Özgür Politika, 18.10.2002 ANN-KRISTIN KOWARSCH: Frühlingstage im Oktober Es ist unmöglich, nicht von der bunten Welle der Hoffnung und der Energie ergriffen zu werden, die in diesen Tagen von den Wahlveranstaltungen der DEHAP ausgehend bis zu uns nach Europa getragen wird. Insbesondere das aktive Engagement und die Entschlossenheit der Kanditatinnen sind zu einem lebendigen Beispiel für die Unaufhaltbarkeit der demokratischen, gesellschaftlichen Erneuerung geworden. Jedoch greift es zu kurz, diesen Erneuerungsprozess allein als die massenhafte Beteiligung von Frauen in allen Bereichen der politischen und organisatorischen Aktivitäten zu beschreiben. Dies wird meiner Meinung nach der revolutionären Qualität, die die Entwicklung der demokratischen Dynamiken beinhaltet, nicht in ihrem vollen Umfang gerecht. Die Energie, die von Frauen und Mädchen jeden Alters in diesen Tagen auf die Strassen kurdischer und türkischer Städte getragen wird, ist ein Ausdruck ihres politischen Bewusstseins: Sie lassen es nicht mehr zu, dass andere für sie reden, sie reden selbst; sie zeigen ihre eigenen Farben; sie erheben ihre eigenen Forderungen, stellen ihre Standpunkte dar und sie haben sich ihr eigenes Programm gegeben. Die Führungsrolle der Frau im politischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozess ist nicht mehr nur eine abstrakte Parole, keine zukunftsweisende Perspektive, sondern sie nimmt konkrete, reale Formen an: So ist das Frauenmanifest der DEHAP nicht auf einige „frauenspezifische Zusatzforderungen“ beschränkt. Es stellt vielmehr einen Aktionsplan mit konkreten Schritten zur Überwindung des Mangels an Demokratie in Staat und Gesellschaft für eine gleichberechtigte, freiheitliche Gesellschaftsentwicklung dar. Hierbei werden von Themen wie Ausbildung, Gesundheit, Umweltverschmutzung, Gewalt, Rechtssprechung bis hin zu Frauenarbeit und Prostitution alle Bereiche behandelt, die das Leben der Gesellschaft und der Individuen unmittelbar betreffen. Auf der Basis eines Frauenstandpunktes ist ein ganzheitlicher Lösungsansatz unter der Berücksichtigung der in diesen Bereichen vorhandenen spezifischen Probleme ausgearbeitet worden. Wenn wir uns zugleich vor Augen halten, dass allein in den letzten Tagen mehr als 28 Frauen-Wahlbüros eröffent wurden, in denen tagtäglich hunderte von Frauen zusammentreffen, ihre Probleme, Wünsche und Lösungen diskutieren, so sehen wir, dass Worte und Taten einander ergänzen. Frauen nehmen einander ernst, geben einander Kraft, fügen ihre Erfahrungen und ihr Wissen zusammen. Sie bereiten sich auf ihre zukünftigen Aufgaben vor und lassen damit zugleich eine starke Grundlage für eine Verbreitung und Professionalisierung des Aufbaus von Fraueninstitutionen entstehen. Dieser Aufbau hat bereits begonnen, und er wird mit Sicherheit auch nach dem 3. November weitergeführt werden. Denn dies ist die sicherste Garantie dafür, dass sich das Rad der Geschichte nicht wieder zurückdrehen lassen wird. Die
Frühlingsluft, die in diesen regnerischen, grauen Herbsttagen zu
uns herüber weht und ihre Wärme verbreitet, hat auch uns erreicht.
Als in Europa lebende Frauen begleiten wir diesen Prozess mit Spannung
und Aufmerksamkeit, er gibt uns Kraft, neue Anregungen und Ansporn,
hinter diesen von unzähligen mutigen Frauen initiierten Entwicklungen
nicht zurückzubleiben. In diesem Sinne gilt es die Einladung zum
Kampf um eine gerechte Gesellschaftsordung, für Freiheit, Demokratie
und Frieden weiterzutragen. Nur so können wir angesichts der aktuellen
Kriegsdrohungen und des von den USA geschürten, bedrohlichen Chauvinismus
unserer Verantwortung gerecht werden, die wir als Frauen für eine
lebenwerte, freie Zukunft tragen.
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