Öcalan als Symbol für eine kurdische Befreiung
Die ungelöste Kurdenfrage beschäftigt Europa
Seit der Ankunft des Chefs der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah
Öcalan, in Rom ist das Interesse am
Kurdenproblem wieder erwacht. Die türkische Regierung betrachtet
die Kurdenguerilla als Terroristenorganisation und fordert
die Auslieferung Öcalans. Im nachstehenden Beitrag zeichnet der
im kurdischen Nordirak gebürtige, seit 1981 in Deutschland
lebende Autor Namo Aziz den Weg der PKK nach. Aus einer Protestpartei
habe sich, so seine These, eine breite Bewegung
entwickelt, deren Führer heute eine Symbolfigur für die Befreiung
aller Kurden sei.
In Rom hat die Ankunft Öcalans mehr bewirkt, als dass der Versammlungsort
der Kurden zum Kurdistan-Platz umbenannt wurde. In
einem Café begegnen mir Leute, lächelnd und mit hellen
Augen, deren Leuchten die verwaschenen Farben ihrer Kleidung vergessen
macht. Es sind Kurden aus ganz Europa. Den Dialekt einiger verstehe
ich nur mit Mühe. Viele von ihnen haben noch nie etwas mit der
Kurdischen Arbeiterpartei PKK oder mit Öcalan zu tun gehabt. Mit
einem Male wollen alle wissen, was sie für die PKK tun können,
welche Unterstützung sinnvoll wäre. Heute ist nichts von
der inneren Zerstrittenheit der Kurden zu spüren. Es scheint ein kurdisches
Nationalbewusstsein entstanden zu sein, wie es in Jahren des Kriegs
nie erreicht wurde; ohne einen Tropfen Blut zu vergiessen.
Ein Volk ohne Staat
Aufgeteilt auf die Staaten Iran, Irak, Syrien und die Türkei, leben
25 Millionen Kurden in der Region. Mehrere Millionen sind im Exil,
allein in Deutschland beläuft sich ihre Zahl auf eine knappe halbe
Million. Seit der Etablierung der nahöstlichen Nationalstaaten ist
die
Gründung eines Kurdenstaats immer weiter in die Ferne gerückt.
Staatsgrenzen teilen ein Volk, das erst um die Jahrhundertwende
begonnen hat, sich als Nation zu verstehen. Der Grossteil der Kurden,
etwa 15 Millionen, lebt in der Türkei; jeder vierte Bewohner der
Türkei ist kurdischer Abstammung. In der Doktrin Atatürks
aber ist die Türkei ein Staat für Türken und bietet Minderheiten
nur dann eine
Zukunft, wenn sie im Vielvölkerstaat ihre eigene Nationalität
und Kultur verleugnen. Dazu gehören vor allem auch Kurden, von denen
heutzutage die meisten weit entfernt vom heimatlichen Südosten
in explosiv wachsenden Slumvierteln der westtürkischen Grossstädte
leben.
Vor zwanzig Jahren entstand eine Organisation, deren wachsende Anhängerschaft
sich auf nichts anderes berief, als dass der Begriff
Kurde zum Stempel des Elends geworden war und einer Beschimpfung gleichkam.
Kurde zu sein wurde zu einer Parole, die Millionen
täglich erduldete Demütigungen realisieren und sie solidarisch
handeln liess. Mit vagen marxistisch-leninistischen Ideen gelang es dem
Gründer der Organisation, Öcalan, die unter den Kurden stark
ausgeprägten Stammesstrukturen zu überwinden und seine Anhänger
durch ein nationales Selbstbewusstsein zu einigen. Aus der Partiya
Karkeren Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistan), die mit markigen
Worten von revolutionärem Kampf und einem unabhängigen Kurdistan
ursprünglich eine Randposition im Gewirr der Parteienlandschaft
innehatte, entwickelte sich im Laufe der Jahre eine breite Bewegung.
Zugute kam ihr dabei die steigende Arbeitslosigkeit. Doch auch die
zunehmende Härte des Kriegs in Südostanatolien trieb viele
Kurden in die Guerilla. Die PKK entwickelte sich in der Türkei zum
Staatsfeind Nummer eins in einem Krieg, der bisher acht Milliarden
Dollar gekostet haben soll.
