ab, allein deswegen, das habe ich gesehen."
Einen Moment stutzten sie.
Danach führten sie mich zu meinem Laden. Als wir hinein sind,
entdeckten sie ein Lehrbuch der kurdischen Sprache, nahmen es vom Tisch
und warfen es mir an den Kopf.
"Du hast uns gesagt, du seist Buchhändler. Sieh dir das an, was
für schändliche Bücher sind das, die du verkaufst." Sie
begannen wieder, mich zu beschimpfen und zu beleidigen.
In meiner Tasche fanden sie den Text eines Interviews, das der Verlag
"Helwest" in Schweden mit mir gemacht hatte.
"Wir brauchen dich gar nichts mehr fragen, es ist sowieso klar, wo
du stehst", sagten sie.
Ich fragte sie, was dieser Text mit den Vorfällen draußen
zu tun hätte. Wenn er einen strafbaren Inhalt hätte, sollten
sie es der Staatsanwaltschaft melden und ein Verfahren einleiten.
Wieder stutzten sie etwas.
Sie schlossen den Laden und schleiften mich hinter sich her ins Erdgeschoß.
Ich war der einzige Kurde, den sie an diesem Tag hier haben laufen
lassen.
Die dortigen türkischen Händler grüßten die Polizisten
und luden sie auf einen Tee ein."
4.
Kýymet, eine der "Samstagsmütter";
Schwester des vor 3 1/2 Jahren vor den Augen seiner Kinder entführten
und seitdem "verschwundenen" Fehmi Tosun; ihr Ehemann fiel in einem Gefecht
mit türkischen Truppen, sie kam vor ca. 3 Jahren nach Istanbul, zieht
ihre Kinder alleine groß und "lebt" mit diesen in einem Keller im
Stadtteil Avcýlar/Istanbul...(Interview mit der Betroffenen):
"Am 24.11.1998 kam ich zusammen mit meinem fünfjährigen Sohn
von einem Besuch nach Hause. Ich ging noch schnell in den Garten, um die
Wäsche reinzuholen. Dort bemerkte ich drei Männer zwischen 18
und 20 Jahren, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Ich dachte, sie kommen
wohl auf Besuch zu einer der anderen Mietparteien im Haus. Nachdem ich
wieder ins Haus bin, schellte es. Sie kamen in den Keller und schlugen
an unsere Tür. "Mach auf", brüllten sie. Ich weiß nicht
warum, auf einmal hatte ich so eine Ahnung und ich sagte, "Nein, was wollt
ihr ?". Sie schrien: "Ihr verfluchten Kurden, ihr seid Kurden, die Istanbuler
Kurden lassen wir nun nicht mehr in Ruhe. Was habt ihr hier zu suchen ?"
Ich hatte totale Angst, daß sie die Tür einbrechen würden.
Sie schimpften. "Scheiß Kurden, ihr tötet unsere Soldaten."
Dann war es eine Weile ruhig. Sie gingen weg, kamen aber zurück und
fingen wieder an:
"Wir werden Euch hier nicht am Leben lassen, wir wissen ja, wo ihr
wohnt, das hier ist noch nicht zu Ende". Sie haben ekelhafte Beschimpfungen
ausgestoßen. Ich konnte die ganze Nacht vor Angst nicht schlafen.
Und wenn sie wiederkommen, und wenn sie den Kindern etwas antun...?"
Es ist jedoch festzustellen, daß es keineswegs die gesamte Bevölkerung
ist, die sich auf diese Art und Weise artikuliert, sondern daß insbesondere
die organisierte extreme Rechte sowie staatliche Kräfte versuchen,
die verschiedenen Bevölkerungsteile gegeneinander aufzuhetzen.
Der Großteil der Bevölkerung, türkischer wie kurdischer,
hat keinen sehnlicheren Wunsch, als daß es zu einem Friedens- und
Demokratisierungsprozeß im Lande kommt.
Fakt ist, daß alle Kräfte, die ernsthaft an einer politischen
Lösung der "kurdischen Frage" und an einem grundlegenden Friedens-
und Demokratisierungsprozeß interessiert sind, Angst davor haben,
sich zu äußern oder entsprechende, dringend notwendige Schritte
zu unternehmen, da sie fürchten müssen, sofort Ziel von Angriffen
und Repression zu werden.
Es ist daher dringend erforderlich, daß diese Kräfte, auch
aus dem Ausland, anerkannt, unterstützt und gestärkt werden.
Denn ohne sie ist eine entscheidende Veränderung der diesem Konflikt
zugrundeliegenden Struktur nicht denkbar.
Jutta Hermanns, Assessorin, Istanbul
Mitarbeiterin des Büros: Rechtliche Hilfe für von staatlichen
Kräften vergewaltigte und auf andere Art sexuell gefolterte Frauen