Özgür Politika, 20.03.2004 Dafür müssen eine Million Menschen bereit sein... Abdullah Öcalan, der führende kurdischer Politiker, betonte, das Kurdenproblem in der Türkei, Syrien und Iran könne nur auf dem Boden von „demokratischen, freien und gleichen staatsbürgerlichen Rechten“ gelöst werden. Er schlug vor, Millionen von Menschen in einem umfassenden Komitee zu organisieren. „In diesem Sinne gratuliere ich zu Newroz“, sagte er. Öcalan forderte, die kurdische Frage auf der Basis einer „demokratischen, freien und gleichberechtigten Staatsbürgerschaft“ anzugehen. Für Syrien rief er dazu auf, angesichts der jüngsten Ereignisse ein „Komitee für Demokratie und Rechte“ zu gründen. Öcalan wies darauf hin, dass dieser Bürgerbewegung alle Teile der Gesellschaft, auch Stadtverwaltungen und Juristen angehören müssten. Er betonte, wenn die kurdische Frage in Syrien nicht im Rahmen von „demokratischen Grundsätzen“ angegangen werde, könne sich eine Situation ergeben wie die von Saddam Hussein im Irak durch die Intervention der USA. Daher habe dieser von ihm vorgeschlagene neue Schritt den Charakter einer demokratischen Offensive. Öcalan verlangte, den Kurden ihre demokratischen Rechte zu gewähren und kritisierte scharf, dass die Gesetze in der Türkei für die Kurden anders ausgelegt würden. Auch die Politik Syriens gegenüber den Kurden kritisierte Öcalan: „Dies ist ein übles Spiel. Wir müssen verhindern, dass Kurden und Araber gegeneinander aufgehetzt werden“ Er bemerkte, der 10 Punkte-Katalog der „Bürgerbewegung für Demokratie, Freiheit und Gleichheit“ könne auch auf die syrischen Verhältnisse angewandt werden. „Lasst uns kulturelle Rechte und das Recht auf Bildung ganz vorne in das Programm der Bewegung für Freiheit und Bürgerrechte schreiben. Denn das Problem der Bürgerrechte ist das vordringlichste Problem Syriens. Auch unsere Freunde sollten das vertreten,“ betonte er. In diesem Land wolle man die Rechte des kurdischen Volkes verletzen, daher warnte er: „Wenn diese Rechte nicht anerkennt werden, greifen die USA ein und es passiert das gleiche wie bei Saddam.“ Auch in seiner jüngsten Erklärung betonte Öcalan die Wichtigkeit von Frieden und Geschwisterlichkeit in der Region. Mit der Forderung nach Akzeptanz der Völker auf der Basis von Freiheit und Gleichheit könne man auch mit dem Iran und anderen Ländern Beziehungen aufnehmen. Er wies auf die Situation im Iran hin und signalisierte, auch dort könne man eine ähnliche Arbeit beginnen. Die Bewegung für Demokratie und freie Bürgerrechte sei nicht gegen den Staat gerichtet, sondern beharre lediglich auf einer „freien und gleichberechtigten Staatsbürgerschaft“, betonte Öcalan. Er gab als Ziel an, mindestens eine Million Menschen auf diese Weise zu organisieren und betonte auch die Bedeutung von Bildung und kulturellen Rechten in der Türkei, dem Iran und Syrien. „Die Türkei kann nicht länger schweigen“ Öcalan bemerkte, dass die Türkei eine kritische historische Phase durchmache und kommentierte dies folgendermaßen: „Lange kann die Türkei nicht mehr in diesem Schweigen verharren.“ Es gebe auch weiterhin im In- und Ausland Profiteure und Korruption, dass müsse aufgedeckt werden. „Auf das Problem von Regierung und Staat werde ich nicht eingehen. Demokratie ist notwendig, freie und gleiche Bürgerrechte sind notwendig. Die kurdische Bewegung, die Bürgerbewegung für Demokratie, Gleichheit und Freiheit organisiert sich als Komitee für Demokratie und Rechte in jeder Provinz, in jedem Landkreis. Das sind legale Komitees für Grundrechte.