Özgür Politika, 14.09.2002

Ich werde nicht zulassen, dass gesagt wird: "Gülistan hat aufgegeben."

von Suna Isik

Nach der Vergewaltigung fühlte ich Wut wenn ich auf die Straße ging und die Menschen sah. Ich stand kurz davor, die Menschen anzugreifen oder mit den Worten "Wo wart ihr damals?" anzuschreien. Ich wollte ihnen zuschreien: "Ich habe dies nicht meinetwegen, sondern euretwegen erlebt. Auch ich hätte friedlich zu Hause sitzen können, aber ich musste dies erleiden, weil ich wollte, dass es euch gut geht."

Gülistan wollte, dass alles in Mardin, wo ihre Geschichte begann und wo sie "ihr gesamtes Bewußtsein" erlangt hat, ein Ende findet. Sie hat, indem sie ihre Seele mit den tiefen Wunden dort zurückgelassen hat, ihren Körper zunächst nach Istanbul und später nach Deutschland gebracht. Die Polizisten, die ihr 1998 in den engen Gassen von Mardin den Weg versperrt hatten, haben sie nur 7 Stunden festgehalten. Dies war nicht lange, nur 7 Stunden. Als sie nachts in einer unbewohnten Gegend ausgesetzt wurde, hatte sie das Gefühl für die Zeit verloren. In dieser Nacht hatte sie zum ersten Mal ein neues Gefühl - Angst - kennen gelernt. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie die Worte "Bitte nicht!" gesagt.

Die 1998 in Mardin festgenommene Gülistan, war während der 7-stündigen Verhaftung von zwei Polizisten vergewaltigt worden. Bis zu der Zeit, als die Ärzte in Izmir, wo sie wegen der psychischen und körperlichen Erschütterung in Behandlung war, dies feststellten und ihren Eltern mitteilten, hatte sie niemandem etwas über ihre Erlebnisse in dieser Nacht gesagt. Auf die Frage, warum sie mit niemandem gesprochen hatte, fasst Gülistan zusammen: "Ich wollte nicht, dass irgend jemand Mitleid mit mir hat und darum habe ich niemandem etwas gesagt und habe mich nur selbst bemitleidet." Die vor kurzem nach Köln gekommene Gülistan ist vom Hilfsprojekt Rechtshilfe für Opfer von Missbrauch und Vergewaltigung während der Inhaftierung unterstützt worden und hat mit Hilfe ihrer Anwältinnen Eren Keskin und Fatma Karakus Strafanzeige gestellt. Denn sie weiss jetzt, dass auch ihre erhobene Stimme notwendig ist, damit der Schmerz anderer aufhört. Gülistan erzählt uns über die nach der Vergewaltigung in ihrer Seele aufgerissenen Wunden und den Kampf gegen sich selbst.

Ist deine Verhaftung ein Teil der damals häufig stattfindenden Verhaftungen?

Eigentlich ist es zum Teil auch ein bisschen wegen meiner Familie. Sie war eine wegen ihrer Aktivitäten bekannte Familie. Mein älterer Bruder saß im Gefängnis. Schon vor 1998 war ich zweimal festgenommen worden, aber nach meiner aktiven Arbeit bei HADEP hat sich die Lage verändert. Ich war die einzige Frau bei HADEP, die effektiv arbeitete. Zur gleichen Zeit war ich dort im Vorstand und Vorsitzende des dortigen Frauenverbandes. Sie konnten nicht akzeptieren, dass eine Frau aktiv ist. Ich war eine Woche vor diesem Vorfall schon mal festgenommen worden, wogegen ich Anzeige gestellt hatte. Dies hatte sie beunruhigt.

Gab es Augenzeugen deiner Verhaftung, wie lange wurdest du festgehalten?

Niemand wusste Bescheid. Ich wurde aus der Stadt gebracht und 7 Stunden festgehalten. Mitten in der Nacht wurde ich freigelassen. Die Vergewaltigung hat sich während dieser 7 Stunden ereignet. Zwischen meinem 16. und 22. Lebensjahr wurde ich an die hundert Mal verhaftet, aber offiziell gibt es nur 15 Verhaftungen. Manchmal wurde ich eine Woche, manchmal ein, zwei Tage gefoltert. Die ganze Unterdrückung sollte mich dazu bringen, Mardin zu verlassen.

Was hast du nach deiner Freilassung getan?

