junge Welt, 19.03.2005

Nick Brauns

Kein Ende der Repression

Türkei: Hohe Haftstrafen für Demonstrantinnen von Istanbul beantragt. Schüsse auf Newroz-Feier. Heuchlerische Kritik der EU zurückgewiesen


Die Menschenrechtssituation in der Türkei war auch am diesjährigen 18. März, dem Internationalen Tag der politischen Gefangenen, ein Schwerpunktthema. Aus gutem Grund. Beispielsweise beantragte die türkische Staatsanwaltschaft in dieser Woche gegen 56 Demonstrantinnen, die bei dem brutalen Polizeieinsatz am 6. März in Istanbul festgenommen worden waren, Haftstrafen von drei bis fünf Jahren. Ihnen wird die Teilnahme an einer nicht genehmigten Kundgebung sowie die Beschädigung staatlichen Eigentums vorgeworfen, da angeblich Polizeifahrzeuge demoliert wurden. Gegen neun minderjährige Demonstrantinnen soll ein separates Verfahren geführt werden.

Die Polizei hatte die Demonstration linker türkischer und kurdischer Organisationen zum internationalen Frauentag vor dem Istanbuler Galatasaray-Gymnasium mit Tränengas und Schlagstöcken auseinandergetrieben. EU-Vertreter zeigten sich »schockiert« über die Fernsehbilder von Polizisten, die am Boden liegende Frauen traten.

Teilnehmerinnen der Frauendemonstration wiesen diese Kritik während einer Kundgebung am Dienstag als heuchlerisch zurück. »Warum war die EU so erstaunt über diesen Angriff?«, fragte Sevinc Tanyildiz vom »Vorbereitungskomitee für den internationalen Tag der arbeitenden Frau am 8. März«. »Wir kennen die ›Demokratie‹ in der EU sehr gut. Demonstranten sind ähnlichen Angriffen auch auf europäischen Straßen ausgesetzt. Die EU verteidigt unsere Rechte und Freiheiten nicht. Sie versucht nur, dieses Ereignis für ihre eigene imperialistische Politik zu nutzen.« Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan hatte den Polizeieinsatz gerechtfertigt und statt dessen die Medien kritisiert, weil sie Bilder der Übergriffe gesendet hatten. Inzwischen wurden drei Polizisten vom Dienst suspendiert, da sie »über das Ziel hinausgeschossen« seien.

Daß der brutale Polizeieinsatz in Istanbul kein Einzelfall war, zeigte sich in den vergangenen Tagen in den kurdischen Gebieten. In Siirt griff die Polizei nach einem Bericht der prokurdischen Tageszeitung Özgür Politika am Dienstag eine Newroz-Feier mit Tränengas an und eröffnete dann das Feuer auf Hunderte feiernde Menschen. Ein 16jähriger wurde durch Schüsse am Bein verletzt. Auch in Iskenderum an der Mittelmeerküste löste die Polizei gewaltsam ein Newroz-Fest in einem Park auf.

Unter der Losung »Gegen Krieg« hat die Demokratische Volkspartei DEHAP für den 20. und 21. März in allen größeren kurdischen Städten Newroz-Feste angemeldet. In Tuncely (Dersim) wurde das Fest von den Behörden nicht genehmigt, weil das Vorbereitungskomitee Newroz mit einem »w« statt einem »v« geschrieben hatte. Da der Buchstabe w« im türkischen Alphabet nicht vorkommt, gilt seine Verwendung in kurdischen Namen als Separatismus.

Weil sie auf ihrem Parteitag im Januar 2004 ihre Reden auf Kurdisch gehalten haben, wurden Anfang der Woche zudem 13 führende Mitglieder der kleinen kurdischen Partei für Rechte und Freiheiten Hak-Par angeklagt. Ihnen droht mindestens ein halbes Jahr Haft. Wie die Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, wirft die Staatsanwaltschaft dem Parteivorsitzenden Abdülmelik Firat und seinen Genossen zudem vor, auf ihrem Parteitag weder die türkische Fahne und das Porträt von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk gezeigt, noch die türkische Nationalhymne gespielt zu haben.