Aus: Kurdistan-Rundbrief, Nr. 25, Jg. 11, 16.12.1998
 

“Rache“ an der kurdischen Bevölkerung“

Ein Augenzeugenbericht aus der Türkei von Jutta Hermanns
Die in Istanbul lebende Jutta Hermanns schilderte in einem längeren Bericht die Reaktionen der türkischen staatlichen Behörden auf die Ankunft Öcalans in Rom und die damit ausgelösten Entwicklungen. Hier Auszüge.
(...) Der folgende Artikel beabsichtigt, ein wenig die seit 12.11. in der Türkei stattfindende Entwicklung und die sie begleitende pogromartige Hysterie darzustellen, die ein entscheidendes Licht auf die zu erwartenden Probleme bei dem Versuch einer „politischen Lösung der kurdischen Frage“ werfen.
Am 26.11.1998 ist die 55. Regierung der Türkischen Republik unter Mesut Yilmaz durch ein Mißtrauensvotum im Parlament zu Fall gekommen.  Und es ist davon auszugehen, daß auch eine 56. Regierung sich nicht lange halten wird.
Solange die totale Verleugnung der durch angesehene Organisationen immer wieder belegten ungeheuren Dimension von Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des internationalen Völkerrechts durch die Türkei anhält und ohne die restlose Aufklärung und Ahndung derselben, ist mit einer „politischen Lösung der kurdischen Frage“ und einer Demokratisierung des Apparates und seiner gesetzlichen Grundlagen nicht zu rechnen.
Unabhängig von eventuellen Verletzungen der Genfer Konventionen von 1949 und ihrer Zusatzprotokolle von 1977, welche im übrigen im Gegensatz zur PKK (Januar 1995) von der Türkei nicht ratifiziert wurden, oder anderer völkerrechtlicher Prinzipien durch die PKK - wer heute eine Aufklärung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit fordert und dies einseitig unter Ignorierung der Tatsache tut, daß die absolute Hauptlast dieser Art von Verbrechen, begangen durch staatliche Kräfte oder dem Staat zuzurechnenden Kräften wie Dorfschützern etc., die kurdische Bevölkerung und die zivile Opposition zu tragen hat, unternimmt keineswegs einen Schritt in Richtung „gerechten und würdevollen Frieden“.
So ist es denn auch berechtigterweise die größte Furcht der Türkei, daß der Versuch einer Aufklärung begangener Vebrechen auf internationaler Ebene dazu führen könnte, daß der Staat selber plötzlich zum Hauptangeklagten werden könnte (so Justizminister Hasan Denizkurdu unter Bezugnahme auf den Berliner Prozeß gegen den armenischen Attentäter Talat Pasa`s, in dem letztendlich über den an den Armeniern begangenen Völkermord geurteilt wurde, Radikal, 28.11.98).
Sämtliche Beispiele der Geschichte lehren jedoch, daß die Aufklärung staatlicher Verbrechen unerläßliche Voraussetzung zur Einleitung eines gerechten Friedensprozesses ist.

