Seit drei Jahren und drei Monaten im Kirchenasyl
Wenn Sicherheit zur
Gefangenschaft wird
Fernsehen und Besuche von Freunden sind
der einzige Kontakt der jungen Kurdin
Gülbahar Yildiz zur Außenwelt
Von Uwe Ritzer
Weißenburg – Abends, wenn sich die Jungen und
Schönen in den Fernsehserien zum Ausgehen
verabreden, wenn sie verreisen und Zukunftspläne
schmieden, fällt Gülbahar Yildiz in eine große
Traurigkeit. „Hunderte Male“, sagt sie, „habe ich
mich schon gefragt: Warum kann ich das nicht?“
Die Antwort auf diese Frage gibt ein vergilbter Zettel, den die 19jährige
Kurdin nur zwei Armlängen vom Fernseher entfernt über ihr Bett
gepinnt hat. Fast 1200 kleine Striche hat sie darauf gekritzelt, einen
für jeden Tag – ganz so, als zähle sie sich der Entlassung aus
dem Gefängnis entgegen. Die schlanke, junge Frau mit den schwarzen,
schulterlangen Haaren und den dunklen Augen ist eine Gefangene ihrer Lebensumstände.
Seit drei Jahren und drei Monaten schon lebt sie mit ihrer Familie in der
mittelfränkischen Kreisstadt Weißenburg im sogenannten Kirchenasyl.
Seitdem zieht das Leben an ihr vorbei, während Gleichaltrige ihre
Freunde treffen und sich einen Platz in der Gesellschaft suchen. Aus dem
unbedarften Teenager wurde eine junge Frau, doch irgendwie sei die Zeit
stehengeblieben, erzählt Gülbahar. „Seitdem wir hier eingezogen
sind, hat sich nichts mehr geändert. Ich fühle mich noch wie
mit 16 Jahren.“ Gülbahar Yildiz ist als Kind in ihr Schicksal hineingeschlittert,
ohne etwas dagegen tun zu können.
Zehn Jahre war sie alt, als sie 1989 mit ihrer Familie aus der Türkei
nach Deutschland kam. Der Vater bat um politisches Asyl mit der Begründung,
er sei als kurdischer Gewerkschafter in der Türkei eingesperrt, geschlagen
und verfolgt worden. Das Bleiberecht wurde ihm von den deutschen Behörden
und Gerichten durch alle Instanzen hindurch verweigert.
Erst am Ende dieses jahrelangen Rechtsstreits wurde Gülbahar klar,
daß die deutschen Behörden auch über ihr Leben mitentschieden
hatten:
„Vorher habe ich mir da keine Gedanken gemacht. Wir haben völlig
normal gelebt wie andere auch.“ Nachdem die Familie Yildiz nach Deutschland
gekommen war, wuchs sie in einem kleinen Dorf bei Weißenburg mit
ihren Geschwistern so behütet auf wie andere Landkinder auch: Schule,
Freundinnen, Musik hören, Lesen – „was man halt so macht in diesem
Alter“.
Gülbahar besuchte die evangelischen
Gruppenstunden; bei der Weihnachtsfeier im
Dorfwirtshaus begrüßte das Kurdenkind die
Gäste, und beim Krippenspiel trat sie als Maria
auf. „Ich habe nie gedacht“, sagt sie, „daß das
einmal vorbei sein soll.“ Das änderte sich
schlagartig, als ihre Klasse zum
Hauptschul-Abschluß nach Südtirol fuhr. Auf
Anweisung der Behörden durfte sie nicht mit – sie
war ja Asylbewerberin. Da sei ihr „das erste Mal
bewußt geworden, daß ich kein normales
Gastarbeiterkind bin.“
Ohne Paß keine Ausbildung
Ihr Schicksal wurde zum Thema im
Schulunterricht. Die Klassenkameraden schickten an den Landtag eine
Petition, die abgelehnt wurde. Wo immer sich Gülbahar in dieser
Zeit um eine Lehrstelle bewarb – sie wollte Zahnarzthelferin werden – erhielt
sie die Antwort: Ohne gültigen Paß und ohne dauerhaftes Bleiberecht
sei eine Ausbildung unmöglich. Schließlich landete das Mädchen
im September 1995 in der Berufsschule, „in der Arbeitslosenklasse“.
