“Rache“ an der kurdischen Bevölkerung“
Ein Augenzeugenbericht aus der Türkei von Jutta Hermanns
Die in Istanbul lebende Jutta Hermanns schilderte in einem längeren
Bericht die Reaktionen der türkischen staatlichen Behörden auf
die Ankunft Öcalans in Rom und die damit ausgelösten Entwicklungen.
Hier Auszüge.
(...) Der folgende Artikel beabsichtigt, ein wenig die seit 12.11.
in der Türkei stattfindende Entwicklung und die sie begleitende pogromartige
Hysterie darzustellen, die ein entscheidendes Licht auf die zu erwartenden
Probleme bei dem Versuch einer „politischen Lösung der kurdischen
Frage“ werfen.
Am 26.11.1998 ist die 55. Regierung der Türkischen Republik unter
Mesut Yilmaz durch ein Mißtrauensvotum im Parlament zu Fall gekommen.
Und es ist davon auszugehen, daß auch eine 56. Regierung sich nicht
lange halten wird.
Solange die totale Verleugnung der durch angesehene Organisationen
immer wieder belegten ungeheuren Dimension von Menschenrechtsverletzungen
und Verletzungen des internationalen Völkerrechts durch die Türkei
anhält und ohne die restlose Aufklärung und Ahndung derselben,
ist mit einer „politischen Lösung der kurdischen Frage“ und einer
Demokratisierung des Apparates und seiner gesetzlichen Grundlagen nicht
zu rechnen.
Unabhängig von eventuellen Verletzungen der Genfer Konventionen
von 1949 und ihrer Zusatzprotokolle von 1977, welche im übrigen im
Gegensatz zur PKK (Januar 1995) von der Türkei nicht ratifiziert wurden,
oder anderer völkerrechtlicher Prinzipien durch die PKK - wer heute
eine Aufklärung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
fordert und dies einseitig unter Ignorierung der Tatsache tut, daß
die absolute Hauptlast dieser Art von Verbrechen, begangen durch staatliche
Kräfte oder dem Staat zuzurechnenden Kräften wie Dorfschützern
etc., die kurdische Bevölkerung und die zivile Opposition zu tragen
hat, unternimmt keineswegs einen Schritt in Richtung „gerechten und würdevollen
Frieden“.
So ist es denn auch berechtigterweise die größte Furcht
der Türkei, daß der Versuch einer Aufklärung begangener
Vebrechen auf internationaler Ebene dazu führen könnte, daß
der Staat selber plötzlich zum Hauptangeklagten werden könnte
(so Justizminister Hasan Denizkurdu unter Bezugnahme auf den Berliner Prozeß
gegen den armenischen Attentäter Talat Pasa`s, in dem letztendlich
über den an den Armeniern begangenen Völkermord geurteilt wurde,
Radikal, 28.11.98).
Sämtliche Beispiele der Geschichte lehren jedoch, daß die
Aufklärung staatlicher Verbrechen unerläßliche Voraussetzung
zur Einleitung eines gerechten Friedensprozesses ist.
Repression & Medienlenkung - Beispiele
Am 25. April 1998 wurde über eine im nachhinein erwiesenermaßen
lancierte und falsche Meldung in der Zeitung „Hürriyet“ behauptet,
laut Aussagen des festgenommenen ehemaligen Kommandanten der PKK, Semdin
Sakik, werde der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Akin Birdal,
auf Anweisung der PKK tätig.
Eine solche Aussage gab es jedoch nie und auch wenn es inoffiziell
allen klar ist, daß diese Mitteilung nur aus staatlichen und höchstwahrscheinlich
militärischen Kreisen stammen kann, gibt es bis heute keinerlei Bemühung
um Aufklärung der ursprünglichen Quelle. Am 12. Mai 1998 wurde
sodann in der Zentrale des IHD in Ankara ein Attentat auf Akin Birdal verübt,
das er nur wie durch ein Wunder überlebte. Zufall ??
