Trügerische Ruhe
Wer Mut hat, genau hinzuschauen, wird sich über die niedrigen
Asylbewerberzahlen nicht freuen können
Von Pitt von Bebenburg
Sie werden sich auf die Schulter klopfen, wenn in diesen Tagen die
Asylbewerber-Statistik für 1998 veröffentlicht wird. Die Zahl
der Flüchtlinge, die es in das Verfahren geschafft haben, wird weiter
auf dem niedrigen Niveau der vergangenen Jahre bleiben. Die rigorose Abschottungspolitik
der Ära Kohl/Kanther, die in der Grundgesetzänderung von 1993
gipfelte, zeitigt Ergebnisse. Und die Befürworter der harten Linie
aus Union und SPD werden sie als Erfolge preisen.
Weniger Asylbewerber - das beruhigt. Es hört sich so an, als habe
Deutschland endlich seine Ruhe vor den Krisen und Konflikten in aller Welt.
Weniger Asylbewerber - das ist populär. Also werden Bundeskanzler
Gerhard Schröder und sein Innenminister Otto Schily einen Teufel tun,
etwas Einschneidendes daran zu ändern.
Doch die Ruhe trügt, und die nackte Zahl lügt. Wer ein bißchen
genauer hinsieht, mit welchen Mitteln die Statistik erzielt wurde, den
muß es schaudern. Denn Deutschland sortiert von vornherein fast alle
aus, deren Fluchtweg nachvollziehbar ist. Und selbst die, die das Asylverfahren
erreichen, scheitern häufig am verengten Verständnis von politischer
Verfolgung - so bleibt auch Menschen mit sehr schlimmen Leidensschicksalen
das Asylrecht versagt.
Natürlich sind nicht alle Fälle so kraß. Vor allem
Kosovo-Albaner und Kurden erhoffen sich über ihr Asylbegehren eine
bessere Zukunft im Wohlstands-Europa. Wer will in jedem Fall die Grenze
ziehen zwischen Armutsflüchtlingen, Bürgerkriegsvertriebenen
und politisch Verfolgten? Der Staat steht also vor einem Dilemma. Doch
die Lösung, die gezimmert wurde, ist kläglich.
Der Fluchtweg entscheidet darüber, ob sich überhaupt hierzulande
jemand den Fluchtgrund anhört. Wer auf dem Landweg - über sogenannte
sichere Drittländer - kommt, darf sich nicht ertappen lassen, weil
er dann sofort zurückgeschoben würde: damit treibt der Staat
die Flüchtlinge in die Arme oft skrupelloser Schlepper. Wer per Flugzeug
kommt, wird in das Flughafenverfahren gedrängt, und wieder halten
formale Hürden den Behörden das Problem vom Leib: wer die haarscharf
bemessenen Fristen nicht einhält, die für einen traumatisierten
Flüchtling ohne guten Anwalt nicht zu schaffen sind, fliegt zurück.
Das sind die formalen Tricks, mit denen Deutschland seine Statistik poliert;
auf Kosten der Schutzsuchenden.
Viele wollen das nicht hören. Deutschland könne nicht allein
die Probleme der ganzen Welt lösen, lautet ihr Standardsatz, der oft
genug als Ruhekissen dienen soll. Aber wenn man das Argument ernst nimmt,
steckt noch mehr dahinter: eine Aufforderung, sich für eine humane
Flüchtlingspolitik in ganz Europa stark zu machen. Mit seiner EU-Präsidentschaft
hat Bonn diese Chance.
Doch besitzt Rot-Grün den Willen dazu? Wer sich den Koalitionsvertrag
ansieht, hat allen Grund, daran zu zweifeln. In der Flüchtlingspolitik
hält er im wesentlichen am Bestehenden fest. Führende Grünen-Politiker
sahen darin ihre „bitterste Niederlage“. Die Auftritte von Innenminister
Otto Schily (SPD) und der Ausländerbeauftragten Marieluise Beck (Bündnisgrüne)
am Frankfurter Flughafen haben den Eindruck bestätigt, daß auch
in Sachen Flughafenverfahren Rot gegen Grün steht - und Rot sich durchsetzt.
Vor diesem Hintergrund hat Joschka Fischer es zur Aufgabe erklärt,
die Stimmung im Lande und damit in der SPD zu wenden.
Das ist löblich. Doch zugleich muß er als Außenminister
die Chance beim Schopf ergreifen, die die besondere Rolle in der EU im
nächsten halben Jahr bietet. Wer die Menschenrechte zur Maßgabe
seiner Außenpolitik erklärt, muß ein Europa anstreben,
das sich seiner Verantwortung für die Flüchtlinge stellt. Nicht
mehr der Fluchtweg darf das Maß aller Dinge sein, sondern der Grund
zur Flucht.
Fünf Gruppen von Menschen, die heute durch das Raster fallen,
haben unseren Schutz besonders nötig. Europa muß Frauen, die
unter geschlechtsspezifischer Verfolgung leiden, Asyl gewähren; Europa
muß Flüchtlingen, die - wie in Algerien oder Afghanistan - unter
systematischer Verfolgung leiden, die nicht vom Staat ausgeht, Schutz bieten;
Europa muß Homosexuellen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung
gejagt werden, Zuflucht gewähren; Europa muß diejenigen schützen,
die ihre Teilnahme an Kriegen und Bürgerkriegen verweigern; und Europa
muß seine Verantwortung für vertriebene Kinder und Jugendliche
wahrnehmen.
Wer keine Angst hat, die Augen zu öffnen, wird sich über
die niedrigen Asylbewerberzahlen nicht freuen können. Jüngst
haben die Kirchen in ihrer Begründung für das Kirchenasyl schonungslos
offengelegt, wie hierzulande mit Flüchtlingen umgesprungen wird. Das
geht alle an. Denn auf dem Spiel stehen, so formulierten es die katholischen
Bischöfe, „die Grundwerte in einem demokratischen Gemeinwesen“.