Repression & Medienlenkung - Beispiele
Am 25. April 1998 wurde über eine im nachhinein erwiesenermaßen lancierte und falsche Meldung in der Zeitung „Hürriyet“ behauptet, laut Aussagen des festgenommenen ehemaligen Kommandanten der PKK, Semdin Sakik, werde der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Akin Birdal,  auf Anweisung der PKK tätig.
Eine solche Aussage gab es jedoch nie und auch wenn es inoffiziell allen klar ist, daß diese Mitteilung nur aus staatlichen und höchstwahrscheinlich militärischen Kreisen stammen kann, gibt es bis heute keinerlei Bemühung um Aufklärung der ursprünglichen Quelle. Am 12. Mai 1998 wurde sodann in der Zentrale des IHD in Ankara ein Attentat auf Akin Birdal verübt, das er nur wie durch ein Wunder überlebte. Zufall ??
Die festgenommenen Personen, unter ihnen ein Offizier der Gendarmerie, rechnen sich den „Türkischen Rachebrigaden“ ,TIT, zu. Sie schwören offen: „Wir haben eine ganze Liste mit Namen staatsfeindlicher Personen und werden zu gegebener Zeit weitermachen.“ Die TIT ist eine Organisation, die immer wieder Verbrechen gegen insbesondere kurdische Oppositionelle verübte und sich auch hierzu bekannte. Nach wie vor erfolgen in ihrem Namen Drohbriefe und -anrufe z.B. gegen MenschenrechtsaktivistInnen. Von der Organisation wird angenommen, daß sie innerhalb des staatlichen Apperates angesiedelt ist. Nach dem Attentat auf Akn Birdal konnten diese staatlichen Verbindungen nicht mehr völlig verheimlicht werden, eine wirkliche Aufklärung derselben ist selbstverständlich nicht zu erwarten.
In der gleichen wie in der folgenden Zeit wurde der Sitzprotest der Anghörigen der Verschwundenen, der seit über drei Jahren jeden Samstag in Istanbul/ Galatasaray stattfindet, in den Medien ebenfalls als „von der PKK gesteuert“ dargestellt. Seitdem waren die „Samstagsmütter“ ständigen Angriffen ausgesetzt, bis dieser Protest seit dem 15.8.1998 mit Massenfestnahmen und vielen Verletzten durch Polizeikräfte regelmäßig aufgelöst wird. Zufall ??
Ende September 1998 wurde in Adana durch eine Person der Versuch unternommen, ein Flugzeug der Inlandslinie in ein westliches Land umzuleiten, also zu entführen. Die Maschine wurde in Ankara gestürmt und der Entführer erschossen. Er wurde später der Öffentlichkeit als „Terrorist und Mörder der PKK“ vorgestellt und nicht genug damit, seine Schwestern wurden kurzerhand zu Prostituierten gemacht, um auch ja die Niedertracht der gesamten kurdischen Familie und eigentlich sämtlicher Kurden zu belegen. Der Staat jedoch habe durch diese gelungene Operation erneut seine Überlegenheit bewiesen. Die Nation war glücklich.
Zu dieser Zeit befand sich der stellvertretende Vorsitzende des IHD, Rechtsanwalt Osman Baydemir, in Erzurum zu Vermittlungsgesprächen zwischen hungerstreikenden Gefangenen und Anstaltsleitung. Von Journalisten der Zeitung „Hürriyet“ bedrängt, äußerte er, er könne aufgrund mangelnder Informationen zu dem Vorfall nichts sagen, jedoch würden sie als Menschenrechtsaktivistinnen aus rechtlicher Sicht den Standpunkt vertreten, daß, wenn irgend möglich, Festnahmen ohne Tötung der festzunehmenden Person erfolgen müßten.
Doch diese Äußerung war nicht opportun und als sei nur auf sie gewartet worden, nahmen die Medien sie zum Anlaß, eine erneute Hetzkampagne gegen den IHD einzuleiten.
Am 1.11.1998 erschien auf der Titelseite der Hürriyet neben einem Photo Osman Baydemir`s der Aufmacher: „Schaut Euch diesen Bekloppten an ...“ In den folgenden Tagen wetteiferten die Medien darin, den IHD über die Person Osman Baydemirs als PKK- Einrichtung darzustellen.  Übereinstimmender Tenor: „Diejenigen, die hier von Menschenrechten reden, haben sich erneut als Staatsfeinde entlarvt. Sie vertreten nur die „Menschenrechte von Terroristen“ und sollten nicht „Menschenrechtsverein“ sondern „Schlächterrechtsverein“ heißen.“ Der Boden ist erneut bereitet ... Keine Absicht ??