Die festgenommenen Personen, unter ihnen ein Offizier der Gendarmerie,
rechnen sich den „Türkischen Rachebrigaden“ ,TIT, zu. Sie schwören
offen: „Wir haben eine ganze Liste mit Namen staatsfeindlicher Personen
und werden zu gegebener Zeit weitermachen.“ Die TIT ist eine Organisation,
die immer wieder Verbrechen gegen insbesondere kurdische Oppositionelle
verübte und sich auch hierzu bekannte. Nach wie vor erfolgen in ihrem
Namen Drohbriefe und -anrufe z.B. gegen MenschenrechtsaktivistInnen. Von
der Organisation wird angenommen, daß sie innerhalb des staatlichen
Apperates angesiedelt ist. Nach dem Attentat auf Akn Birdal konnten diese
staatlichen Verbindungen nicht mehr völlig verheimlicht werden, eine
wirkliche Aufklärung derselben ist selbstverständlich nicht zu
erwarten.
In der gleichen wie in der folgenden Zeit wurde der Sitzprotest der
Anghörigen der Verschwundenen, der seit über drei Jahren jeden
Samstag in Istanbul/ Galatasaray stattfindet, in den Medien ebenfalls als
„von der PKK gesteuert“ dargestellt. Seitdem waren die „Samstagsmütter“
ständigen Angriffen ausgesetzt, bis dieser Protest seit dem 15.8.1998
mit Massenfestnahmen und vielen Verletzten durch Polizeikräfte regelmäßig
aufgelöst wird. Zufall ??
Ende September 1998 wurde in Adana durch eine Person der Versuch unternommen,
ein Flugzeug der Inlandslinie in ein westliches Land umzuleiten, also zu
entführen. Die Maschine wurde in Ankara gestürmt und der Entführer
erschossen. Er wurde später der Öffentlichkeit als „Terrorist
und Mörder der PKK“ vorgestellt und nicht genug damit, seine Schwestern
wurden kurzerhand zu Prostituierten gemacht, um auch ja die Niedertracht
der gesamten kurdischen Familie und eigentlich sämtlicher Kurden zu
belegen. Der Staat jedoch habe durch diese gelungene Operation erneut seine
Überlegenheit bewiesen. Die Nation war glücklich.
Zu dieser Zeit befand sich der stellvertretende Vorsitzende des IHD,
Rechtsanwalt Osman Baydemir, in Erzurum zu Vermittlungsgesprächen
zwischen hungerstreikenden Gefangenen und Anstaltsleitung. Von Journalisten
der Zeitung „Hürriyet“ bedrängt, äußerte er, er könne
aufgrund mangelnder Informationen zu dem Vorfall nichts sagen, jedoch würden
sie als Menschenrechtsaktivistinnen aus rechtlicher Sicht den Standpunkt
vertreten, daß, wenn irgend möglich, Festnahmen ohne Tötung
der festzunehmenden Person erfolgen müßten.
Doch diese Äußerung war nicht opportun und als sei nur auf
sie gewartet worden, nahmen die Medien sie zum Anlaß, eine erneute
Hetzkampagne gegen den IHD einzuleiten.
Am 1.11.1998 erschien auf der Titelseite der Hürriyet neben einem
Photo Osman Baydemir`s der Aufmacher: „Schaut Euch diesen Bekloppten an
...“ In den folgenden Tagen wetteiferten die Medien darin, den IHD über
die Person Osman Baydemirs als PKK- Einrichtung darzustellen. Übereinstimmender
Tenor: „Diejenigen, die hier von Menschenrechten reden, haben sich erneut
als Staatsfeinde entlarvt. Sie vertreten nur die „Menschenrechte von Terroristen“
und sollten nicht „Menschenrechtsverein“ sondern „Schlächterrechtsverein“
heißen.“ Der Boden ist erneut bereitet ... Keine Absicht ??
Am 9.11.1998 erscheinen zeitgleich in den Zeitungen „Öncü“
und „Asabi“ Nachrichten über angebliche Verbindungen des IHD und der
PKK: unter einem großen Photo Eren Keskin`s, Vorsitzende der Sektion
Istanbul des IHD, der Text: „Die wöchentlichen Aktionen der Frauen,
welche „Samstagsmütter“ genannt werden, finden die Unterstützung
mancher Personen, die Wert darauf legen, daß sie auf der Tagesordnung
bleiben und werden mit dem Ziel fortgesetzt, durch gegen die Türkei
gerichtete Beschimpfungen und Verleumdungen bekannt zu werden. Bei der
letzten Aktion befand sich unter den „unsere Kinder sind verschwunden“
brüllenden Frauen auch die in ihrer Aufmachung einem Photomodell in
nichts nachstehende IHD Vorsitzende Eren Keskin, die jedoch der Frage des
Polizeipräsidenten Ercüment Yilmaz, was sie denn verloren habe,
die Antwort schuldig blieb.“
Und unter einem Photo, welches Eren Keskin und andere
Vorstandsmitglieder des IHD zeigt, der Aufmacher: „Apo`s Unterstützung
für den IHD“. Eren Keskin wird permanent bedroht und verfolgt. Keine
Absicht ?
