Starre Position Ankaras im Kurdenkonflikt
Fehlende Bereitschaft zum Dialog - Kritik am Westen
Seit der Flucht des Kurdenchefs Abdullah Öcalan nach Italien ist in der Türkei eine sachliche Diskussion über die Kurdenfrage noch schwieriger geworden. Verschwörungstheorien machen in Ankara die Runde und verstärken die alten Ängste der türkischen Bevölkerung, Europa wolle, genauso wie vor einem Jahrhundert, das Land spalten.
it. Ankara, Mitte Dezember
Der türkische Justizminister, Hasan Denizkurdu, kann seine europäischen
Kollegen bei der Handhabung des Falls Öcalan nicht mehr verstehen.
Deutschland stelle einen internationalen Haftbefehl aus, weigere sich dann
aber, den Gesuchten zu übernehmen, sagt er verwundert im Gespräch.
Rom habe gegenüber Ankara bestätigt, Öcalan sei verhaftet
worden, um ihn an Deutschland auszuliefern.
Anstatt das Verfahren der Auslieferung in Gang zu setzen, werde in
Rom darüber debattiert, ob dem Terroristen Öcalan politisches
Asyl gewährt oder ob ihm der Prozess vor einem internationalen Gericht
gemacht werden solle. Aus Sicht der Türkei haben beide Nato-Alliierten
im Fall Öcalan versagt.
Notwendigkeit einer Rechtsreform
Der Justizminister bezeichnet die Auslieferung Öcalans an die
Türkei als einzige akzeptable Lösung. Öcalan sei als Kopf
der Terrororganisation Kurdische Arbeiterpartei (PKK) für den Tod
von 30 000 Personen verantwortlich. Einen Prozess gegen Öcalan vor
einem internationalen Gericht lehnt der Justizminister ab. Weder er noch
das türkische Volk hätten Vertrauen in ein internationales Gericht.
Das Argument, dass die italienische Verfassung die Auslieferung in ein
Land untersagt, in dem die Todesstrafe verhängt wird, will er nicht
gelten lassen. Die türkische Regierung könne garantieren, dass
die Todesstrafe gegen Öcalan nicht vollstreckt werde. Dieses Versprechen
sollte Rom eigentlich genügen.
Die Stimme des Justizministers wird schärfer, sobald das Gespräch
auf die kurdische Bevölkerung kommt. In der Türkei gebe es kein
Problem zwischen Türken und Kurden, behauptet er. Der Parlamentspräsident,
Hikmet Cetin, sei ein Kurde und der vorherige Staatspräsident, Turgut
Özal, habe kurdische Wurzeln gehabt. Zudem gebe es zahlreiche gemischte
Ehen zwischen Kurden und Türken. Dass die Kurden hohe Posten im Staat
nur dann erhalten, wenn sie ihre eigene Kultur verleugnen und dass Artikel
81 der Verfassung eine andere ethnische Identität ausser der türkischen
nicht zulässt, übergeht der Minister. In der Türkei gebe
es nur ein einziges Problem, nämlich die Existenz einer separatistischen
Bewegung, die das Land spalten wolle, sagt Denizkurdu. Dann verliert er
sich für kurze Zeit in Verschwörungstheorien, die in dieser Zeit
der tiefen sozialen und politischen Krise in Ankara wieder salonfähig
sind. Die «Kurdistan-Idee» sei in den Köpfen einiger «westlicher
Freunde» entstanden, die eine starke Türkei aus strategischen
Gründen in dieser Region nicht wünschten, betont er.
Die Äusserungen des Justizministers mögen die Erwartungen
europäischer Politiker enttäuschen. In der Türkei ist Denizkurdu
aber kein Falke; ganz im Gegenteil. Der ehemalige Abgeordnete der konservativen
Partei des Rechten Weges, der heute parteiunabhängig ist, gehört
zu jenen Reformern, die darauf drängen, das türkische Rechtswesen
zu europäisieren, um auf diese Weise die grossen sozialen Probleme
des Landes zu entschärfen. Zu seinen Visionen gehört etwa eine
neue Verfassung. Von der Modernisierung des Straf- und Zivilgesetzes verspricht
er sich zudem, dass die Unabhängigkeit der Justiz sowie die Meinungsfreiheit
gewährleistet werden. Erst die Reform des Rechtswesens werde eine
Lösung für die Probleme aller Bürger bringen, auch für
jene der Kurden.
Europas historische Krankheit
Der Generalsekretär der regierenden konservativen Mutterlandspartei
(Anap), Erkan Mumcu, lehnt sich in seinen Ledersessel zurück, als
wolle er seine Wut über die Frage nach einer akzeptablen politischen
Lösung des Kurdenkonflikts verbergen. Es mache ihn traurig, von Westeuropäern
dauernd als Menschenfresser angesehen zu werden, welcher nötigenfalls
auch mit Gewalt zivilisiert werden müsse, sagte der 35jährige
Politiker. Europa definiere sich gerne als ein Herrschaftszentrum, das
nichtchristlichen Ländern seine Vorstellungen von Demokratie, Menschenrechten
und moderner Staatsführung aufzwingen könne. Es handle sich dabei
um eine «historische Krankheit» Europas.
Von einer Kurdenfrage in der Türkei will auch Mumcu nichts wissen.
Anatolien sei von alters her ein Schmelztiegel verschiedenster Völker.
