IM PROFIL
Yalim Erez Designierter türkischer Ministerpräsident
Wenn man den Instinkten der Istanbuler Börse Glauben schenkt, dann
gibt es schon eine neue türkische Regierung unter der Führung
von Yalim Erez. So sicher waren sich die Anleger, daß sie den Kurs
der Aktien von Erez’ Ziegelfabrik binnen 48 Sunden nach seiner Berufung
um 44 Prozent in die Höhe trieben. Die Spekulanten hatten eine sehr
türkische Rechung aufgemacht: Ziegel bedeuten Neubauten, und die Regierung
in Ankara ist traditionell der größte Bauherr. Ergo: Ein Premier
Erez würde den Ziegeleibesitzer Erez mit Aufträgen bedenken.
Freilich tut man ihm wohl mit einer solch einfachen Gleichung unrecht.
Denn der Name des 55jährigen Kurden aus dem ost-anatolischen Van
wurde bisher noch nie im Zusammenhang mit krummen oder schmutzigen Geschäften
erwähnt. Diese Leistung ist umso bemerkenswerter, als Yalim Erez’
politische Karriere jahrelang untrennbar mit der von Tansu Ciller verbunden
war. Und die Ex-Regierungschefin gilt vielen in der Türkei als Inbegriff
der Korruption.
In der Tat scheinen die Chancen des parteilosen Abgeordneten, der im
Kabinett Yilmaz das Amt des Industrieministers hatte, nicht schlecht zu
sein, die 56. Regierung der Türkei zu bilden. Erez genießt über
die Parteigrenzen hinaus großes Ansehen im linken wie auch im bürgerlichen
Lager. Das schließt sogar die Islamisten ein, ohne oder gar
gegen deren Fraktion – die stärkste im Parlament – keine tragfähige
Regierung gebildet werden kann.
Die Sympathien der Islamisten sind umso überraschender, als niemand
anderer als Erez vor zwei Jahren das Ende der ersten islamistisch geführten
Regierung der Türkei herbeigeführt hatte. Seinerzeit war
er noch Mitglied in der von Ciller geführten „Partei des Rechten Weges“
(DYP), und er verwaltete auch damals schon das Industrieressort in der
Regierung unter Ministerpräsident Necmettin Erbakan. Doch weder Parteidisziplin
noch die jahrelange enge Verbindung zu seiner Parteichefin Ciller hinderten
Erez daran, aus Protest gegen die Koalition mit den Muslimen die Partei
zu verlassen. Am Ende dieser Entwicklung stand die kalte Entmachtung des
gewählten Kabinetts Erbakan.
Yalim Erez stammt aus kleinen Verhältnissen – sein Vater war Händler
– und kam auf Umwegen in die Politik. Bevor er vor drei Jahren zum ersten
Mal ein Abgeordnetenmandat errang, hatte er sich als Vorsitzender der Istanbuler
Handelskammer und als Präsident der einflußreichen „Vereinigung
türkischer Warenkammern und Börsen“ (TOBB) einen Namen gemacht.
Doch in all diesen Jahre stand er bereits dem jetzigen Staatspräsidenten
Süleyman Demirel und dessen politischer Ziehtochter Ciller sehr nahe.
Manche Beobachter vermuten, daß Erez die ehrgeizige Dame überhaupt
an die Macht gebracht hat. Die Geschäftswelt sieht in Erez in erster
Linie den Unternehmer und hofft daher auf belebende Impulse in der Wirtschaftspolitik.
Auch diese Aussicht dürfte die Istanbuler Börse beflügelt
haben. Viel Zeit für einschneidende Maßnahmen bliebe indes auch
Erez nicht. Am 18. April soll ein neues Parlament gewählt werden.
Wolfgang Koydl