Am 27.11.1998 erschien in der Presse (Tageszeitung radikal) ein Artikel,
in dem es u.a. heißt: „Das Polizeipräsidium teilte in einer
mit „geheim“ betitelten Anweisung mit, daß von der Führung der
PKK an sämtliche Kader und Kreise der legalen Ebene der Befehl erfolgt
sei, in Aktion zu treten. In dem Schreiben wurde betont, daß die
HADEP und der Menschenrechtsverein IHD entsprechend dieses durch die Organisation
erfolgten Befehls eine Reihe von Aktivitäten vorbereiten würden
...“ Keine Absicht ?
Dies sind nur einige wenige Beispiele aus der letzten Zeit, die sich
endlos fortsetzen ließen. Durch diese Art der Propaganda laufen Menschenrechtsaktivist/innen
und kurdische Politikerinnen und Politiker Gefahr, jederzeit Ziel von Angriffen
und Attentaten zu werden. Drohanrufe und permanente Bedrohungen auf der
Straße sind an der Tagesordnung. (...)
Dies ist nun seit dem 12. November 1998 ins Unermeßliche gesteigert
worden ...
Seit diesem Tag und seitdem sich immer klarer herauskristallisierte,
daß es zu keiner Auslieferung Abdullah Öcalans kommen würde,
wird durch Politiker und Medien versucht, die Emotionen der Bevölkerung
in einer Art Dauerpropaganda aufzupeitschen. Permanent flackern Bilder
getöteter Kinder und Frauen über den Bildschirm, werden weinende
und schreiende Angehörige auf Begräbnissen gefallener Soldaten
gezeigt, werden verwundete Soldaten und Mütter gefallener Soldaten
interviewt, was sie tun würden, würde ihnen der „Mörder
von über 30.000 Menschen“ in die Hände fallen. Stets aufbereitet
mit entsprechend dramatischer Gestaltung und den Hinweisen, daß es
ja so etliche „Unterstützer/innen“ (siehe oben) im Lande gebe ...
Und die aufgepeitschten Emotionen entladen sich wie gewünscht ...
Im gesamten Land kommt es seitdem zu pogromartigen Ausschreitungen, meist
angeführt von organisierten Zivilfaschisten und häufig mit Unterstützung
der offiziellen Polizeikräfte ...
In den Stadtteilen ziehen Autokonvois hupend durch die Straßen
und heizen die Stimmung zusätzlich an. In Lynchstimmung ziehen Gruppen
z.T. in Größenordnungen von 1.000 bis 1.500 Menschen (Ümraniye
und Osmaniye/Istanbul) vor die Parteibüros der HADEP und andere kurdische
Einrichtungen, versuchen in die Gebäude einzudringen und die dort
anwesenden Menschen anzugreifen.
Auf das Parteibüro der HADEP in Mus wurde ein Brandanschlag verübt,
das Parteibüro Malatya beschossen und das Parteibüro in Izmir
am 29.11.1998 erneut mit Steinen und Stöcken angegriffen (Quelle:
HADEP Ankara).
Polizei ist in diesen Situationen entweder nicht vorhanden oder sie
schaut zu. (...)
Staatlicherseits werden die kleinsten Regungen von Protest, wie auch
zuvor schon immer, verboten und kriminalisiert, so z.B. passive Hungerstreiks
in den Büros der pro-kurdischen Partei HADEP, indem sie zu „Unterstützungsaktionen
der PKK“ erklärt werden.
Landesweit kommt es immer wieder zu überfallartigen Durchsuchungen
von Parteibüros der HADEP und anderen, insbesondere kurdischen Einrichtungen
durch die Polizei, bei denen bis heute tausende Menschen festgenommen und
Frauen, Kinder wie Männer z.T. schwer mißhandelt und gefoltert
wurden. Arbeitsunterlagen, Akten, Computer der Partei wurden beschlagnahmt.
