Von Martina Doering
Abdullah Öcalan, Chef der Kurdischen Arbeiterpartei
(PKK) und gesuchter Terrorist, muß gute Berater gehabt
haben, die ihm Italien als Ort für eine ärztliche Behandlung
empfahlen. Italien war durch Verfassung und
Vorbehaltsklauseln in internationalen Konventionen
gehindert, den PKK-Chef an die Türkei auszuliefern. Die
Wahrscheinlichkeit, daß Deutschland die Auslieferung
beantragen würde, war gering. Nun ist der Chef der PKK
auf freiem Fuß, und Italien sucht einen Ort, wohin er
abgeschoben werden kann.
Zurück bleibt das "kurdische Problem", das Öcalan
virtuos mit dem seinen zu verknüpfen verstanden hat. In
Italien hatte er angekündigt, er wolle die Führung der
PKK abgeben. Als Gründe dafür kursieren zwei
Versionen. Diejenige Öcalans ist, daß er den Weg frei
machen wolle für eine Erneuerung der Bewegung, so daß
diese fortan den Kampf gewaltfrei fortsetzen könne.
Kenner der kurdischen Guerilla jedoch sehen dahinter das
Ergebnis eines internen, erbitterten Streits in der PKK um
die Führung, bei dem es auch um den Profit aus dem
Drogenhandel geht, der über das Kurdengebiet
abgewickelt wird. Angeschlagener Wolf oder friedfertiges
Lamm? Welche Version auch stimmen mag – belegt ist,
daß die von Öcalan geführte Bewegung ihr eigenes Volk
drangsaliert, terrorisiert und mit dem Slogan "Kampf um
Selbstbestimmungsrecht" instrumentalisiert hat.
Verpaßte Chancen
Die Kurden sind mit knapp 20 Millionen Menschen das
größte Volk, dem es beim Zusammenbruch des
Osmanischen Reiches nicht gelang, einen eigenen Staat
herauszuschlagen. Sie leben aufgeteilt auf Irak, Iran und
Syrien. Der größte Teil von ihnen aber siedelt in der
Türkei, wo das kurdische Volk weitgehend von der
Modernisierung der Gesellschaft unberührt blieb: Feudale
Clan-Strukturen bestehen bis heute ebenso fort wie
sklaverei-ähnliche Produktionsverhältnisse und
Abhängigkeiten von Großgrundbesitzern.
Daß der Kampf um das Selbstbestimmungsrecht heute
internationale Beachtung findet, ist das Ergebnis von zwei
sich bedingenden Faktoren: den politischen Bewegungen
der Kurden sowie der repressiven Kurden-Politik
Ankaras.
Um aus dem bunten, osmanischen Vielvölkergemisch eine
Nation zu machen, negierte Staatsgründer Atatürk, als er
die türkische Republik aus dem Boden stampfte, nicht nur
das Vorhandensein von Minderheiten. Er ließ auch alle auf
Ethnien basierenden Forderungen unterdrücken. Das
politische Dogma, demzufolge die Gewährung autonomer
Rechte eine Gefahr für die Einheit und den Bestand des
Staates ist, blieb bis heute unverändert gültig. Er könnte
jedoch nur unter zunehmender Gewaltanwendung
durchgesetzt werden. Dabei wurden und werden bis auf
den heutigen Tag Menschenrechte massiv verletzt.
Für die Türkei ein Tabu-Thema
Der türkische Staat suchte erst gar nicht nach einer
friedlichen Lösung, weil die Existenz des Problems
verneint wurde. Das Thema gilt als Tabu. Inzwischen wird
das Kurden-Problem in der Türkei zwar nicht mehr nur
als reines "Terror-Problem" gesehen, sondern auch – und
zu Recht – als eine Konsequenz der Unterentwicklung der
nordöstlichen Gebiete des Landes, dem
Hauptsiedlungsgebiet der Kurden. Weit entfernt ist der
türkische Staat jedoch davon, den Kurden Autonomie
und die damit verbundenen Rechte zuzugestehen. Das
sind zum Beispiel, eigene Lokalparlamente wählen zu
können, ihre Kultur zu pflegen sowie die Einführung des
Kurdischen als offizieller Sprache in Behörden oder dem
Bildungswesen. So legitim dieses Verlangen sein mag,
gerade letzteres ist jedoch nicht unproblematisch: In einer
türkisch sprechenden Gesellschaft und wegen der krassen
Unterentwicklung der Kurden-Gebiete wäre eine nur
kurdisch sprechende, junge Generation fast zwangsläufig
benachteiligt.
Die massive Unterdrückung des kurdischen Volkes
erschwert es zu beurteilen, ob sich die Mehrheit der
politisierten Kurden mit autonomen Rechten
zufriedengeben würden oder ob sie einen eigenen Staat
verlangen.
Die letzte Welle von Staatsgründungen hat die Welt nach
dem Zusammenbruch des Ost-Blocks erlebt. Sie erfaßte
das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und den Balkan.
Das Ergebnis – Bürgerkrieg, wirtschaftlicher Niedergang
und Chaos – ist bekannt. Nur durch die Auflösung der
Türkei, steht zu befürchten, könnte für die Kurden
der
Traum von einem eigenen Staat in Erfüllung gehen. Die
damit unweigerlich einhergehende Destabilisierung aber
würde nicht nur die Türkei erfassen. Niemand, auch nicht
die Kurden selbst, sollten daran eine Interesse haben.
(Berliner Zeitung, 22.12.98)