“Millionen rufen meinen Namen“
Der Kurdenführer Abdullah Öcalan über seinen Aufenthalt
in Italien, seinen Kampf gegen das türkische Militär und mögliche
Wege zum Frieden
SPIEGEL: Herr Öcalan, worauf müßten Sie sich gefaßt
machen, wenn Sie doch noch an die Türkei ausgeliefert würden?
Öcalan: Die Türken haben eine Kampagne gegen mich begonnen,
die auf meine Vernichtung abzielt. Es gab öffentliche Demonstrationen,
angeführt von Frauen, die sich als Mütter gefallener türkischer
Soldaten ausgaben. Sie riefen: „Wir werden das Fleisch Öcalans essen.“
Wenn man sich die türkische Presse ansieht, hat man den Eindruck,
daß mein Schicksal besiegelt ist. Fast alle Teile der türkischen
Gesellschaft machen dabei mit, sogar ein großer Teil der türkischen
Intellektuellen unterstützt diese Hetzbewegung.
SPIEGEL: Fühlen Sie sich denn in Italien sicher und hoffen Sie,
schon bald ein freier Mann zu sein?
Öcalan: Ich bin nach Europa gekommen, weil ich mich für den
Frieden entschieden habe. Meine Anwesenheit hier eröffnet die Chance,
einen Dialog zu beginnen, der Türken und Kurden aus der Sackgasse
des Kriegs herausführen kann. Der neue italienische Premierminister,
Massimo D’Alema, und der neue deutsche Kanzler, Gerhard Schröder,
wurden davon völlig überrascht. Sie wissen noch nicht, wie sie
mit mir umgehen sollen. Ich hoffe, in drei bis vier Monaten wird sich die
Situation klären.
SPIEGEL: Glauben Sie im Ernst, daß die türkische Regierung
Sie jemals als Verhandlungspartner akzeptieren und daß die Europäer
Ihnen zu einer internationalen Rolle verhelfen?
Öcalan: Ein radikaler Neubeginn ist nötig. Ich will die PKK
von Grund auf umstrukturieren. Die Macht in der Partei muß breiter
verteilt werden, es darf nicht länger alles allein auf mir ruhen.
Ich kann sogar den Vorsitz niederlegen. Das gibt mir Gelegenheit, meine
Rolle neu zu definieren.
SPIEGEL: Das wird die Türkei nicht davon abbringen, Sie weiterhin
als Staatsfeind Nummer eins zu betrachten. Solange Sie leben und politisch
aktiv sind, bleiben Sie ein Symbol für den Befreiungskampf des kurdischen
Volkes.
Öcalan: Daran würde auch mein Tod nichts ändern, im
Gegenteil. Ich versichere Ihnen, falls mir etwas zustieße, hätten
die Kurden einen Märtyrer, der sie einen würde und ihnen für
viele Generationen unvergeßlich bliebe.
SPIEGEL: Der türkische Justizminister hat Italien bestätigt,
daß Sie die Todesstrafe nicht fürchten müßten ...
Öcalan: ... das ist doch Augenwischerei. Es wird eben auf andere
Art und Weise hingerichtet, massenhaft und ohne Gerichtsurteil, von Militärs
wie von Zivilfaschisten. Die Türken behaupten, sie hätten 20
000 Kämpfer der PKK getötet. Ich sage Ihnen: Die Hälfte
dieser Leute wurde erst gefangengenommen und dann ermordet.
SPIEGEL: Ist auch die deutsche PKK-Kämpferin Andrea Wolf im Oktober
auf diese Weise getötet worden?
Öcalan: Ehre ihrem Angedenken, ich verneige mich in Hochachtung
vor dieser großen Märtyrerin. Ich wollte nicht, daß sie
nach Kurdistan in den Krieg zog. Aber sie ließ sich nicht abhalten.
Soweit wir wissen, wurde sie mit sechs weiteren Guerrilleros lebend festgenommen
und anschließend liquidiert. Die Militärs fürchteten, als
Gefangene würde Andrea Wolf eine Belastung für die deutsch-türkischen
Beziehungen sein.