Am 19.11. wurden auf Anordnung des Staatssicherheitsgerichtes Ankara
landesweit alle Parteibüros der HADEP durchsucht, z.T. kurz und klein
geschlagen. Wiederum am 19.11. wurden landesweit Redaktionsräume der
zur Zeit nicht publizieren könnenden Zeitung „Özgür Gündem“
durchsucht (Istanbul, Ankara, Urfa, Malatya, Diyarbakir, Van, Batman, Izmir)
und z.T. verwüstet, etliches Material beschlagnahmt und dutzende Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter festgenommen.
Die polizeilichen Operationen halten an.
Landesweit ist es bis jetzt zu über 3000 Festnahmen allein in
HADEP-Büros gekommen.
Gegen 204 festgenommene Parteifunktionäre wurde anschließend
Haftbefehl erlassen, unter ihnen:
6 Vorstandsmitglieder der Parteizentrale Ankara, u.a. der Vorsitzende
der HADEP, Murat Bozlak, der stellvertretende Parteivorsitzende, Bahattin
Günel und der Parteisekretär, Ahmet
Turan Demir,
7 Parteivorsitzende und 23 Vorstandsmitglieder verschiedener
Provinzen,
16 Vorstandsmitglieder verschiedener Landkreise sowie
10 Vorstandsmitglieder der Jugendkommissionen der Partei.
In Diyarbakr kam es zu über 1.100 Festnahmen, davon über 700
Menschen während der gegen die HADEP gerichteten Operationen. Gegen
53 HADEP-Funktionäre und Mitglieder wurden anschließend Haftbefehle
erlassen.
In diesen Zahlen sind nicht diejenigen Festnahmen enthalten, die auf
Straßen, Plätzen und in anderen Einrichtungen stattfanden.
Es ist ungeheuer schwierig, genaue Informationen zu erhalten, da kaum
noch intakte Strukturen bestehen, die kontinuierlich Informationen zusammenstellen
und weiterleiten können. Manche der Festgenommen werden kurz nach
einer Freilassung erneut festgenommen, etliche Orte wurden bereits mehrmals
Ziel polizeilicher Operationen.
Beim Abführen der Menschen sind plötzlich nicht genug Polizeikräfte
vorhanden, um diese vor der draußen wartenden Menge zu schützen
- einer Polizei, die sich sonst nicht zu schade ist, hunderte schwer aufgerüsteter
und bewaffneter Beamte gegen 30 Samstagsmütter einzusetzen - so daß
es zu etliche Schwerverletzten durch versuchte Lynchjustiz kam.
Bis jetzt sind zwei Menschen durch polizeiliche Übergriffe getötet
worden.
Kurden und Kurdinnen stehen z.Zt. im Bewußtsein auf, daß
sie den heutigen Tag eventuell nicht überleben werden ...
Die Stimmung ist schwer zu beschreiben. Aber es ist mir ein Anliegen
und ich möchte versuchen, sie anhand von ein paar Beispielen zumindest
ansatzweise nachvollziehbar zu machen.
1. Hamid Cakir, 18 Jahre, Bauarbeiter in Diyarbakir (Zusammenfassung
eines Interviews mit einem Cousin (1)):
Am Mittwoch den 18.11. begab sich Hamid zum Parteibüro der HADEP
in Diyarbakir, um den dort aus Protest hungerstreikenden Menschen einen
Besuch abzustatten, als plötzlich Polizei die Türen aufbrach
und in die Räumlichkeiten eindrang. Sie schlugen mit Knüppeln
und Fäusten auf die dort Anwesenden ein, traten sie mit Füßen.
Im Gebäude befanden sich zu dieser Zeit ca. 90 Personen, die anschließend
alle festgenommen wurden, etliche von ihnen in verletztem Zustand. Vor
den Augen aller wurde Hamid durch Schläge und Tritte insbesondere
an den Kopf schwerstens verletzt. Er starb innerhalb einer halben Stunde
noch vor Ort.
Die Polizei verhinderte jeden Versuch, ärztliche Hilfe anzuforden.
Der Leichnam Hamids wurde durch die Polizei sogleich in die Leichenhalle
des staatlichen Krankenhauses gebracht. Die offizielle Version der Todesursache
lautet „Herzinfarkt“.