Ich war schon vorher verhaftet und gefoltert worden, doch zum ersten Mal spürte ich nach einer Freilassung Angst. Auch meine Freunde haben das gemerkt. Sie haben mich gebeten, sofort gemeinsam zur Staatsanwaltschaft zu gehen was ich aber abgelehnt habe. Ich habe ihnen gesagt, dass ich Angst habe. Die Freunde waren erstaunt als sie dies hörten, denn das hatte ich ihnen nicht gesagt, als ich ihnen vorher gesagt hatte, dass ich Mardin verlassen werde. Sie haben mich unter Druck gesetzt, bis sie mich überredet hatten, zur Staatsanwaltschaft zu gehen. Als wir dorthin gegangen sind, habe ich alles dem Staatsanwalt gesagt. Ich habe gesagt, dass ich gefoltert worden bin aber von der Vergewaltigung habe ich dort nichts erwähnt. Er hat den Leiter des Büros für Sicherheit bestellt und uns gegenüber gestellt. Der Leiter hat alles geleugnet. Trotz allem hat der Staatsanwalt alles zu Protokoll aufgenommen und registriert.

Was meinst du, was sie für Zorn verspüren, weil du als Frau politisch tätig bist?

Unsere Frauenarbeit war sehr stark. Dies konnten sie nicht ertragen. Sie sagten: "Wir werden schon nicht mit euren Vätern und Männern fertig, seid ihr jetzt an der Reihe?" Und wenn du auch noch als Frau während der Festnahme Widerstand leistest, können sie dies erst recht nicht ertragen.

Hast du deinen Freunden, deiner Familie mitgeteilt, was du in dieser Nacht erleiden musstest?

Nein. Denn ich war der Meinung, dass sie Mitleid mit mir haben werden, wenn sie es erfahren würden. Und je mehr Mitleid sie hätten, desto mehr würden sie traurig darüber sein. Sie würden mich mit anderen Augen betrachten. Wir hatten mit den dortigen Müttern eine intensive Beziehung. Unter ihnen waren welche, die ihre Töchter und Söhne verloren hatten und ich wollte ihnen keinen Schmerz bereiten. Sie betrachteten mich wie ihre eigene Tochter. Jedes Mal, wenn sie mich gesehen hätte, würden ihre Augen in Tränen stehen. Das konnte ich nicht tun. Ich schwieg, bemitleidete mich selber und war traurig.

Hast du es noch nicht einmal einer engen Freundin/einem engen Freund erzählt?

Bis ich in Izmir in Behandlung kam, wusste es niemand. Und meiner Familie haben es auch die Ärzte mitgeteilt. Sie waren am Boden zerstört. Und das obwohl meine Familie sehr stark ist. Sie haben mir den Mut des Widerstandes bei den Festnahmen gelehrt.

Hast du dich zu der Strafanzeige entschieden, weil es während deiner Behandlung bekannt geworden ist?

Nach der Behandlung habe ich mit ein, zwei Freunden meine Erlebnisse verarbeitet. Ich habe mir selber Fragen gestellt. Ich habe mir selber gesagt, dass es jetzt genug ist. Ich wollte meine Stimme erheben, und dass die ganze Welt erfährt, was wir erleiden. Ich wollte, dass es bekannt wird, dass ich die Vergewaltigung erleiden musste, weil ich in einer politischen Partei und für die Frauen tätig war. Es wurde Zeit, dass die Gesellschaft sich selber verurteilt. Zu Beginn hatte ich keinen starken Willen, aber je mehr ich darüber nachdachte, war ich der festen Überzeugung, das Richtige zu tun. Ich habe sehr mit mir gekämpft

Sehr viele der Frauen, für die du eine Lösung zu finden versucht hast, haben während des Krieges tiefe Wunden erlitten. Hat also dein Verhalten, so zu tun, als wenn es diese Vergewaltigung nicht gegeben hat, in dir nicht großen Widerspruch geweckt?

Ja, hat es.

Hast du dich schon mal mit der Frage auseinander gesetzt oder darüber nachgedacht, ob sich so ein Widerspruch schwächend auf den Kampf im Leben des Menschen auswirkt?

Dieser Aspekt war in der Tat sehr wichtig für mich. Ich hörte den Frauen zu, die Schläge von ihren Männern bekommen hatten, sprach aber noch nicht einmal darüber, dass ich von Polizisten geschlagen worden bin. Ich versuchte die Ungerechtigkeiten die sie erlitten, bekannt zu machen, aber meine eigenen Erlebnisse konnte ich nicht mitteilen. Und die Menschen, die mir das angetan hatten, waren auch noch diejenigen, die ich als "Feind" betrachtete. Ich verschüttete es regelrecht in mir, aber gleichzeitig versuchte ich die Stimme der anderen zu sein.

Wenn ich nach Hause kam, sagte ich mir selber: "Gülistan, du bist nicht ehrlich zu dir selbst. Wie kannst du anderen eine Hilfe sein, wenn du dein eigenes Problem nicht überwindest ?" In dem Moment überkam es mich aufzugeben. Ich sagt zu mir: "Wenn du es nicht mal offen sagst, dann hör auf und versuche nicht, anderen zu helfen.

