Gerechtigkeit auf Anfrage in Straßburg
Die Arbeit des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs
Von Joachim Widmann
STRASSBURG, im Dezember. Im Fall Leyla Zanas hat die Türkei gegen
die europäische Menschenrechtskonvention verstoßen, urteilte
der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Die
Türkei zahlte ohne Verzug eine Entschädigung. Sie hat auch hingenommen,
daß das Ausradieren kurdischer Dörfer, überlanges Polizeigewahrsam
und Folter nach Ansicht des Gerichts gegen die Grundsätze verstoßen,
die jedes Mitglied des Europarates zu respektieren garantiert. Doch
sitzt die kurdische Politikerin und Menschenrechtsaktivistin Zana noch
immer als „Terroristin“ im Gefängnis, in Kurdistan herrscht Gewalt,
und Häftlinge bleiben der Willkür ausgesetzt.
„Es besteht kein Anlaß zu mangelnder Befriedigung über die
Dinge, die wir erreichen können“, meint der Präsident des Menschenrechtsgerichtshofs,
Luzius Wildhaber. Von seinem lichtdurchfluteten Büro im futuristischen
Palais des Droits de l’Homme aus leitet der Schweizer ein Gericht ohne
Exekutive. Der Straßburger Gerichtshof kommt dennoch als einzige
internationale Instanz der Vision eines Weltgerichts zur Durchsetzung der
Menschenrechte nahe. Wer in einem der 40 Mitgliedsländer des
Europarates nicht sein Recht bekommt, kann in Straßburg Beschwerde
führen.
Wird deshalb etwa in der Türkei weniger gefoltert? „Selbstkritikfähigkeit
müssen wir unbedingt haben“, räumt Wildhaber ein. Die Urteile
des Gerichts sind zwar bindend. Tausende Kläger erhielten Entschädigungen;
viele Länder, darunter Deutschland, mußten sich von Rechtsnormen
verabschieden, die gegen die Europäische Menschenrechtskonvention
von 1950 verstoßen hatten. Doch da die Straßburger Richter
nur auf Antrag tätig werden können, haben sie nur eine sehr durchlässige
Barriere gegen die Verletzung von Menschenrechten errichten können.
Gemeinsame Prinzipien
Wie die UN-Deklaration der Menschenrechte von 1948 war die Europäische
Menschenrechtskonvention vom „Nie wieder!“ der unmittelbaren Nachkriegszeit
motiviert. Der Europarat wurde 1949 als institutionalisierte diplomatische
Alternative zu bewaffneten Konflikten gegründet. Seine Konventionen,
rund 150, haben viele politische Kontroversen gelöst, indem sich die
Europarats-Mitglieder auf gemeinsame Prinzipien einigten. Der Rat
hat keinen Vorsitzenden und keine Macht, die Konventionen durchzusetzen.
Strafen kann er nur durch Ausschluß. Er hat noch nie zu diesem Mittel
gegriffen.
Diplomatie braucht Zeit. „Wir können nicht alles auf einmal tun,
und es ist aufs Ganze gesehen wohl besser, wenn wir nicht versuchen, alles
auf einmal zu verbessern:
So können alle unsere Urteile mittragen“, beschreibt Wildhaber
den Beitrag des Gerichts zur Mission des Europarats. Der Richter setzt
auf dieses Prinzip: „Letzten Endes halten wir die große Linie ein.
Es wäre auch beleidigend für die Staaten, wenn wir sie in Kategorien
einteilen würden und etwa sagten, bei euch da müssen die Gefängnisse
nicht so gut ausgestattet sein...“