Zwei Wochen später, 16 Jahre war Gülbahar damals alt, hatte
es auch damit ein Ende: Aus Angst vor der drohenden Abschiebung zog Vater
Yildiz mit seiner Familie in eine 42 Quadratmeter kleine Wohnung im ersten
Stock des evangelischen Gemeindezentrums am Weißenburger Galgenberg.
Anfangs dachte das Mädchen, die Familie bleibe „nur ein paar Wochen
oder Monate im Kirchenasyl“. 39 Monate sind inzwischen daraus geworden,
und seither sind Gülbahars Gefühle zutiefst zerrissen: Die beruhigende
Sicherheit der kirchlichen Obhut bewahrt sie nicht davor, daß sie
immer wieder ankämpfen muß gegen die Angst vor der Zukunft und
die pure Lust, einfach davonzulaufen.
Schon lange ist indessen Ernüchterung eingekehrt:
bei Gülbahar, ihrer Familie, dem Unterstützerkreis und bei
der Weißenburger Kirchengemeinde St.
Andreas. Ein Bruder und eine Schwester haben
das freiwillige Gefängnis inzwischen verlassen
können. Nachdem sie deutsche Partner geheiratet
haben, dürfen sie legal in der Bundesrepublik
leben. Die fünf im Kirchenasyl verbliebenen
Familienmitglieder wohnen immer noch beengt in
ihrer Drei-Zimmer-Wohnung. Gülbahar schläft in
einem winzigen Raum mit ihren Brüdern, dem
15jährigen Hüsseyin und dem sieben Jahre alten
Deniz. Sie liegt im Stockbett oben, einen
Schimmelfleck an der Decke vor Augen. An die
Zimmertür hat sie einen Zettel geklebt, auf dem
steht: „Die Stärke einer Gesellschaft mißt sich am
Wohlergehen ihrer Schwachen.“
Wenn es ihr zu eng wird, bleibt als kleine Flucht nur der Vorgarten
des Gemeindezentrums. Ein paar Schritte sind es bis zum hölzernen
Gartenzaun, hinter dem das wirkliche Leben liegt. Natürlich
könnte sie raus. Doch zu groß ist die Furcht davor, als Illegale
aufgegriffen und abgeschoben zu werden. Dennoch wächst ihre Ungeduld:
„Mir reicht es allmählich“, sagt sie energisch, „mit 20 bin ich hier
raus.“ Das wäre am 13.April 1999.
„Sie wird hierbleiben“, wirft ihr Bruder Ali ein, „sie hat doch keine
andere Wahl.“ So heißt „Leben“ für Gülbahar Yildiz vor
allem, gegen die tägliche zermürbende Langeweile anzukämpfen
und die Zeit totzuschlagen. Während Gleichaltrige morgens zur Arbeit
gehen, hilft sie ihrer Mutter bei der Hausarbeit. Manchmal spielt sie melancholische
Melodien auf dem siebensaitigen Saz, einem mandolinenähnlichen orientalischen
Instrument: „Da finde ich meine Stimmung wieder.“ Aber sonst:
Lesen, Fernsehen, Tagebuchschreiben, Herumhängen.
Wenn sie Glück hat, kommt nachmittags eine
deutsche Freundin vorbei, und „dann reden wir,
wie es draußen abläuft“. Sehnsüchtig wünscht sie
sich ein ganz normales Leben: Arbeiten, Geld
verdienen, Bummeln, Einkaufen, ins Kino oder
Essen gehen, den Führerschein machen,
Autofahren, sich in einen Mann verlieben. Und sie
träumt von einer kurdischen Hochzeit: „Das ist
herrlich, da bist du frei, da kannst du tanzen.“