50 Jahre Erklärung der Menschenrechte: Die Lage in der Türkei
– Teil zwei der Serie
Kritik an der Kurdenpolitik wird bestraft
Dutzende von Journalisten sitzen deswegen in Haft –
Die Polizei entzieht sich jeder Kontrolle
VON SUSANNE GÜSTEN
ISTANBUL – Einen unrühmlichen Rekord stellt die Türkei in
einer Bilanz zum 50. Jahrestag der Allgemeinen Menschenrechtserklärung
auf: In der Kategorie der strafrechtlichen Verfolgung von Andersdenkenden
führen die Türken die Schwarze Liste einer von den internationalen
Menschenrechtsligen gegründeten Beobachterorganisation in Paris an.
Als wollte Ankara diese deprimierende Bilanz bekräftigen, verweigerten
die türkischen Behörden erst vor wenigen Tagen dem prominentesten
Menschenrechtler des Landes, Akin Birdal, die Ausreisegenehmigung zu einem
Kongreß in Frankfurt am Main. Begründung: Birdal muß demnächst
eine einjährige Haftstrafe antreten. Sein Verbrechen bestand darin,
daß er öffentlich von „Kurden und Türken“ gesprochen hat
–eine Differenzierung, die nach Ansicht des Gerichts den Tatbestand des
Separatismus und der Anstachelung zum Rassenhaß erfüllte.
Der Fall Birdal
Der Fall Akin Birdal ist typisch für die Probleme des türkischen
Staates mit den Menschenrechten, deren Einschränkungen und Verletzungen
meist mehr oder weniger direkt mit dem seit fast 15 Jahren andauernden
Bürgerkrieg im vorwiegend kurdisch besiedelten Südosten des Landes
zusammenhängen. Dabei beißen sich Anspruch und Wirklichkeit
des Landes.
Denn die Türkei hat alle wichtigen
Menschenrechtskonventionen und –abkommen unterzeichnet; die Verfassung
der Türkischen Republik sichert den Bürgern auch die zentralen
Grundrechte zu: das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Meinungs-
und Pressefreiheit, Vereins-und Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit
und Bewegungsfreiheit. Auch die Gesetze des Landes sind nach Ansicht etwa
der EU-Kommission ausreichend, um diese Rechte zu gewährleisten und
zu schützen.
Die Wirklichkeit sieht allerdings anders aus. In mehreren südostanatolischen
Provinzen gilt aufgrund des Krieges gegen die Rebellen der Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK) seit Jahren der Ausnahmezustand, mit dem viele Bürgerrechte
außer Kraft gesetzt sind. Hunderttausende sind in diesem Krieg aus
ihren Dörfern vertrieben worden; von Bewegungsfreiheit oder Meinungsfreiheit
kann in der Bürgerkriegsregion ohnehin keine Rede sein.
Doch der Dauerkonflikt hat auch außerhalb des Gebietes, in dem
der Ausnahmezustand gilt, die Gesellschaft vergiftet und die Grundrechte
der Türken untergraben. So werden Presse-und Meinungsfreiheit ausgehöhlt,
indem selbst leiseste Kritik an der staatlichen Linie im Südosten
strafrechtlich verfolgt wird; Dutzende von Journalisten sitzen wegen mißliebiger
Artikel im Gefängnis. In jüngster Zeit wird dieses Mittel der
Kriminalisierung von Meinungsäußerungen auch zunehmend gegen
Islamisten eingesetzt; der populäre Bürgermeister von Istanbul
wurde auf diese Weise erst vor wenigen Wochen aus seinem Amt vertrieben.
Die türkische Polizei hat in dem Klima des Mißtrauens eine
Autonomie erworben, die sich der demokratischen Kontrolle enzieht. Immer
wieder werden Menschen willkürlich festgenommen, in Polizeihaft gefoltert,
kommen unter mysteriösen Umständen ums Leben oder werden nie
wieder gesehen, ohne daß die beteiligten Polizisten dafür zur
Verantwortung gezogen würden.
Die türkische Regierung, die den Beitritt des Landes zur Europäischen
Union betreibt, steht vor allem den Mißständen bei der Polizei
recht hilflos gegenüber. Immer wieder einmal startet ein Ministerpräsident
unter dem Druck der EU einen Reformversuch. Doch weil die Kabinette in
der Türkei durchschnittlich alle eineinhalb Jahre wechseln, können
sie sich bei den stabilen Polizei- und Justizapparaten nicht durchsetzen.
Beim Wiener EU-Gipfel am Freitag und Samstag wird Ankara wieder auf
die Anerkennung als EU-Beitrittskandidat dringen. Und die EU wird wieder
einmal auf die Menschenrechtslage verweisen müssen, deren Verbesserung
Brüssel zur Bedingung gemacht hat. Der jüngste Entwicklungsbericht
der EU-Kommission stellt nämlich nach wie vor „Grund zur Besorgnis“
fest.