Die Welt, 13.03.2003 Öcalan bekommt eine neue Chance Menschenrechtsgerichtshof rügt Verstöße der Türkei gegen Europäische Konvention - Ankara legt Widerspruch ein von Dietrich Alexander Berlin - "Das 21. Jahrhundert wird ein türkisches sein", prophezeite einmal der ehemalige türkische Staatspräsident Süleyman Demirel. Danach aber sieht es bisher nicht aus. Denn noch immer gibt es keinen Termin für die Aufnahme der Beitrittsgespräche mit der EU, die Verhandlungen über die Wiedervereinigung Zyperns sind gescheitert - wofür nicht wenige vor allem die Türken verantwortlich machen -, und jetzt auch noch das: Abdullah Öcalan, Ankaras Staatsfeind Nummer eins, bekommt womöglich einen neuen Prozess. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg befand nämlich, dass die türkische Justiz in dem Verfahren gegen den Kurdenführer gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen hat. Der Staatssicherheitsgerichtshof, der den heute 53-Jährigen im Juni 1999 wegen "Separatismus, Hochverrats und Anführung einer bewaffneten Armee" zum Tode verurteilt hatte, sei kein "unabhängiges und unparteiisches" Tribunal gewesen - zumal ihm zeitweise ein Militärrichter angehört hatte. Das Todesurteil wurde zwar im vergangenen Jahr aufgehoben und in lebenslange Haft umgewandelt, es sei aber dennoch unmenschlich gewesen, da Öcalan bis dahin jederzeit die Vollstreckung habe befürchten müssen. Die Türkei muss die Prozesskosten von 100 000 Euro tragen. Das Urteil erging mit sechs zu einer Stimme - nur der türkische Richter stimmte dagegen. Ankara kündigte sofort Einspruch an. Sollte der abgewiesen werden - wofür einiges spricht -, hat Öcalan Anrecht auf einen neuen Prozess, der dann unter den strengen Auflagen europäischer Rechtsleitlinien zu führen sein wird. Da die Türkei Mitglied im Europarat ist, sind Urteile des Straßburger Gerichts bindend. Die Straßburger Richter machten noch eine Reihe weiterer Verstöße geltend. So sei Öcalan nach seiner Festnahme im Februar 1999 durch türkische Agenten in Kenia und seiner Verschleppung in die Türkei nicht sofort einem Richter vorgeführt worden. Und er habe sich durch seine Aussagen selbst belastet, weil seine Anwälte nicht sofort zu ihm gelassen wurden. Ein
neuer Prozess würde am Urteil vermutlich nichts ändern, würde
aber die Wunden der Vergangenheit wieder aufreißen, die in der Türkei
zu vernarben begonnen hatten. Öcalan hat an der Spitze der verbotenen
Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) 15 Jahre gegen die türkische Regierung
gekämpft, 30 000 Menschen auf beiden Seiten wurden dabei getötet.
Er ist heute einziger Häftling auf der Gefängnisinsel Imrali
im Marmarameer.
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