Die Zeiten der Gewalt haben ihre Spuren sowohl an der Partei als auch
ihrem Gründer hinterlassen. Eine ideologische Zuordnung lässt
sich nur schwer vornehmen. Am ehesten kann man Öcalan heute als
pragmatischen Sozialisten einordnen. Von dem ursprünglichen Ziel
eines kurdischen Staates ist er weit abgerückt. Seit 1993 propagiert
er eine föderalistische Lösung innerhalb der türkischen
Staatsgrenzen
der Türkei sowie die Notwendigkeit eines Waffenstillstandes. Bisher
reagierte die türkische Regierung ablehnend mit der Begründung,
mit
einem Terroristen liesse sich nicht verhandeln. In Rom hat Öcalan
erneut seinen Gewaltverzicht bekräftigt, eine föderalistische
Lösung
gefordert und den politischen Dialog als Weg der Einigung angeboten.
Von europäischem Boden aus fanden diese Worte nun ein Echo.
Ungebrochener Zulauf
Zunehmend wird deutlich, dass die PKK längst nicht mehr die Aussenseiterposition
innehat, die ihr jahrelang zugeschrieben wurde. Sie
ist, wie Demonstrationen von Bonn bis Tokio zeigen, zum Symbol des
kurdischen Freiheitskampfes geworden. Alle anderen kurdischen
Parteien in der Türkei haben sich inzwischen hinter die Forderungen
Öcalans gestellt. Dem stehen allerdings die in türkischen Zeitungen
verbreiteten Meldungen gegenüber, wonach die PKK militärisch
besiegt sei. Derzeit zählt man in der Türkei etwa 20 000 aktive
PKK-Mitglieder. Der Zulauf scheint ungebrochen zu sein. Traditionelle
Feste wie Hochzeiten und Beschneidungen gestalten sich heute
unter Kurden häufig zu Unterstützungsanlässen für
die Partei, wo finanzielle Zuwendungen fliessen. Längst verfügt
die PKK über
leistungsfähige Waffen und ist in der Lage, sich gegen Panzer-
und Flugzeugangriffe zur Wehr zu setzen.
In der von den Golfkriegsalliierten errichteten Schutzzone im Nordirak
leben die rund sechs Millionen irakischen Kurden politisch und
wirtschaftlich weitgehend abgekoppelt von Bagdad. Allerdings zeichnet
sich keine international anerkannte Lösung für ihre Autonomie
ab.
Seit 1992 bestimmen zwei Parteien die politische Landschaft: die im
Norden dominierende Demokratische Partei Kurdistans (DKP) von
Masud Barzani sowie die vorwiegend im Süden vertretene Patriotische
Union Kurdistans (PUK) unter Jalal Talabani. Die beiden
Parteien trennt eine seit Jahren dauernde, oft blutige Rivalität.
Im vergangenen Oktober fanden in den USA Gespräche zwischen Barzani
und Talabani statt. Die dabei erzielte Einigung sieht vor, dass die
DKP bis zu regionalen Neuwahlen im Sommer 1999 als regierende
Partei anerkannt wird und die PUK die Oppositionsrolle übernimmt.
Im Gegenzug soll Barzani Einkünfte aus Zöllen in der Höhe
von
15 Millionen Dollar an Talabani weiterleiten. Die USA haben weitere
fünf Millionen Dollar für alle irakischen Oppositionsgruppen
zur
Verfügung gestellt.
Solidarität der iranischen Kurden
Die DKP hat sich grundsätzlich mit den Zielen der PKK einverstanden
erklärt. Als Bedingung gilt allerdings, dass PKK-Kämpfer im
Nordirak sich nur ohne Waffen bewegen dürfen. Während der
vergangenen Jahre sind türkische Truppen in ihrem Vorgehen gegen die
PKK mehrfach in den Nordirak vorgedrungen. Als Folge davon wurden weite
Gebiete vermint und Zivilisten gerieten unverschuldet in
die Auseinandersetzungen. Die Ziele der PKK werden neuerdings auch
von der PUK unterstützt. Weiter erklärten sich die beiden
wichtigsten iranischen Kurdenbewegungen mit den Zielen der PKK solidarisch.
Öcalans Anwesenheit in Rom hat das kurdische Problem zu einem
europäischen Thema werden lassen. Europa ist gefragt, zu einer
dauerhaften Lösung in einem Gebiet beizutragen, aus dem Jahr für
Jahr Tausende von Personen nach Norden fliehen. Öcalan ist beinahe
über Nacht zum Symbol des Befreiungskampfes aller Kurden geworden.
Er ist es aber auch, der eindringlich zur Beendigung des
bewaffneten Kampfes aufgerufen hat. Ohne ihn, so versichern die Kurden,
wird es keinen Frieden geben.