Am 9.11.1998 erscheinen zeitgleich in den Zeitungen „Öncü“ und „Asabi“ Nachrichten über angebliche Verbindungen des IHD und der PKK: unter einem großen Photo Eren Keskin`s, Vorsitzende der Sektion Istanbul des IHD, der Text: „Die wöchentlichen Aktionen der Frauen, welche „Samstagsmütter“ genannt werden, finden die Unterstützung mancher Personen, die Wert darauf legen, daß sie auf der Tagesordnung bleiben und werden mit dem Ziel fortgesetzt, durch gegen die Türkei gerichtete Beschimpfungen und Verleumdungen bekannt zu werden. Bei der letzten Aktion befand sich unter den „unsere Kinder sind verschwunden“ brüllenden Frauen auch die in ihrer Aufmachung einem Photomodell in nichts nachstehende IHD Vorsitzende Eren Keskin, die jedoch der Frage des Polizeipräsidenten Ercüment Yilmaz, was sie denn verloren habe, die Antwort schuldig blieb.“
Und unter einem Photo, welches Eren Keskin und andere
Vorstandsmitglieder des IHD zeigt, der Aufmacher: „Apo`s Unterstützung für den IHD“. Eren Keskin wird permanent bedroht und verfolgt. Keine Absicht ?
Am 27.11.1998 erschien in der Presse (Tageszeitung radikal) ein Artikel, in dem es u.a. heißt: „Das Polizeipräsidium teilte in einer mit „geheim“ betitelten Anweisung mit, daß von der Führung der PKK an sämtliche Kader und Kreise der legalen Ebene der Befehl erfolgt sei, in Aktion zu treten. In dem Schreiben wurde betont, daß die HADEP und der Menschenrechtsverein IHD entsprechend dieses durch die Organisation erfolgten Befehls eine Reihe von Aktivitäten vorbereiten würden ...“ Keine Absicht ?
Dies sind nur einige wenige Beispiele aus der letzten Zeit, die sich endlos fortsetzen ließen. Durch diese Art der Propaganda laufen Menschenrechtsaktivist/innen und kurdische Politikerinnen und Politiker Gefahr, jederzeit Ziel von Angriffen und Attentaten zu werden. Drohanrufe und permanente Bedrohungen auf der Straße sind an der Tagesordnung. (...)
Dies ist nun seit dem 12. November 1998 ins Unermeßliche gesteigert worden ...
Seit diesem Tag und seitdem sich immer klarer herauskristallisierte, daß es zu keiner Auslieferung Abdullah Öcalans kommen würde, wird durch Politiker und Medien versucht, die Emotionen der Bevölkerung in einer Art Dauerpropaganda aufzupeitschen. Permanent flackern Bilder getöteter Kinder und Frauen über den Bildschirm, werden weinende und schreiende Angehörige auf Begräbnissen gefallener Soldaten gezeigt, werden verwundete Soldaten und Mütter gefallener Soldaten interviewt, was sie tun würden, würde ihnen der „Mörder von über 30.000 Menschen“ in die Hände fallen. Stets aufbereitet mit entsprechend dramatischer Gestaltung und den Hinweisen, daß es ja so etliche „Unterstützer/innen“ (siehe oben) im Lande gebe ... Und die aufgepeitschten Emotionen entladen sich wie gewünscht ... Im gesamten Land kommt es seitdem zu pogromartigen Ausschreitungen, meist angeführt von organisierten Zivilfaschisten und häufig mit Unterstützung der offiziellen Polizeikräfte ...
In den Stadtteilen ziehen Autokonvois hupend durch die Straßen und heizen die Stimmung zusätzlich an. In Lynchstimmung ziehen Gruppen z.T. in Größenordnungen von 1.000 bis 1.500 Menschen (Ümraniye und Osmaniye/Istanbul) vor die Parteibüros der HADEP und andere kurdische Einrichtungen, versuchen in die Gebäude einzudringen und die dort anwesenden Menschen anzugreifen.
Auf das Parteibüro der HADEP in Mus wurde ein Brandanschlag verübt, das Parteibüro Malatya beschossen und das Parteibüro in Izmir am 29.11.1998 erneut mit Steinen und Stöcken angegriffen (Quelle: HADEP Ankara).
Polizei ist in diesen Situationen entweder nicht vorhanden oder sie schaut zu. (...)
Staatlicherseits werden die kleinsten Regungen von Protest, wie auch zuvor schon immer, verboten und kriminalisiert, so z.B. passive Hungerstreiks in den Büros der pro-kurdischen Partei HADEP, indem sie zu „Unterstützungsaktionen der PKK“ erklärt werden.
Landesweit kommt es immer wieder zu überfallartigen Durchsuchungen von Parteibüros der HADEP und anderen, insbesondere kurdischen Einrichtungen durch die Polizei, bei denen bis heute tausende Menschen festgenommen und Frauen, Kinder wie Männer z.T. schwer mißhandelt und gefoltert wurden. Arbeitsunterlagen, Akten, Computer der Partei wurden beschlagnahmt.
Am 19.11. wurden auf Anordnung des Staatssicherheitsgerichtes Ankara landesweit alle Parteibüros der HADEP durchsucht, z.T. kurz und klein geschlagen. Wiederum am 19.11. wurden landesweit Redaktionsräume der zur Zeit nicht publizieren könnenden Zeitung „Özgür Gündem“ durchsucht (Istanbul, Ankara, Urfa, Malatya, Diyarbakir, Van, Batman, Izmir) und z.T. verwüstet, etliches Material beschlagnahmt und dutzende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter festgenommen.