SPIEGEL: Ankara hält die PKK für eine Terrororganisation,
die sich eben nur mit Anti-Terror-Maßnahmen bekämpfen lasse.
Öcalan: Die türkische Haltung ist wahnwitzig, ein normaler
demokratischer Rechtsstaat würde nie so überreagieren. Schutzlose
Kurden werden auf offener Straße angegriffen. Die Büros der
legalen kurdischen „Demokratie-Partei des Volkes“ (Hadep) wurden zerstört,
kurdische Arbeitgeber ermordet, Zeitungsredaktionen in die Luft gesprengt.
Öcalan liquidieren und die Kurden gleich mit das ist die türkische
Lösung der Kurdenfrage.
SPIEGEL: Glauben Sie, daß eine neue Regierung unter dem Sozialdemokraten
Bülent Ecevit sich maßvoller verhalten wird?
Öcalan: Ecevit ist ein Mann der türkischen Armee, ein klassischer
chauvinistischer Kemalist, noch nationalistischer als die Grauen Wölfe.
Daß ausgerechnet er mit der Bildung der neuen Regierung beauftragt
worden ist, deutet auf einen Plan hin, Kurdistan zu umzingeln.
SPIEGEL: Der noch amtierende türkische Ministerpräsident
Mesut Yilmaz behauptet, gerade Sie seien das größte Hindernis
für eine friedliche Lösung des Kurdenproblems.
Öcalan: Wenn ich damit Frieden bewirken könnte, würde
ich sofort zurücktreten. Der Haß der türkischen Machthaber
hat einen einfachen Grund. Alle Aufstände der Kurden wurden früher
in kürzester Zeit niedergeschlagen. Nur der Widerstand unter meiner
Führung hat lange gedauert und auch Erfolge verzeichnet. Yilmaz ging
sogar ein Bündnis mit Israel ein, um mich zu liquidieren. Der israelische
Geheimdienst Mossad hat alle meine Bewegungen überwacht und an die
Türkei weitergemeldet. Israel sollte aber die Massaker, die das jüdische
Volk erleiden mußte, nicht vergessen. Wir Kurden haben das gleiche
Schicksal wie die Juden.
SPIEGEL: Die italienische Regierung zögert, Ihnen Asyl zu gewähren.
Überrascht Sie diese Zurückweisung?
Öcalan: Tausende Anhänger des Befreiungskampfes der Kurden
haben in Europa Asyl bekommen. Aber ich, die Nummer eins dieses Kampfes,
soll dieses Asylrecht nicht genießen? Man kann meine Person nicht
von der Kurdenfrage trennen.
SPIEGEL: Sie können Ihrer blutigen Vergangenheit nicht entkommen.
Der italienische Außenminister Lamberto Dini hält Sie für
einen Terroristen.
Öcalan: Bei solchen Urteilen spielt leider die politische Opportunität
eine große Rolle. Worum geht es? Ein Körper ohne Kopf ist ein
Leichnam, der einfach verscharrt werden kann. Genauso wäre eine kurdische
Bewegung ohne Führung oder mit Marionetten an der Spitze leicht zu
besiegen. Europa steht vor einer großen Prüfung: Wird es Kurdistan
weiterhin als internationale Kolonie betrachten oder will es die Türkei
endlich dazu bringen, europäische Werte und Normen zu respektieren?
SPIEGEL: Italien würde Sie am liebsten so schnell wie möglich
wieder loswerden. Erfüllt es Sie mit Genugtuung, daß die neue
deutsche Regierung keinen Auslieferungsantrag stellen will?
Öcalan: Die Haltung Deutschlands ist halbherzig. Einerseits ist
es natürlich positiv, auf eine Auslieferung zu verzichten; andererseits
sind die Auslieferungsgründe nicht stichhaltig. Deshalb erwarte ich
nach dem ehrenwerten Schritt des Bundeskanzlers Schröder einen zweiten
Schritt von der Bundesanwaltschaft. Sie soll den Haftbefehl gegen mich
aufheben.
SPIEGEL: Käme es zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen
zwischen Kurden und Türken in Deutschland, wenn Sie ausgeliefert würden?
