Özgür Politika, 09.12.2002 Mustafa Karasu: Übergangsphase ist beendet In der Türkei herrscht seit dreieinhalb Jahren eine Atmosphäre relativen Friedens. Diese Phase wurde von der Befreiungsbewegung eingeleitet und bewahrt. Auch die türkische Armee hat ihre Operationen verglichen mit vergangenen Zeiten reduziert. Die PKK hat diese Phase genutzt, um eine geeignete Atmosphäre für eine Lösung zu schaffen. Sie hat gewusst, dass eine sofortige Veränderung und Lösung nicht möglich ist. Um den Chauvinismus und die bestehenden Vorurteile zu knacken, war Zeit notwendig. Wie schon Einstein gesagt hat, ist es schwieriger, Vorurteile zu zerstören als Atome zu spalten. Wenn in dieser dreijährigen Phase auch nicht das gewünschte Niveau erreicht worden ist, um die Grundlagen für eine demokratische Lösung zu schaffen, so ist dies doch teilweise gelungen. Es wurden Anzeichen dafür deutlich, dass in der Herangehensweise an die kurdische Frage eine Aufweichung stattfindet. An die Stelle von Vorurteilen und Gefühlsduselei ist ein realistischeres Denken getreten. Die Kräfte, die mit Chauvinismus Politik machen, haben sich zurückgezogen. Bei den Wahlen vom 3. November ist es keiner der Parteien der alten Ordnung mehr gelungen, ins Parlament einzuziehen. Somit ist die Übergangsphase beendet worden, die notwendig war, um vom Krieg zu einem Lösungsprozess zu gelangen. Der KADEK-Vorsitzende Abdullah Öcalan hat in Anbetracht dieser Tatsache festgestellt: „Eine vierjährige Phase ist zu Ende gegangen. Es beginnt eine neue Zeit.“ Und er hat hinzugefügt, dass er auch in dieser neuen Phase seine Aufgabe erfüllen wird. Auch die KADEK-Leitung hat in ihrem Kommuniqué für eine dringende Lösung eine ähnliche Herangehensweise vorgelegt. Der Krieg ist vorbei. Chauvinismus, gefühlsbetontes Handeln und Vorurteile haben den Rückzug angetreten. Das kurdische Volk hat unzählige Male deutlich gemacht, dass es eine Lösung der bestehenden Probleme auf demokratischem Weg vorzieht. Aber die kurdische Frage ist immer noch nicht gelöst. Wie gestern wartet sie auch heute noch auf ihre Lösung. Bis zu einem gewissen Grad ist es begreiflich, dass in der stattgefundenen Übergangsphase keine besonders tiefgreifenden Schritte gesetzt worden sind. In Anbetracht der Realität der Türkei ist es nicht besonders realistisch, auf eine sofortige Lösung zu pochen. Aber es ist völlig unverständlich, warum in einer Zeit, in der sich die klassischen Politiker aus der politischen Arena zurückgezogen haben, keine Annäherung an die Lösung der kurdischen Frage stattfindet. Das Übergehen der kurdischen Frage bedeutet die Fortsetzung der alten Politik mit neuen Methoden. Es handelt sich dabei bekannterweise um eine Hinhalte- und Zermürbungstaktik, die ihren Ausdruck in der Herangehensweise der alten Politikform unter dem Motto „weder Krieg noch Frieden“ findet. Aus diesem Grund hat Öcalan gesagt, „wenn keine Lösung gefunden wird, spreche ich den KADEK frei“. Damit hat er die Botschaft gegeben, dass die „Weder Krieg noch Frieden“- Politik nicht annehmbar ist. Es bedeutet, dass in der neuen Zeit nicht die alten Positionen fortgesetzt werden können. Wenn gestern eine Annäherung an eine Lösung nicht sichtbar war, so bedeutet das etwas anderes, als wenn heute immer noch keine Lösung in Sicht ist. Die alte Regierung verfügte nicht über ein Verständnis, mit dem das Problem hätte gelöst werden können. Man kann sogar davon ausgehen, dass es in gewisser Weise in der Übergangsphase Sinn gemacht hat, die Frage für eine Zeitlang beiseite zu legen. Für die neue Regierung jedoch bedeutet dies ein gefährliches Spiel. Das Alte ist überwunden worden, weil es unfähig zu einer Lösung war. Es war das Schicksal der ehemaligen Regierung, überwunden zu werden. Aber wenn die Regierung, die durch die tendenzielle Forderung nach Veränderung und Lösung an die Macht gekommen ist, sich einer Lösung verweigert, dann lädt sie förmlich dazu ein, den Krieg fortzusetzen. Denn eine solche Haltung bedeutet, das