Die angebliche Entführung von sechs Jugendlichen aus
                      Hannover und Celle durch die PKK entpuppt sich als Ente.
                      Sie hatten freiwillig an Schulungen für den kurdischen
                      Befreiungskampf teilgenommen

                      Aus Hannover Jürgen Voges

                      "Anzeigen nach dem Verschwinden kurdischer Jugendlicher hatten
                      wir in den vergangenen Jahren immer mal wieder", sagt der
                      hannoversche Oberstaatsanwalt Nikolaus Borchers. Da habe man
                      oftmals mit erheblichem Aufwand ermittelt und natürlich wie auch in
                      den beiden jüngsten Fällen in alle Richtungen, "auch in Richtung
                      Entführung durch die PKK", sagt der Pressesprecher der
                      Staatsanwaltschaft in Hannover.

                      Für die beiden jüngsten Ermittlungsverfahren in Hannover und vier
                      weitere in Celle aufgrund angeblicher PKK-Entführungsfälle hatte
                      vor 14 Tagen die Göttinger Gesellschaft für bedrohte Völker
                      gesorgt, die in einem offenen Brief um Hilfe bei der Befreiung der
                      "entführten Jugendlichen von 14 bis 17 Jahren" bat, um sie vor dem
                      Tod "im bewaffneten Kampf im Südosten der Türkei" zu bewahren.

                      Inzwischen sind die sechs Jugendlichen, mit deren Verschwinden
                      sich die Staatsanwaltschaften in Hannover und Celle zu befassen
                      hatten, wieder aufgetaucht. In der vergangenen Woche gaben die
                      vier jungen Frauen und zwei jungen Männer gemeinsam mit
                      Vertretern der Föderation Kurdischer Vereine in Deutschland
                      (Yek- Kom) in Hannover eine Pressekonferenz, auf der sie sich
                      zum kurdischen Befreiungskampf bekannten. An einem
                      unbekannten Ort in Deutschland hätten sie mit Hilfe einer
                      kurdischen Jugendorganisation Bücher über die Geschichte des
                      kurdischen Volkes gelesen und sich über den Krieg gegen die
                      Türkei informiert, sagten sie, wollten sich aber über den Ort und die
                      näheren Umstände der Schulungen, die in Deutschland wohl unter
                      das PKK-Verbot fallen, nicht äußern.

                      Auf weit über 10.000 schätzt der Sprecher von Yek-Kom, Zetin
                      Kocak, die Zahl der organisierten kurdischen Jugendlichen in
                      Deutschland. Die Schulungen oder Lehrgänge, die für diese jungen
                      Frauen und Männer organisiert werden, finden nach Angaben des
                      niedersächsischen Innenministeriums vor allem in Belgien und
                      Holland statt, wo die PKK nicht verboten ist. Es gebe keine
                      Hinweise dafür, daß in den beiden Nachbarländern mit Waffen für
                      den Guerillakrieg in Kurdistan trainiert werde. Die militärische
                      Ausbildung von Jugendlichen finde im Nahen Osten statt, sagt
                      Ministeriumssprecher Jürgen Wittenberg.

                      Auch einer der Jugendlichen auf der Pressekonferenz hat
                      angegeben, daß er nach seinem Verschwinden in den Niederlanden
                      war. Gegen seinen Willen sei er von seinem Vater aus Rotterdam
                      nach Hannover zurückgeholt worden, sagte der 17jährige.
                      Anschließend sei er aus freien Stücken wieder von zu Hause
                      weggegangen.

                      Strafrechtlich relevant sind die Schulungen in kurdischem
                      Nationalismus und Befreiungskampf auch dann nicht, wenn sie
                      gegen den Willen der Eltern stattfinden. Anhaltspunkte für
                      regelrechte Entführungen, dafür, daß "Gewalt angewandt worden
                      ist", hätten sich bei den Ermittlungen in Hannover nie ergeben, sagte
                      der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft. Auch eine
                      Kindesentziehung würde nur dann vorliegen, wenn die Jugendlichen
                      mit Drohung, List oder Gewalt zu den Schulungen bewegt worden
                      wären. "Nach unseren Ermittlungen wußten die Jugendlichen
                      jedoch ganz genau, auf was sie sich da eingelassen haben", sagt
                      Oberstaatsanwalt Borchers. Daß die Jugendlichen dabei gegen den
                      Willen der Eltern handeln, sei anders als bei Kindern unter 14
                      strafrechtlich nicht relevant.

                      Dennoch bleibt für den Sprecher der Staatsanwaltschaft bei den
                      angeblichen Entführungsfällen "ein bitterer Nachgeschmack", der
                      Eindruck, daß "manche Jugendliche manchmal leicht zu verführen
                      sind und dann in einem Mechanismus hineingeraten, dessen
                      Konsequenzen sie nicht von vornherein überblicken".

                      Die sechs Ermittlungsverfahren hat jetzt die Staatsanwaltschaft
                      Lüneburg an sich gezogen. Sie ist für Ermittlungen zuständig, die
                      illegale Tätigkeit für die PKK zum Gegenstand haben. Daß
                      Jugendliche gegen den Willen der Eltern die Schulung für den
                      Befreiungskampf der deutschen Schulpflicht vorziehen, hat nach
                      Auffassung der Bremer Rechtsanwältin Renate Schultz oftmals auch
                      etwas mit den autoritären Strukturen in kurdischen Familien zu tun.
                      In vielen Familien yezidischen Glaubens, so sagt die Anwältin, die
                      häufig den yezidischen Verein in Celle vertritt, würden die Eltern
                      schon für nicht einmal 14jährige Kinder die künftigen Eheparter
                      bestimmen. "Der Druck in diesen Familien ist oft stark, und die
                      Jugendlichen suchen nach Wegen, um aus den engen
                      Familienverhältnissen auszubrechen", beschreibt die Rechtsanwältin
                      die Motive der jugen Frauen und Männer.

                      Daß die Eltern der sechs zeitweise verschwundenen Jugendlichen
                      schließlich Vermißtenanzeige erstatteten, führt die Bremer Anwältin
                      zum Teil auch auf den Druck der Jugendämter zurück. Die
                      Jugendlichen wären zunächst in der Schule vermißt worden, und
                      dann hätten die Behörden sich wegen der Verletzung der
                      Schulpflicht an die Eltern gewandt.

                         TAZ, 22.12.1998