Öcalan: Die Angst davor ist berechtigt. Mich in Deutschland ins
Gefängnis zu stecken und vor Gericht zu stellen, wäre Anlaß
für unglaubliche Schwierigkeiten geworden. Sie können davon ausgehen,
daß viele Kurden sich öffentlich verbrannt oder zu Tode gehungert
hätten. Überall wären Massendemonstrationen organisiert
worden.
SPIEGEL: Und das hätten Sie angeordnet?
Öcalan: Nein, aber wahrscheinlich hätte ich diese Radikalisierung
nicht verhindern können. Millionen von Kurden unterstützen mich
heute, Millionen rufen meinen Namen. Ich kenne die Psychologie der Kurden.
Obwohl ich nicht den Befehl dazu gab, haben sich bis jetzt schon 55 Kurden
selbst verbrannt. Falls mir in Deutschland etwas Übles passierte,
würden die Kurden die politische Führung in Bonn dafür verantwortlich
machen.
SPIEGEL: Immerhin stuft die Bundesanwaltschaft seit Ende letzten Jahres
die PKK nicht mehr als terroristische Organisation, sondern als kriminelle
Vereinigung ein. Ist das für Sie ein Fortschritt?
Öcalan: Nun, es ist ein bißchen milder. Sich vor den Kurden
und der PKK zu fürchten ist widersinnig. Wer die Kurdenfrage lösen
will, muß anerkennen, daß die PKK eine wichtige Kraft ist.
Auch Deutschland wird das irgendwann so sehen. Natürlich gibt es bei
uns in der PKK auch Personen, die der Parteilinie nicht folgen und verbrecherische
Aktionen begehen. Ich bemühe mich, derlei zu unterbinden. Wer die
Entwicklung genau beobachtet, wird sehen, daß unsere Seite schon
seit geraumer Zeit keine Kriegsverbrechen in Kurdistan verübt. Auch
in Deutschland gab es keine Aktivitäten der PKK, die man als terroristisch
bezeichnen könnte.
SPIEGEL: Der deutsche Haftbefehl, der seit 1990 gegen Sie vorliegt,
wirft Ihnen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung
und die Anordnung eines Mordes an einem angeblichen Verräter 1984
in Rüsselsheim vor. Warum stellen Sie sich nicht der deutschen Justiz?
Öcalan: Wenn einige Kurden ungesetzliche Taten begangen haben,
kann ich nicht dafür verantwortlich gemacht werden. Es ist doch nicht
möglich, Öcalan für alles zur Rechenschaft zu ziehen, nur
weil er an der Spitze steht. Das wäre Sippenhaft.
SPIEGEL: Darum geht es gar nicht. Haben Sie befohlen, jemanden in Deutschland
umbringen zu lassen, ja oder nein?
Öcalan: Wer einen solchen Vorwurf erhebt, muß ihn beweisen
können. Wann und wo soll ich einen solchen Befehl gegeben haben?
Wer behauptet so etwas? Ich weiß genau, daß ich niemals angeordnet
habe, jemanden umzubringen, nicht in Europa und auch nicht anderswo.
SPIEGEL: Es gibt aber Zeugen und Überläufer aus der PKK,
die gehört haben wollen, daß Sie Mordbefehle erteilten.
Öcalan: Es gibt immer Menschen, die geständig werden, um
eine persönliche Vergünstigung zu bekommen, wenn sie in Schwierigkeiten
geraten.
SPIEGEL: Wie stehen Sie zu dem Vorschlag Schröders und D’Alemas,
einen internationalen Gerichtshof einzurichten? Wären Sie bereit,
sich vor einem solchen Tribunal zu verantworten?
Öcalan: Grundsätzlich ja. Italien wäre dafür ein
geeigneter Ort. Warum sollte für Kurdistan nicht ein ähnlicher
Gerichtshof geschaffen werden wie für das ehemalige Jugoslawien? Allerdings
müßten dann die Vergehen beider Seiten untersucht werden. Ich
wende mich nur dagegen, daß man ein Gericht einzig und allein für
Öcalan einsetzt.
