ROM, im Dezember. „Kurdistan“ steht auf dem Klingelknopf im sechsten
Stock eines Mietshauses in der Via Ricasoli. Vor dem Haus parken zwei Polizeiautos.
Wer nach dem Kurdenzentrum fragt, muß sich ausweisen, ja rechtfertigen.
Dann erst gelangt der Besucher zur schlichten braunen Tür, die nach
gutem Tischlerhandwerk aussieht. Geht sie auf, kommt die dicke Panzerung
zum Vorschein, die 100 Quadratmeter „Kurdistan“ vom Rest der Welt trennt.
Im verrauchten Vorzimmer hängt eine Karte des fiktiven Landes.
Sie wurde in Berlin gedruckt und vermittelt klare Vorstellungen von Grenzen,
die es in Wirklichkeit nicht gibt. Fast bis auf die Höhe von Kuwait
tastet sich der dicke rote Strich auf der Karte hinunter, im Norden fehlt
nicht viel bis zum armenischen Erewan. Auf der Pinnwand neben der Panzertür
hängen Ansichtskarten: „Saluti dal Kurdistan“ steht geschrieben unter
einem Kindergesicht. Es lacht nicht. Senfgas hat die Augen des Jungen
zerstört.
Das Büro der „Nationalen Befreiungsfront Kurdistans“ ERNK ist
Abdullah Öcalans einzige Verbindung zur Außenwelt, seit es die
„Piazza Kurdistan“ nicht mehr gibt. Kurdistanplatz heißt heute
im Journalistenjargon das Gelände vor dem Militärkrankenhaus
auf dem Celio-Hügel in Rom. Dort hatten fast zwei Wochen lang die
aus dem Norden angereisten PKK-Sympathisanten ihr Lager aufgeschlagen,
um für ihren inhaftierten Parteichef zu demonstrieren. Nach der Verhaftung
Öcalans am 12. November waren sie in Busse gestiegen und ohne weitere
Vorkehrungen nach Rom gefahren. Freiwillige Helfer und Nachbarn brachten
ihnen Decken, Tee und Pasta während der frostigen Novembertage und
-nächte.
Die ERNK ist die „Massenorganisation“ der PKK, erklärt der Büroleiter
Mehmet Balci. Massen von Kurden gibt es in Italien nicht, etwa 8 000 zählt
die kleine Gemeinde. Über das Büro laufen die Kontakte
zu den Stützpunkten der Partei in den anderen Ländern. Seit ein
paar Tagen haben die italienischen Kurden Verstärkung aus Deutschland.
Emin Kaya, der die Interessen der PKK in Deutschland vertritt, kam aus
Köln: „Sie waren etwas überlastet hier“, erklärt er die
Aushilfe.
Außerhalb des Büros scheint es den „Fall Öcalan“ nicht
zu geben. Die öffentliche Erregung der ersten Wochen ist verflogen,
die italienische Opposition hat sich anderen Themen zugewandt. Zumal der
8. Dezember, das Fest der Unbefleckten Empfängnis Mariens, ein wichtiger
Feiertag in Italien ist. Wer konnte, ist über das lange Wochenende
aus Rom geflohen. Schlechte Tage, um Politik zu machen.
Am Wochenende hat Öcalan beschlossen, den europäischen Gesprächsreigen
über die Installation eines internationalen Gerichts zur Behandlung
seines Falls mit einer Presseoffensive zu beginnen. Er lud eine Handvoll
italienischer Journalisten und die Agentur Reuters in seinen schwerbewachten
Wohnsitz am Stadtrand Roms, warf sich in Zivil und diktierte ihnen seine
Vorstellungen von einem Prozeß, der die Türkei und Deutschland
neben ihm auf die Anklagebank bringen sollte; für ihre Kriegsverbrechen
die einen, die anderen für ihre Waffenlieferungen. Es gab kaum ein
Echo in Rom.
Im „Höllchen“
Nur an der Via Malé ist von der Feiertagsruhe nichts zu bemerken.
Frierend steht ein halbes Dutzend Polizisten um ein paar Dienstwagen, welche
die Einfahrt zur Wohnstraße blockieren. Weitab, den Blicken der Neugierigen
entzogen, liegt die Villa, die Freunde für Öcalan angemietet
haben. Ein dreistöckiges Haus mit Garten, geschützt vor allem
von der wohlanständigen Umgebung; Einfamilienhäuser von Leuten,
die eine ruhige Wohnung gesucht haben. Daß einst der König zu
den Nachbarn zählte und nun der Staatspräsident nebenan seinen
Sommersitz hat, sprach für die Lage, auch wenn die Gegend einen unwirtlichen
Namen trägt: „Infernetto“, „Höllchen“ heißt die Gegend.
Trüge der Name des Weges nicht einen Akzent, die Wohnung Öcalans
läge zu allem Überfluß noch in der Straße des Bösen.
Die Ruhe ist hin in der Via Malé. Wer zu seinem Haus will, muß
sich ausweisen und durchsuchen lassen. „Eine peruanische Alitalia-Stewardeß
hat es besonders schwer“, erzählt Enzo Massari, der in der Nähe
einen Gemischtwarenladen führt. Aufgrund der Hautfarbe werde sie genauer
beobachtet als die anderen Nachbarn. Vor Massaris Laden kreuzen Polizeipatrouillen,
ihren Kaffee holen sie sich in der Bar gegenüber. Wie lange noch?
Der Diensthabende denkt nicht lange nach: „Ich wäre froh, wenn sie
ihn heute Nacht wegbrächten“, sagt er.