Die polizeilichen Operationen halten an.
Landesweit ist es bis jetzt zu über 3000 Festnahmen allein in HADEP-Büros gekommen.
Gegen 204 festgenommene Parteifunktionäre wurde anschließend Haftbefehl erlassen, unter ihnen:
6 Vorstandsmitglieder der Parteizentrale Ankara, u.a. der Vorsitzende der HADEP, Murat Bozlak, der stellvertretende Parteivorsitzende, Bahattin Günel und der Parteisekretär, Ahmet
Turan Demir,
7 Parteivorsitzende und 23 Vorstandsmitglieder verschiedener
Provinzen,
16 Vorstandsmitglieder verschiedener Landkreise sowie
10 Vorstandsmitglieder der Jugendkommissionen der Partei.

In Diyarbakr kam es zu über 1.100 Festnahmen, davon über 700 Menschen während der gegen die HADEP gerichteten Operationen. Gegen 53 HADEP-Funktionäre und Mitglieder wurden anschließend Haftbefehle erlassen.
In diesen Zahlen sind nicht diejenigen Festnahmen enthalten, die auf Straßen, Plätzen und in anderen Einrichtungen stattfanden.
Es ist ungeheuer schwierig, genaue Informationen zu erhalten, da kaum noch intakte Strukturen bestehen, die kontinuierlich Informationen zusammenstellen und weiterleiten können. Manche der Festgenommen werden kurz nach einer Freilassung erneut festgenommen, etliche Orte wurden bereits mehrmals Ziel polizeilicher Operationen.
Beim Abführen der Menschen sind plötzlich nicht genug Polizeikräfte vorhanden, um diese vor der draußen wartenden Menge zu schützen - einer Polizei, die sich sonst nicht zu schade ist, hunderte schwer aufgerüsteter und bewaffneter Beamte gegen 30 Samstagsmütter einzusetzen - so daß es zu etliche Schwerverletzten durch versuchte Lynchjustiz kam.
Bis jetzt sind zwei Menschen durch polizeiliche Übergriffe getötet worden.
Kurden und Kurdinnen stehen z.Zt. im Bewußtsein auf, daß sie den heutigen Tag eventuell nicht überleben werden ...
Die Stimmung ist schwer zu beschreiben. Aber es ist mir ein Anliegen und ich möchte versuchen, sie anhand von ein paar Beispielen zumindest ansatzweise nachvollziehbar zu machen.
1. Hamid Cakir, 18 Jahre, Bauarbeiter in Diyarbakir (Zusammenfassung eines Interviews mit einem Cousin (1)):