Eine unabhängige Autopsie wurde verhindert und der Leichnam nicht
an die Angehörigen herausgegeben. Im Beisein von lediglich vier Angehörigen,
die die Polizei benachrichtigt hatte, wurde er sofort durch staatliche
Kräfte begraben. Ein Bruder, dem es gelang, einen Blick in den Sarg
zu werfen, sagte aus, dieser sei voll Blut gewesen. Photos oder Filmaufnahmen
waren nicht gestattet.
Nun wollen die Anwälte der Angehörigen eine erneute, echte
Autopsie durchsetzen und Anzeige gegen die beteiligten Staatskräfte
erstatten. Die Presse schweigt.
2. Metin Yurtsever, 45 Jahre, vor kurzem pensionierter Lehrer, Aktivist
der Lehrer/innengewerkschaft Egitim-Sen, Izmit... (Zusammenfassung eines
Interviews mit einer Angehörigen (1)):
Am 19.11. begab sich Metin auf Besuch bei der Partei HADEP in Izmir.
Während er sich dort aufhielt, wurden die Räumlichkeiten überfallartig
durch die Polizei durchsucht und die Anwesenden brutal verprügelt.
Zur gleichen Zeit kamen Faschisten aus ihrem Parteibüro im gleichen
Gebäude hinzu und stürzten sich ebenfalls auf die Anwesenden.
Der schon durch diesen Angriff schwer verletzte Metin und andere wurden
festgenommen und anschließend durch die Polizei gefoltert. Metin
starb an den erlittenenVerletzungen am Abend des 20.11.1998 gegen 20 Uhr.
Seiner ins Krankenhaus gerufenen Ehefrau konnte er noch zuflüstern,
er sei schwer gefoltert worden. Die Ehefrau sagte aus, der Körper
ihres Mannes sei unterhalb des Bauches so entstellt gewesen, daß
er als Körper nicht mehr zu erkennnen gewesen sei. Durch Eindringen
gebrochener Rippen in die Lunge wurde diese so schwer verletzt, daß
Metin nicht mehr gerettet werden konnte. Obwohl die erstuntersuchenden
Ärzte in einem Protokoll festhielten, Metin sei an den Folgen der
durch Schläge erlittenen Verletzungen gestorben, behaupten offizielle
staatliche Stellen in der Öffentlichkeit, er sei an Blurgefäßverengung
verstorben. Durch den Angriff wurden zwei weitere Personen so schwer verletzt,
daß sie sich über längere Zeit im Koma befanden. Die Presse
schweigt.
3. Augenzeugenbericht über die Lynchversuche einer aufgebrachten
Menge an kurdischen Menschen, Hand in Hand mit der Polizei am 17.11.1998,
Istanbul/ Beyoglu (Interview mit dem Augenzeugen und Betroffenen Selahattin
Bulut, Inhaber des Buchladens „Medya“, Beyoglu - Galatasaray)
„Gegen 12 Uhr befand ich mich auf dem Weg von einem Verlag zu meinem
Buchladen, der sich am Platz Galatasaray, an dem wöchentlich der Sitzprotest
der Samstagsmütter stattfindet, in einer Einkaufspassage im zweiten
Stock befindet. Daher konnte ich alles gut beobachten.
Eine Gruppe Kurden machte einen Sitzprotest in der Kirche St. Antonio.
Eine andere - ca. 60 bis 70 Menschen - kam Parolen rufend aus Richtung
Tunnel in Richtung Galatasaray. Es fiel mir auf, daß sich dort keinerlei
Polizei und Taxis befanden, obwohl am Platz Galatasaray sonst immer Polizei
postiert ist. Die Gruppe wollte sich dort gerade auflösen, als aus
der Menge heraus ein auffällig großer Mann „Es lebe Attatürk,
es lebe die Türkei“ skandierte. Wie auf ein Zeichen stürzten
sich Unmengen von Leuten auf die kleine Gurppe und begannen alle, die sie
in die Hände bekamen, brutal zu verprügeln. Viele wurden blutig
geschlagen und lagen verletzt auf der Straße - erst dann kam Polizei.