kurdische Volk und die nationale demokratische Bewegung hinzuhalten und somit der Vernichtung auszusetzen. Und diese Situation setzt unweigerlich für das kurdische Volk das Thema Selbstverteidigung auf die Agenda. Der Kampf und der Krieg von früher waren eine Antwort auf die Zermürbungsstrategie nach dem Motto „Weder Krieg noch Frieden“. Wenn die neue Regierung weiterhin diese Zermürbungsstrategie anwendet, wird der erneute Ausbruch von Krieg aktuell. Diese Möglichkeit besteht immer. Der Grund dafür, dass heute noch kein Kriegszustand herrscht, liegt darin begründet, dass die Zermürbungsstrategie nicht mehr wie früher zu prompten Ergebnissen führt. Wenn auch die verleugnerische und ignorante Mentalität sich nicht verändert hat, so haben doch in der Türkei und der Region bedeutende Veränderungen stattgefunden. Es existiert ein kurdischer demokratischer Wille und eine kurdische demokratische Kraft. Das kurdische Volk hat Verteidigungsmechanismen gegen die Zermürbungsstrategie entwickelt. Es hat den Impfstoff für Krankheiten dieser Art gefunden. Die kurdische demokratische Revolution sowie die dadurch erschaffene Dynamik und der Widerstand bieten dem kurdischen Volk Alternativen für einen anderen politischen Kampf. In diesem Sinn muss die Tatsache verstanden werden, dass es noch nicht wieder zum Krieg gekommen ist. Auch die Regierung der Türkei und die zuständigen Stellen sollten sich dieser Tatsache bewusst sein und nicht in einen Irrtum verfallen, den sie später bereuen werden. In der neuen Phase tritt der Kampf des Volkes in einen anderen Prozess. Es geht nicht mehr darum, die Atmosphäre für eine Lösung vorzubereiten, sondern darum, auf einer Lösung zu bestehen. Das ist die Besonderheit der neuen Phase. Wir ziehen eine demokratische Lösung vor. Ein demokratisches, freies Zusammensein innerhalb der Türkei liegt im Interesse aller. Solange sich jedoch dagegen gesträubt wird, die Rechte des kurdischen Volkes anzuerkennen, wird auch das Recht auf Selbstverteidigung bewahrt. Dieses Recht zu nutzen, ist legitim. Solange die Türkei sich nicht geneigt zeigt, das Problem zu lösen, wird sie die Volksverteidigungskräfte als eine Gefahr betrachten, die beseitigt werden muss. Somit werden Gefechte ausbrechen. Und tatsächlich haben in den letzten Tagen in Botan und Amed Gefechte stattgefunden, die wir bisher nicht der Öffentlichkeit bekannt geben wollten. Bei den Gefechten sind fast zwanzig Soldaten getötet worden. Außerdem wurden einige Waffen beschlagnahmt. Die Übergangsphase hat ihr Ende nicht nur für die kurdische demokratische Bewegung erreicht, sondern auch für die Türkei. Und die Türkei wird sich entweder einer Lösung annähern oder ihre Angriffe steigern. Niemand sollte sich von der Aufhebung des Ausnahmezustandes in die Irre führen lassen. Auch die Entscheidung der Türkei, sich an der Seite der USA an der Irak-Intervention zu beteiligen, steht mit dieser neuen Phase in Zusammenhang. Die Türkei geht davon aus, dass aus einer Beteiligung am Irak-Krieg Vorteile für sie selbst gegenüber des KADEK entstehen. Der KADEK kündigt an, dass er in der jetzigen Phase auf alle Möglichkeiten einschließlich von Krieg vorbereitet ist. Eine
Besonderheit der neuen Zeitphase und eine Seite unseres Kampfes wird an
der Situation des KADEK-Vorsitzenden deutlich. Die Beschränkungen,
denen Öcalan unterworfen ist, zeigen die Haltung des Staates in der
neuen Zeitphase auf. Keine Kurdin und kein Kurde wird diese Situation
akzeptieren. Die neue Zeitphase muss als eine Phase begriffen werden,
in der in der Person Öcalans das kurdische Volk und die Völker
der Türkei ihren Kampf für Freiheit und Demokratie stärken
werden. Die ersten Monate des Jahres 2003 sind eine Prüfung für
die Türkei zu den Themen Freiheit und Demokratie. Ob sie ihre Hausaufgaben
gut macht und besteht, können wir jetzt noch nicht wissen. Wie jeder
andere auch werden wir die Antwort auf diese Frage mit der Zeit erfahren.
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