Am Mittwoch den 18.11. begab sich Hamid zum Parteibüro der HADEP in Diyarbakir, um den dort aus Protest hungerstreikenden Menschen einen Besuch abzustatten, als plötzlich Polizei die Türen aufbrach und in die Räumlichkeiten eindrang. Sie schlugen mit Knüppeln und Fäusten auf die dort Anwesenden ein, traten sie mit Füßen. Im Gebäude befanden sich zu dieser Zeit ca. 90 Personen, die anschließend alle festgenommen wurden, etliche von ihnen in verletztem Zustand. Vor den Augen aller wurde Hamid durch Schläge und Tritte insbesondere an den Kopf schwerstens verletzt. Er starb innerhalb einer halben Stunde noch vor Ort.
Die Polizei verhinderte jeden Versuch, ärztliche Hilfe anzuforden. Der Leichnam Hamids wurde durch die Polizei sogleich in die Leichenhalle des staatlichen Krankenhauses gebracht. Die offizielle Version der Todesursache lautet „Herzinfarkt“.
Eine unabhängige Autopsie wurde verhindert und der Leichnam nicht an die Angehörigen herausgegeben. Im Beisein von lediglich vier Angehörigen, die die Polizei benachrichtigt hatte, wurde er sofort durch staatliche Kräfte begraben. Ein Bruder, dem es gelang, einen Blick in den Sarg zu werfen, sagte aus, dieser sei voll Blut gewesen.  Photos oder Filmaufnahmen waren nicht gestattet.
Nun wollen die Anwälte der Angehörigen eine erneute, echte Autopsie durchsetzen und Anzeige gegen die beteiligten Staatskräfte erstatten.  Die Presse schweigt.
2. Metin Yurtsever, 45 Jahre, vor kurzem pensionierter Lehrer, Aktivist der Lehrer/innengewerkschaft Egitim-Sen, Izmit... (Zusammenfassung eines Interviews mit einer Angehörigen (1)):

Am 19.11. begab sich Metin auf Besuch bei der Partei HADEP in Izmir.  Während er sich dort aufhielt, wurden die Räumlichkeiten überfallartig durch die Polizei durchsucht und die Anwesenden brutal verprügelt. Zur gleichen Zeit kamen Faschisten aus ihrem Parteibüro im gleichen Gebäude hinzu und stürzten sich ebenfalls auf die Anwesenden. Der schon durch diesen Angriff schwer verletzte Metin und andere wurden festgenommen und anschließend durch die Polizei gefoltert. Metin starb an den erlittenenVerletzungen am Abend des 20.11.1998 gegen 20 Uhr.  Seiner ins Krankenhaus gerufenen Ehefrau konnte er noch zuflüstern, er sei schwer gefoltert worden. Die Ehefrau sagte aus, der Körper ihres Mannes sei unterhalb des Bauches so entstellt gewesen, daß er als Körper nicht mehr zu erkennnen gewesen sei. Durch Eindringen gebrochener Rippen in die Lunge wurde diese so schwer verletzt, daß Metin nicht mehr gerettet werden konnte. Obwohl die erstuntersuchenden Ärzte in einem Protokoll festhielten, Metin sei an den Folgen der durch Schläge erlittenen Verletzungen gestorben, behaupten offizielle staatliche Stellen in der Öffentlichkeit, er sei an Blurgefäßverengung verstorben. Durch den Angriff wurden zwei weitere Personen so schwer verletzt, daß sie sich über längere Zeit im Koma befanden. Die Presse schweigt.
3. Augenzeugenbericht über die Lynchversuche einer aufgebrachten Menge an kurdischen Menschen, Hand in Hand mit der Polizei am 17.11.1998, Istanbul/ Beyoglu (Interview mit dem Augenzeugen und Betroffenen Selahattin Bulut, Inhaber des Buchladens „Medya“, Beyoglu - Galatasaray)