“ „Ich erweitere den Begriff der Demokratie“, sagte Öcalan und ging auch auf seine Überlegungen zum Sozialismus ein. Er betonte, die türkische Linke vertrete ein Sozialismusverständnis vom „Teilhaben an der lokalen Staatsbürokratie“. Dies definiere er auch als „Postenjagd-Sozialismus“ und fragte: „Muss man sich dafür so sehr anstrengen, so viel Arbeit investieren und so viel Folter ertragen? Das ist doch sinnlos. Ich neige eher dazu, dem Staat weder etwas aufzudrängen, noch etwas von ihm zu fordern. Ich nenne das nicht-staatlich. Eine staatslose Haltung. Ich sage nicht 'anti-staatlich', sondern 'nicht-staatlich'. Nicht 'Entweder übernehmen wir den Staat oder wir zerschlagen ihn'. Nein, beides gibt es in meiner Haltung nicht. Das heißt nicht, dass wir mit dem Staat gar nichts zu tun haben. Wir halten nur Abstand zum Staat.“ Öcalan erklärte auch, dass das, was er vorbereitet habe, gleichzeitig ein Bildungsprogramm sei und verlange, das dem Volk gut zu vermitteln. Er betonte besonders, dass dies die Stadtverwaltungen und die gewählten Kandidaten gut verstehen müssten. Er setze eine Frist von sechs Monaten, um das Programm umzusetzen. „Ich sage auch dem Staat, du musst die freien, gleichen Bürgerrechte anerkennen!“, sagte er. Als gleiche, freie Bürgerinnen und Bürger ausgebildet zu werden, Demokratie zu erlernen und dem Volk begreiflich zu machen, werde Amed (Diyarbakir), Siirt und Dersim (Tunceli) in ein Paradies verwandeln. Auch in seinem neuen Plädoyer, das er für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anfertige, gehe er hauptsächlich auf dieses Thema ein: „Ich habe die Begriffe 'Gleichheit' und 'Freiheit' intensiv behandelt. Meine Auffassung stellt keinen Gegensatz zum unitären Staat dar, aber lässt sich auch nicht von ihm anstecken. Sie würdigt die Bedeutung und die aufklärenden Seiten der Republik. Aber sie ist gegen ihre faschistischen und reaktionären Elemente. In der Frage der Heimat finde ich es sinnlos, Grenzen zu ziehen. Ich sage auch nicht, wir brauchen unbedingt ein Kurdistan. Es gibt 23 arabische Staaten, aber sie haben ein Heimatland. Auch ein Staat würde ausreichen. Auch die Türkei ist für uns eine Heimat, aber in dieser Heimat werden wir frei und gleichberechtigt leben. Das sind Bezugspunkte für grundlegende Bildung, grundlegende Aktionen, grundlegende Organisierung.“ „Die Gesetze müssen für alle gleich angewandt werden“ In Zusammenhang mit der Reform der Rechte auf Bildung und Informationsfreiheit durch das Parlament in der Türkei kritisierte Öcalan die mangelnde Umsetzung: „Nach der Verfassung gilt gleiches Recht für alle. Aber was machen sie? Sie sagen, vier Stunden Kurdisch in der Woche, außerdem noch mit Untertiteln. Ein, zwei Kurse sind eingerichtet worden, habe ich in der Zeitung gelesen. In Batman wurden ein paar Kurse eingerichtet, denen haben sie noch jemanden als Aufpasser zur Seite gestellt. Das ist doch blamabel. Das Komitee für Demokratie und Grundrechte muss gegen diese Paragraphen heftig protestieren und die Umsetzung dieser Gesetze beobachten. Wenn nicht gleiches Recht für alle gilt, wenn man diese Rechte nicht bekommt, wird es ständig Aktionen geben. Das ist legal. Es wird soviel Bildung und Information geben, wie das Volk es will“, sagte er. Öcalan erinnerte daran, dass im Gegensatz zu den vier bis fünf Stunden kurdischsprachiger Sendungen der türkischen Sprache das „Recht auf 1000 Radio- und Fernsehstationen“ gewährt werde, und fuhr fort: „In einem Land, wo derartige Ungleichheit herrscht, kann man nicht von Demokratie oder Menschlichkeit sprechen. Wir halten uns an den Geist der Gesetze. Sie sollen gleichberechtigt umgesetzt werden, wenn das nicht passiert, entwickelt sich im Land auch keine Demokratie, keine Menschlichkeit. Es kann nicht sein, dass nur ein paar Vorzeigekurse in Batman und Urfa eingerichtet werden. Unsere (Leute) lassen sich dabei instrumentalisieren. Aus jedem Dorf muss einen Kursraum gemacht werde. Nicht unbedingt mit staatlicher Unterstützung, wenn es der Staat nicht tut, machen wir es mit unseren eigenen Mitteln. Diyarbakir hat eine Million Einwohner. Ist Diyarbakir eine Stadt für nur eine Sprachschule? Das ist eine krasse Ungleichbehandlung.