NÜRNBERGER NACHRICHTEN 9.12.98

50 Jahre Erklärung der Menschenrechte: Die Lage in der Türkei – Teil zwei der Serie
Kritik an der Kurdenpolitik wird bestraft
Dutzende von Journalisten sitzen deswegen in Haft –
Die Polizei entzieht sich jeder Kontrolle

VON SUSANNE GÜSTEN
ISTANBUL – Einen unrühmlichen Rekord stellt die Türkei in einer Bilanz zum 50. Jahrestag der Allgemeinen Menschenrechtserklärung auf: In der Kategorie der strafrechtlichen Verfolgung von Andersdenkenden führen die Türken die Schwarze Liste einer von den internationalen Menschenrechtsligen gegründeten Beobachterorganisation in Paris an.
Als wollte Ankara diese deprimierende Bilanz bekräftigen, verweigerten die türkischen Behörden erst vor wenigen Tagen dem prominentesten Menschenrechtler des Landes, Akin Birdal, die Ausreisegenehmigung zu einem Kongreß in Frankfurt am Main. Begründung: Birdal muß demnächst eine einjährige Haftstrafe antreten. Sein Verbrechen bestand darin, daß er öffentlich von „Kurden und Türken“ gesprochen hat –eine Differenzierung, die nach Ansicht des Gerichts den Tatbestand des Separatismus und der Anstachelung zum Rassenhaß erfüllte.

Der Fall Birdal

Der Fall Akin Birdal ist typisch für die Probleme des türkischen Staates mit den Menschenrechten, deren Einschränkungen und Verletzungen meist mehr oder weniger direkt mit dem seit fast 15 Jahren andauernden Bürgerkrieg im vorwiegend kurdisch besiedelten Südosten des Landes zusammenhängen. Dabei beißen sich Anspruch und Wirklichkeit des Landes.
Denn die Türkei hat alle wichtigen
Menschenrechtskonventionen und –abkommen unterzeichnet; die Verfassung der Türkischen Republik sichert den Bürgern auch die zentralen Grundrechte zu: das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Meinungs- und Pressefreiheit, Vereins-und Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit und Bewegungsfreiheit. Auch die Gesetze des Landes sind nach Ansicht etwa der EU-Kommission ausreichend, um diese Rechte zu gewährleisten und zu schützen.
Die Wirklichkeit sieht allerdings anders aus. In mehreren südostanatolischen Provinzen gilt aufgrund des Krieges gegen die Rebellen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) seit Jahren der Ausnahmezustand, mit dem viele Bürgerrechte außer Kraft gesetzt sind. Hunderttausende sind in diesem Krieg aus ihren Dörfern vertrieben worden; von Bewegungsfreiheit oder Meinungsfreiheit kann in der Bürgerkriegsregion ohnehin keine Rede sein.
Doch der Dauerkonflikt hat auch außerhalb des Gebietes, in dem der Ausnahmezustand gilt, die Gesellschaft vergiftet und die Grundrechte der Türken untergraben. So werden Presse-und Meinungsfreiheit ausgehöhlt, indem selbst leiseste Kritik an der staatlichen Linie im Südosten strafrechtlich verfolgt wird; Dutzende von Journalisten sitzen wegen mißliebiger Artikel im Gefängnis. In jüngster Zeit wird dieses Mittel der Kriminalisierung von Meinungsäußerungen auch zunehmend gegen Islamisten eingesetzt; der populäre Bürgermeister von Istanbul wurde auf diese Weise erst vor wenigen Wochen aus seinem Amt vertrieben.
Die türkische Polizei hat in dem Klima des Mißtrauens eine Autonomie erworben, die sich der demokratischen Kontrolle enzieht. Immer wieder werden Menschen willkürlich festgenommen, in Polizeihaft gefoltert, kommen unter mysteriösen Umständen ums Leben oder werden nie wieder gesehen, ohne daß die beteiligten Polizisten dafür zur Verantwortung gezogen würden.
Die türkische Regierung, die den Beitritt des Landes zur Europäischen Union betreibt, steht vor allem den Mißständen bei der Polizei recht hilflos gegenüber. Immer wieder einmal startet ein Ministerpräsident unter dem Druck der EU einen Reformversuch. Doch weil die Kabinette in der Türkei durchschnittlich alle eineinhalb Jahre wechseln, können sie sich bei den stabilen Polizei- und Justizapparaten nicht durchsetzen.
Beim Wiener EU-Gipfel am Freitag und Samstag wird Ankara wieder auf die Anerkennung als EU-Beitrittskandidat dringen. Und die EU wird wieder einmal auf die Menschenrechtslage verweisen müssen, deren Verbesserung Brüssel zur Bedingung gemacht hat. Der jüngste Entwicklungsbericht der EU-Kommission stellt nämlich nach wie vor „Grund zur Besorgnis“ fest.