„Gegen 12 Uhr befand ich mich auf dem Weg von einem Verlag zu meinem Buchladen, der sich am Platz Galatasaray, an dem wöchentlich der Sitzprotest der Samstagsmütter stattfindet, in einer Einkaufspassage im zweiten Stock befindet. Daher konnte ich alles gut beobachten.
Eine Gruppe Kurden machte einen Sitzprotest in der Kirche St. Antonio.  Eine andere - ca. 60 bis 70 Menschen - kam Parolen rufend aus Richtung Tunnel in Richtung Galatasaray. Es fiel mir auf, daß sich dort keinerlei Polizei und Taxis befanden, obwohl am Platz Galatasaray sonst immer Polizei postiert ist. Die Gruppe wollte sich dort gerade auflösen, als aus der Menge heraus ein auffällig großer Mann „Es lebe Attatürk, es lebe die Türkei“ skandierte. Wie auf ein Zeichen stürzten sich Unmengen von Leuten auf die kleine Gurppe und begannen alle, die sie in die Hände bekamen, brutal zu verprügeln. Viele wurden blutig geschlagen und lagen verletzt auf der Straße - erst dann kam Polizei.
Doch statt die Angreifer festzunehmen, nahmen sie die verletzten Kurden fest und führten sie zu Polizeibussen. Obwohl sich die Verletzten schon in den Händen der Polizei befanden, wurde die Menge nicht daran gehindert, weiter auf sie einzuschlagen. In den Polizeifahrzeugen schlug auch die Polizei auf die Festgenommenen ein.
Ich habe dann meinen Laden zugemacht und bin ins Erdgeschoß gegangen.  Doch das Gitter am Eingang der Passage war verschlossen. Zivile Polizei ließ das Gitter aufmachen und stürmte in die Passage. Sie riefen: „Wo sind die Verräter, haben sich welche von den Verrätern hierhergeflüchtet?“ In sämtlichen neun Stockwerken des Gebäudes begannen Personalkontrollen.
Ich konnte beobachten, daß sie Menschen unter Schlägen abführten, die nichts mit der Sache zu tun hatten, nur weil ihr Geburtsort im Ausweis ein kurdischer ist.
Neben mir wurden drei kurdische Jugendliche festgenommen. Die Polizei sah in ihre Ausweise, aus denen sich über den Geburtsort ergab, daß sie Kurden sind. Sie führten sie ab und ketteten sie dann mit Handschellen von außen an die Gitter des Passageneinganges.
So überließen sie sie der weiter tobenden Menge, die begann, die Jugendlichen unter Parolen wie: „Die Türkei ist groß, es lebe Attatürk“, zusammenzuschlagen. Sie schrien um Hilfe und baten die Polizei, sie zu den Polizeibussen zu bringen. Doch die Polizei wartete und führte sie erst nach einer Weile ab. (...)
4. Kiymet, eine der „Samstagsmütter“; Schwester des vor 3 ½ Jahren vor den Augen seiner Kinder entführten und seitdem „verschwundenen“ Fehmi Tosun; ihr Ehemann fiel in einem Gefecht mit türkischen Truppen, sie kam vor ca. 3 Jahren nach Istanbul, zieht ihre Kinder alleine groß und „lebt“ mit diesen in einem Keller im Stadtteil Avcilar/Istanbul. (Interview mit der Betroffenen):

„Am 24.11. kam ich zusammen mit meinem fünfjährigen Sohn von einem Besuch nach Hause. Ich ging noch schnell in den Garten, um die Wäsche reinzuholen. Dort bemerkte ich drei Männer zwischen 18 und 20 Jahren, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Ich dachte, sie kommen wohl auf Besuch zu einer der anderen Mietparteien im Haus. Nachdem ich wieder ins Haus bin, schellte es. Sie kamen in den Keller und schlugen an unsere Tür. „Mach auf“, brüllten sie. Ich weiß nicht warum, auf einmal hatte ich so eine Ahnung und ich sagte, „Nein, was wollt ihr ?“. Sie schrien: „Ihr verfluchten Kurden, ihr seid Kurden, die Istanbuler Kurden lassen wir nun nicht mehr in Ruhe. Was habt ihr hier zu suchen?“
Ich hatte totale Angst, daß sie die Tür einbrechen würden. Sie schimpften. „Scheiß Kurden, ihr tötet unsere Soldaten.“ Dann war es eine Weile ruhig. Sie gingen weg, kamen aber zurück und fingen wieder an:
„Wir werden Euch hier nicht am Leben lassen, wir wissen ja, wo ihr wohnt, das hier ist noch nicht zu Ende“. Sie haben ekelhafte Beschimpfungen ausgestoßen. Ich konnte die ganze Nacht vor Angst nicht schlafen. Und wenn sie wiederkommen, und wenn sie den Kindern etwas antun ...?“
(...)

Es ist daher dringend erforderlich, daß diese Kräfte, auch aus dem Ausland, anerkannt, unterstützt und gestärkt werden. Denn ohne sie ist eine entscheidende Veränderung der diesem Konflikt zugrundeliegenden Struktur nicht denkbar.

Jutta Hermanns, Assessorin, Istanbul, ist Mitarbeiterin des Büros „Rechtliche Hilfe für von staatlichen Kräften vergewaltigte und auf andere Art sexuell gefolterte Frauen“.

(1) Personen sind der Verfasserin bekannt, Namen aus Sicherheitsgründen nicht genannt