“ „Es geht um die Würde unseres Volkes...“ Öcalan übermittelte folgende Botschaft: „Man gibt eine Sprachschule, das ist keine Freiheit. So wird die Türkei nicht frei. Wir wollen unsere Bürgerrechte. Das weiß auch das Volk, sobald es seine Kinder in die Sprachschulen schickt. Diese Forderungen sind legal. Natürlich kommt eine Million Leute zusammen, natürlich wird man da Zeter und Mordio schreien. Eine einzige Sprachschule bringt nicht die Freiheit. Das ist auch für die Türkei lächerlich. Deswegen gab es Krieg. Ich will nie wieder zu den Waffen greifen. In meinem Namen soll niemand sterben, sage ich. Ich warne davor, dass bald die Hölle losgehen könnte. Die Ereignisse in Syrien und im Iran werden morgen in der Türkei passieren. Es ist Ernst, es droht Gefahr. Ich kenne die Rechtsphilosophie. Eine Umsetzung, die nicht dem Gleichheitsgrundsatz entspricht, darf es nicht geben. Dafür muss eine Million Menschen bereit sein, wenn nötig wird eine Million verhaftet, dafür könnten auch 50.000 sterben. Es geht um die Würde unseres Volkes. Es geht um die freien Bürgerrechte. Wir werden niemanden ungerechtfertigt angreifen. Das gilt für die Türkei, den Iran, Syrien genauso wie für den Barzani-Talabani-Staat.“ „Auch die Europäische Union trägt Verantwortung“ Öcalan erklärte, er kenne den Zusammenhang der Verfassung mit den Gesetzen gut. Die Gesetze seien dazu da, umgesetzt zu werden. Er betonte, für die Umsetzung der Gesetze in der Türkei sei die Europäische Union mitverantwortlich. Er kritisierte auch die Haltung der EU gegenüber Leyla Zana und ihren Kollegen. Zanas Problem sei „ein Menschenrechtsproblem und ein Kurdenproblem, Tausende Gefangene haben Probleme,“ erinnerte er. Wenn Europa Probleme lösen wolle, müsse es Lösungen für alle Probleme entwickeln: „Das ist kein persönliches Problem. Sie sollte sagen: 'Leyla Zana ist gleichbedeutend der kurdischen Frage und der Menschenrechtsfrage.' Sie sollte sagen, 'Wenn ihr keine Lösung für die Verletzungen der Menschenrechte der Kurden habt, dann könnt Ihr auch nicht mein Problem lösen.“ Öcalan betonte, der DEP-Prozess sei mittlerweile gelaufen und schlug Leyla Zana und ihren Freunden vor, sich am „Komitee für Freiheit, Gleichheit und Bürgerrechte“ zusammen mit breiten Kreisen zu beteiligen. „Das Projekt gilt auch für die Türkei“ Öcalan schlug sein Projekt auch für die Türkei vor und bemerkte dazu, dass er die kurdisch-türkischen Beziehungen auf einen neuen Stand bringen möchte, um ernsthafte Probleme abzuwenden. „Für den Iran, für Syrien und die Türkei sind das sehr ernsthafte Angelegenheiten. Um ein einseitiges Drängen der USA und Europas zu verhindern, sollte man ein breitangelegtes Demokratieprogramm umsetzen“, schlug er vor. „Sie sollen diskutieren, Brainstorming machen. Jeder der zu mir hält oder jedem dem ich etwas bedeute, sollte das tun. Dann bleiben noch die Gesetze und die Verfassung, dagegen muss gekämpft werden. Eine Million Menschen wird sich innerhalb von ein bis zwei Monaten vorbereiten.“ Die Geduld, die er für sich persönlich aufbringe, könne er für das Volk nicht aufbringen: „Das bin ich unserem Volk, dem Volk der Türkei, der Demokratie schuldig. In diesem Sinne gratuliere ich zu Newroz.“ Das Anwaltsgespräch fand am Mittwoch, den 17.03.2004 statt. (Übersetzung
aus dem Türkischen von Özgür Politika vom 20.3.2004)
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