Ich kann euch auch ein Beispiel geben. Ich hatte eine junge, 14-jährige Freundin. Newroz wurde sie festgenommen und nur 3-4 Stunden festgehalten. Nachdem die freigelassen worden war, kam sie zu mir. Sie sagte mir: " Sie haben meine Brüste begrapscht." Sie war in solch einer schlimmen Verfassung. Und ich habe ihr sofort gesagt: "Wir werden sofort Beschwerde einlegen." Aber sobald ich diese Wörter gesagt hatte, habe ich innegehalten. Weiter konnte ich es nicht schaffen. Sie war ein Mädchen von 14 Jahren. "Werden sie mir nicht auf die Pelle rücken?" fragte sie, worauf ich antwortete: "Hab keine Angst und sei mutig." Ich habe ihr sehr viel gesagt. Aber zu mir selbst konnte ich dies nicht sagen.

Es gibt vermutlich keine Grenze der Zerstörung, die solch ein Vorfall in einem Menschen anrichten kann. Was hat es dir denn der Mut gebracht, dies offen darzulegen?

Ich habe stärkeres Selbstvertrauen erlangt. Ich habe das Gefühl der Schuld überwunden. Und was mich am meisten stärkt, dass ich vielleicht denen, die auch so etwas erleiden Mut gebe. Ich bin ruhiger, ich schäme mich nicht. Ich fühle mich aber leider gezwungen zu sagen, dass tief in mir immer noch eine Ablehnung dagegen ist.

Es in sich zu verbergen führt den Menschen zu noch tieferer Verletzung, es nicht geheim zu halten bedeutet die Bedeutung des allgemeinen Ehrbegriffs zu überwinden. Man wird sich klarer darüber: "Dies ist nicht die Ehre". Mir hat dieser Punkt auch sehr zu schaffen gemacht. Als die Polizisten sagten: "Du gibst uns deine Ehre.", sagte ich: "Meine Ehre ist Kurdistan und ihr seid gerade auf diesem Boden." Aus meinem Mund kamen zwar diese Wörter, aber innerlich wurde ich verrückt. Ich konnte innerlich nicht überwinden, dass ich "...meine Ehre ausgeliefert habe." Ich fühlte mich beschmutzt. Eine Zeit lang musste ich mich ständig waschen. Ich war mir selber fremd geworden. Meinen Körper zu sehen war wie eine Folter für mich.


Ich werde eine Stimme der erlebten Schmerzen werden


Ein Mensch, der Widersprüche überwunden hat, kann Menschen besser verstehen oder besser gesagt, intensiver deren Gefühle fühlen. Hast du dir selber nach all dem Erlebten gesagt, "Ich kann die Erlebnisse der Frauen besser nachvollziehen?"

Nach diesen Erlebnissen habe ich verstanden, wie viel Schmerz die Frauen erleiden, in welch schlimmer Situation sie sich befinden, wie sehr sie ausgebeutet werden. Danach habe ich gedacht, dass fast jede Frau in ihrem Haus ähnliches durchlebt. Daher wurde ich mit den Frauen in meinem Umfeld eine noch stärkere Einheit. Das geteilte Leid führt dazu, dass sich die Frauen besser verstehen.

Haben dich deine Erlebnisse zu der Überlegung gebracht einen Schritt zurück zu tun?

Zuerst hatte ich nach der Vergewaltigung dieses Gefühl und wollte Mardin verlassen. Ich dachte, dass ich es nie wieder schaffen werde. Nicht vor dem Tod, aber noch Schlimmeres zu erleiden, hatte ich Angst. Zwei, drei Tage hielt ich mich in Midyat auf. Ich habe mit meiner Cousine darüber gesprochen, die mir daraufhin gesagt hat: "Du wolltest dich doch immer für die Ungerechtigkeiten, die wir erleben, rächen. Willst du dich nicht dafür rächen? Sie werden sich darüber freuen, dass noch ein Mensch aufgegeben hat. Möchtest du sie dieses Gefühl erleben lassen?" Als ich diese Worte gehört habe, bin ich am nächsten Tag nach Mardin zurückgekehrt. Und ich habe nie wieder an so etwas gedacht. Ich wollte nicht, dass sie dieses Gefühl der Freude erleben. Ich wollte sie nicht sagen lassen, dass Gülistan aufgegeben hat.

Du bist erst seit sehr kurzer Zeit hier. Was denkst du als nächstes zu tun?

Ich möchte mich wieder zusammenraffen, meine Gesundheit verbessern und den Kampf weiterführen. Ich möchte auf die Berge meiner Heimat. Ich glaube nicht daran, dass ich hier leben kann. Ich werde zwar das Leben hier lernen, aber mich nicht daran eingewöhnen. Zu aller erst werde ich hier über das Leben in der Heimat, das Leben der Menschen dort erzählen. Ich habe mir dies als Projekt vorgenommen. Ich werde versuchen, eine Stimme der erlebten Schmerzen zu sein.