Doch statt die Angreifer festzunehmen, nahmen sie die verletzten Kurden
fest und führten sie zu Polizeibussen. Obwohl sich die Verletzten
schon in den Händen der Polizei befanden, wurde die Menge nicht daran
gehindert, weiter auf sie einzuschlagen. In den Polizeifahrzeugen schlug
auch die Polizei auf die Festgenommenen ein.
Ich habe dann meinen Laden zugemacht und bin ins Erdgeschoß gegangen.
Doch das Gitter am Eingang der Passage war verschlossen. Zivile Polizei
ließ das Gitter aufmachen und stürmte in die Passage. Sie riefen:
„Wo sind die Verräter, haben sich welche von den Verrätern hierhergeflüchtet?“
In sämtlichen neun Stockwerken des Gebäudes begannen Personalkontrollen.
Ich konnte beobachten, daß sie Menschen unter Schlägen abführten,
die nichts mit der Sache zu tun hatten, nur weil ihr Geburtsort im Ausweis
ein kurdischer ist.
Neben mir wurden drei kurdische Jugendliche festgenommen. Die Polizei
sah in ihre Ausweise, aus denen sich über den Geburtsort ergab, daß
sie Kurden sind. Sie führten sie ab und ketteten sie dann mit Handschellen
von außen an die Gitter des Passageneinganges.
So überließen sie sie der weiter tobenden Menge, die begann,
die Jugendlichen unter Parolen wie: „Die Türkei ist groß, es
lebe Attatürk“, zusammenzuschlagen. Sie schrien um Hilfe und baten
die Polizei, sie zu den Polizeibussen zu bringen. Doch die Polizei wartete
und führte sie erst nach einer Weile ab. (...)
4. Kiymet, eine der „Samstagsmütter“; Schwester des vor 3 ½
Jahren vor den Augen seiner Kinder entführten und seitdem „verschwundenen“
Fehmi Tosun; ihr Ehemann fiel in einem Gefecht mit türkischen Truppen,
sie kam vor ca. 3 Jahren nach Istanbul, zieht ihre Kinder alleine groß
und „lebt“ mit diesen in einem Keller im Stadtteil Avcilar/Istanbul. (Interview
mit der Betroffenen):
„Am 24.11. kam ich zusammen mit meinem fünfjährigen Sohn von
einem Besuch nach Hause. Ich ging noch schnell in den Garten, um die Wäsche
reinzuholen. Dort bemerkte ich drei Männer zwischen 18 und 20 Jahren,
die ich vorher noch nie gesehen hatte. Ich dachte, sie kommen wohl auf
Besuch zu einer der anderen Mietparteien im Haus. Nachdem ich wieder ins
Haus bin, schellte es. Sie kamen in den Keller und schlugen an unsere Tür.
„Mach auf“, brüllten sie. Ich weiß nicht warum, auf einmal hatte
ich so eine Ahnung und ich sagte, „Nein, was wollt ihr ?“. Sie schrien:
„Ihr verfluchten Kurden, ihr seid Kurden, die Istanbuler Kurden lassen
wir nun nicht mehr in Ruhe. Was habt ihr hier zu suchen?“
Ich hatte totale Angst, daß sie die Tür einbrechen würden.
Sie schimpften. „Scheiß Kurden, ihr tötet unsere Soldaten.“
Dann war es eine Weile ruhig. Sie gingen weg, kamen aber zurück und
fingen wieder an:
„Wir werden Euch hier nicht am Leben lassen, wir wissen ja, wo ihr
wohnt, das hier ist noch nicht zu Ende“. Sie haben ekelhafte Beschimpfungen
ausgestoßen. Ich konnte die ganze Nacht vor Angst nicht schlafen.
Und wenn sie wiederkommen, und wenn sie den Kindern etwas antun ...?“
(...)
Es ist daher dringend erforderlich, daß diese Kräfte, auch aus dem Ausland, anerkannt, unterstützt und gestärkt werden. Denn ohne sie ist eine entscheidende Veränderung der diesem Konflikt zugrundeliegenden Struktur nicht denkbar.
Jutta Hermanns, Assessorin, Istanbul, ist Mitarbeiterin des Büros „Rechtliche Hilfe für von staatlichen Kräften vergewaltigte und auf andere Art sexuell gefolterte Frauen“.
(1) Personen sind der Verfasserin bekannt, Namen aus Sicherheitsgründen
nicht genannt