Daß Öcalan nach Italien gekommen ist, liegt in erster Linie
an der Zusammensetzung der Regierung. Ein deklarierter Kommunist ist Justizminister
einige Abgeordnete von Rifondazione Comunista hatten Öcalan sogar
in seinem syrischen Exil besucht. Einer von ihnen begleitete ihn später
von Moskau nach Rom. Daß italienische Parlamentarier aller Couleur
das kurdische Exilparlament im Herbst zu einer Begegnung in den Räumen
des italienischen Parlaments geladen hatten, verstärkte noch den Eindruck,
in ein befreundetes Land zu kommen. Doch auch abseits der linken Sphäre
der Politik überwiegen die Sympathien für die kurdische Sache
die Skepsis gegenüber dem PKK-Führer.
Etwa eine Million Italiener sind im sogenannten „Volontariato“ organisiert,
in Organisationen, deren Mitglieder ihre Freizeit irgendeinem guten Zweck
verschrieben haben. Auf der Seite der Schwächeren zu stehen, in diesem
Fall also der Kurden, versteht sich für solche Gruppen von selbst.
Die türkische Strategie, Kurden mit der PKK zu identifizieren um ihren
Kampf zu diskreditieren, hilft nun paradoxerweise der PKK und erweist sich
für Ankara als Bumerang.
„Entweder man ist für die Regierung oder für die PKK“, beschreibt
Dino Frisullo die Alternative, vor die sich türkische Kurden gestellt
sehen. Dino Frisullo weiß besser als andere, wovon er spricht, wenn
es um Kurden und ihre Behandlung in der Türkei geht. Als Teilnehmer
an einer Demonstration wurde der italienische Aktivist im Sommer in der
Türkei verhaftet und mit 35 Kriminellen gemeinsam in einer Zelle gesteckt.
„Die Regierung wollte an mir ein Exempel statuieren“, erzählt der
Sekretär der Menschenrechtsorganisation „Senza Confine“ (Grenzenlos).
Daß sich die italienische Regierung für ihn eingesetzt hat,
dürfte ihm zwei bis drei Jahre verschärfter Haft erspart haben,
glaubt Frisullo. „Einen Tag vor dem Prozeß kam ich frei.“
Eine Anzeigenkampagne
Ganz wirkungslos blieben die Bemühungen der türkischen Regierungen
freilich nicht. Gleich nach Öcalans Landung in Rom publizierten italienische
Zeitungen Auszüge aus einer amerikanischen Drogenstudie, die enge
Verbindungen zwischen PKK und dem Drogengeschäft in Europa herstellt.
Die Regierung Yilmaz half noch nach.
Eine teure Anzeigenkampagne in italienischen Medien zeigt ein Kind,
bedroht von einer Heroinspritze: „Wenn wir den Terrorismus stoppen, können
wir diese Spritze aufhalten“, verrät der Text, dessen ganzseitige
Publikation türkische Handels- und Industrieverbände bezahlen.
Triumphierend halten italienische Sympathisanten dem ein deutsches Dokument
entgegen, das Zweifel an diesen Vorwürfen anmeldet. Das Papier stammt
vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden, relativitiert diese Anschuldigungen
gegen die PKK und beschuldigt die türkische Regierung der Instrumentalisierung
des Themas Drogenhandel. Der „Rauschgiftkurier“, eine regelmäßig
erscheinende interne Publikation der Abteilung „Allgemeine und Organisierte
Kriminalität“ des BKA befaßte sich 1997 mit dem Drogenhandel
aus der Türkei. „Die türkischen Behörden sind stets
darum bemüht, Bezüge der PKK zum RG-Handel herzustellen“, schreibt
das BKA. „Das führt soweit, daß bei jeder Sicherstellung, mag
sie auch noch so klein sein, ein Zusammenhang mit der PKK behauptet wird,
auch wenn dieses nicht klar und eindeutig belegt werden kann.“
Wohl profitiere die PKK indirekt vom Rauschgifthandel, da reichen Dealern
höhere „Spenden“ für die Partei abverlangt würden. Daraus
ließe sich allerdings bloß schließen, daß die PKK
über den Handel Bescheid wissen müsse. „Eine gezielte Steuerung
von Rauschgiftgeschäften zum Zwecke der Finanzierung der eigenen Organisation
durch PKK-Führungskader konnte bisher jedoch in keinem Fall nachgewiesen
werden“, steht in dem Bericht.
Derzeit gibt es jedoch vordringlichere Sorgen als die Zerstreuung dieser
nicht nur amerikanischen Vorbehalte:
Am Montag ist ein französischer Richter mit einem italienischen
Kollegen ohne Vorankündigung im „Infernetto“ aufgetaucht. Drei Stunden
lang ließ er die Wohnung Öcalans durchsuchen, Telefonnummern
beschlagnahmen, Notizen und Aufzeichnungen. Er sucht nach Indizien, daß
Öcalan französische Kurden zur Erpressung von Spendengeldern
ermuntert haben soll. Das ERNK sieht in dem Besuch ein Störmanöver
in der heiklen Entscheidungsphase über den internationalen Gerichtshof.
Für sie ist der Richter schlicht „ein Feind der Kurden“. Bürochef
Mehmet Balci spricht von einer „politischen Attacke“.
Europa wirft er vor, außer der Verfassung von Resolutionen nichts
zur Lösung des Kurdenproblems beigetragen zu haben. „Sie haben nie
ernsthaft versucht, Druck auf die Türkei auszuüben“, zum Schutz
der eigenen Interessen. „Diese Politik ist gescheitert“, sagt Balci und
schaut zur PKK-Fahne, die schlaff vom Balkon baumelt. Kurdistan mißt
100 Quadratmeter.