SPIEGEL: Also müßten auch türkische Generäle und
Politiker vor einen internationalen Gerichtshof gestellt werden?
Öcalan: In Kurdistan sind 4000 Dörfer zerstört worden,
wenn man andere kleine Ortschaften mitzählt, sogar 6000. Auch die
Umwelt wird vernichtet, Feld- und Bauarbeiten sind völlig lahmgelegt.
Die Türkei finanzierte diesen Krieg mit schmutzigem Geld, das zu einem
großen Teil aus dem Rauschgifthandel stammt, wie in einem Untersuchungsausschuß
des türkischen Parlaments festgestellt wurde. Tausende Menschen
wurden Opfer dieses Ausrottungskriegs, Millionen mußten fliehen.
Ein internationaler Gerichtshof würde schnell feststellen, daß
es in der Türkei hundertmal mehr Kriegsverbrecher gibt als im ehemaligen
Jugoslawien.
SPIEGEL: Unter Bundeskanzler Kohl hatten sich die türkisch-deutschen
Beziehungen zuletzt drastisch verschlechtert. Was erwarten Sie von der
neuen Regierung?
Öcalan: Die Regierung Kohl hat 16 Jahre lang die Türkei unterstützt
politisch, wirtschaftlich und militärisch. Zwischen beiden Ländern
existierte ein beinahe heiliges Bündnis. Die Türkei durfte sich
aus dem Waffenarsenal der aufgelösten DDR-Armee bedienen. Diese Zeit
war für uns Kurden eine Ära der Gnadenlosigkeit. Wir wären
fast aus der Geschichte radiert worden. Ich hoffe, daß die Außenpolitik
der neuen Regierung die Menschenrechte fester im Blick hat. Kurdistan ist
dafür der beste Prüfstein.
SPIEGEL: Wie sieht Ihr politisches Endziel aus? Streben Sie einen Kurdenstaat
an, oder wären Sie mit einer föderalistischen Lösung innerhalb
der Türkei zufrieden?
Öcalan: Im türkischen Teil Kurdistans unterstützen uns
80 Prozent der Bevölkerung. Der Wille zu nationaler Einheit und Freiheit
wird immer größer. Das ist in unserer Geschichte eine einmalige
Chance. Das heißt aber nicht, daß wir die Teilung der Türkei
verlangen. Den Vertrag von Lausanne, mit dem 1923 die Türkei in ihren
heutigen Grenzen geschaffen wurde, stellen wir nicht in Frage.
SPIEGEL: Das heißt Abschied vom Traum eines eigenen Staats, so
wie er vielleicht für die Palästinenser in Erfüllung geht?
Öcalan: Die Lösung könnte in einer Föderation liegen,
es sind verschiedene Arten von Autonomie für die Kurden in der Türkei
denkbar. Dafür gibt es mehrere Beispiele in Europa, zum Beispiel
den Status Südtirols in Italien. Doch dafür muß die politische
und militärische Führung der Türkei sich zur Anerkennung
der kurdischen Identität überwinden.
SPIEGEL: Für die Türkei wäre das der Bruch mit dem geheiligten
Erbe Kemal Atatürks. Ist Ihre Erwartung nicht utopisch?
Öcalan: Ich halte das nicht für unmöglich. Dieses Modell
könnte sogar zu einem Vorbild für den gesamten Nahen Osten werden.
Wichtig ist, daß Türken und Kurden nicht allein gelassen werden.
Wenn Europa den demokratischen und rechtsstaatlichen Prozeß in der
Türkei befördert, löst sich die Kurdenfrage von selbst.
SPIEGEL: Und dabei wollen Sie der Katalysator sein?
Öcalan: Ich glaube, daß wir einen neuen Vertrag von Lausanne
brauchen. Meine Anwesenheit in Europa, so unbequem sie auch erscheinen
mag, könnte dafür der erste historische Schritt sein.
SPIEGEL: Herr Öcalan, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Gespräch führten SPIEGEL-Redakteur Romain Leick und SPIEGEL-Mitarbeiter
Namo Aziz.