Da hätten Kurden, Türken und Tschetschenen über tausend
Jahre friedlich miteinander gelebt. Streitigkeiten zwischen ihnen seien
erst aufgekommen, als um die Jahrhundertwende die damaligen europäischen
Mächte die ethnischen Unterschiede politisch instrumentalisiert hätten.
Dass der erste Aufstand in der kurdischen Region 1925 ausbrach, als Ankara
und London um die ölreichen Provinzen Kirkuk und Mossul verhandelten,
ist für den konservativen Politiker kein Zufall. Er hegt den Verdacht,
Europa wolle mittels der sogenannten politischen Lösung der Kurdenfrage
die Türkei spalten. Die Europäer akzeptierten einerseits eine
Terrororganisation als politischen Gesprächspartner und verlangten
anderseits von der Türkei die Einhaltung der Menschenrechte, empört
sich Mumcu. Der Fall Öcalan hat die Distanz der türkischen Konservativen
zu Europa unübersehbar vergrössert.
Die fünf grössten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände
des Landes werden im Volksmund «die fünf Reiter der Apokalypse»
genannt, nachdem sie als zivile Organisationen den von der Armeeführung
initiierten Sturz der proislamistischen Regierung Erbakan mit Streiks und
Demonstrationen mitgetragen hatten. In der Türkei gebe es keine Türken-
oder Kurdenfrage, sagt auch der Gewerkschaftsführer Semsi Denizer.
Öcalan sei ein Mörder; er sei verantwortlich für den Tod
von 30 000 Personen, wiederholt er die offizielle Verlautbarung. Laut der
offiziellen Statistik aus dem Büro des Gouverneurs im Gebiet des Ausnahmezustands
sind in den letzten 14 Jahren 30 046 Personen umgekommen. Zwei Drittel
von ihnen waren Mitglieder der PKK und wurden von den Sicherheitskräften
getötet. Ferner fielen 4399 Zivilisten dem schmutzigen Krieg zum Opfer.
Rund 700 von ihnen gehen auf die Rechnung der PKK. Wer die übrige
Morde verübt hat, ist ungeklärt. Diese Angaben scheinen aber
den Justizminister, den Generalsekretär der Anap, den Gewerkschaftsführer
und den Grossteil der türkischen Bevölkerung nicht zu interessieren.
Die Debatte, ob sich die Türkei für eine Mitgliedschaft in
der EU eigne, störe die türkischen Gewerkschaften sehr, sagte
Denizer weiter. Die Türkei sei ein demokratisches Land, das sich von
den übrigen europäischen Ländern nur in Nuancen unterscheide.
Die Europäer sollten realisieren, das die Türkei auf Europa nicht
angewiesen sei. Die Türkei sei längst in der Region des Nahen
Ostens, des Kaukasus und auf dem Balkan selbst zu einem Machtfaktor geworden.
Das «osmanische Syndrom»
Der islamistische Intellektuelle Ismail Nacar zeigt sich angesichts
der jüngsten Entwicklungen pessimistisch. Sowohl die Behörden
als auch die Bevölkerung würden jedem, der eine politische Lösung
der Kurdenfrage fordere, böswillige Absichten unterstellen. Die türkische
Gesellschaft sei davon überzeugt, dass der Westen Pläne schmiede,
um aus Öcalan einen zweiten Arafat zu machen. Unter dem Motto, im
Islam seien alle Volksgruppen gleichwertig, schienen die Islamisten zeitweilig
eine Art Alternative für die verfolgten Kurden zu bieten. Nacar war
Mitte der neunziger Jahre gar von der Regierung gebeten worden, zwischen
Ankara und den Kurden zu verhandeln. «Wir sind in jeder Hinsicht
die Erben des grossen osmanischen Reiches, das Anfang dieses Jahrhunderts
in die Brüche gegangen ist», erläutert Nacar die Unfähigkeit
der Gesellschaft, eine Lösung für den bewaffneten Konflikt zu
finden. Der Zusammenbruch werde auf ein einziges Ereignis zurückgeführt,
nämlich auf den berüchtigten Friedensvertrag von Sèvres
von 1920. Dieser hatte unter anderem die Gründung eines kurdischen
und eines armenischen Kleinstaates auf dem Territorium des auseinandergebrochenen
Osmanischen Reiches vorgesehen. Der Vertrag von Sèvres werde heute
erneut als Trauma und als Drohung empfunden, wobei die Gesellschaft Abwehrmechanismen
entwickle und jeden Weg zu einem Dialog versperre.
Der linke Herausgeber Ragip Zarakolu geht mit Ankara sehr viel härter
ins Gericht, wenn er diese Unfähigkeit zum Dialog zu erklären
versucht. Die Politik Ankaras sei vom «osmanischen Syndrom»
durchdrungen, nämlich von der falschen Annahme, alle Probleme liessen
sich unter Einsatz von Brachialgewalt lösen. Heutzutage nenne man
es die «militärische Lösung der Kurdenfrage». Um
die Wende des letzten Jahrhunderts hätten die Osmanen jede Reform-
und Nationalbewegung in den von ihnen beherrschten Territorien blutig niedergeschlagen.
Später liess die Republik jeden Versuch, die Vergangenheit zu bewältigen
und etwa die «armenische Tragödie» zu verstehen, im Keim
ersticken. Das Bild vom böswilligen Ausland, das nach der Teilung
der Türkei trachte, sei vom Staat bewusst gepflegt worden. So sei
heute ein Dialog mit Öcalan, dieser «Marionette des Westens»,
absolut undenkbar.