Bremer Nachrichten, 16.11.2005 Freund oder Feind? Aufregung um eine angebliche Todesliste des türkischen Militärs im Kurdengebiet Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten ISTANBUL. Ali Kaya kann die Aufregung nicht verstehen. "Alles, was wir taten, war legal", sagt der Unteroffizier des zur türkischen Armee gehörenden Geheimdienstes JITEM. Kaya wird als Drahtzieher eines Bombenanschlages verdächtigt, bei dem in der vergangenen Woche im südosttürkischen Semdinli ein Mensch getötet wurde.Seither steht der Vorwurf im Raum, die türkische Armee schicke im Kurdengebiet "Todesschwadronen" aus, um angebliche PKK- Anhänger zum Schweigen zu bringen. "Als Touristen waren wir bestimmt nicht dort", sagte Kaya jetzt über seine Anwesenheit am Tatort in Semdinli. Mit dem Anschlag habe er aber nichts zu tun. Viel zu befürchten hat Kaya offenbar nicht. Die Staatsanwaltschaft hat ihn auf freien Fuß gesetzt, und ein ranghoher Armee-General in Ankara lobte ihn öffentlich als "wertvollen Soldaten". Der 32-jährige Kaya ist im Kurdengebiet für die türkische Armee ein wichtiger Spezialist. Er spricht fließend Kurdisch, kennt sich in der Region gut aus und soll jahrelange Erfahrung mit Geheimaktionen gegen vermeintliche oder tatsächliche PKK-Anhänger haben. Am 9. November war Kaya in Semdinli, so viel steht fest. Nach eigenen Angaben parkte er seinen Wagen zufällig in der Nähe eines Buchladens, der einem ehemaligen PKK-Mitglied gehört, und in dem in jenen Minuten eine Handgranate explodierte. Augenzeugen wollen beobachtet haben, dass sich der Attentäter nach dem Anschlag in Kayas Wagen setzte. Eine aufgebrachte Menge verhinderte, dass Kaya losfahren konnte. Er wurde festgenommen, dann aber für die Dauer des Verfahrens freigelassen. Dass ein möglicher Befehlsgeber eines Attentats wie Kaya auf freien Fuß gesetzt wird, kommt nicht jeden Tag vor. Doch der JITEM-Agent hat starke Freunde. Dazu zählt etwa General Yasar Büyükanit, Chef der türkischen Landstreitkräfte, der Kaya als "wertvollen Soldaten" bezeichnete. Vielleicht vermag der zuständige Staatsanwalt deshalb in dem tödlichen Bombenanschlag nach eigenen Angaben nur einen unbedeutenden, lokalen Zwischenfall zu erkennen. In Haft befinden sich derzeit nur der mutmaßliche Handgranaten-Werfer - ein PKK-Überläufer, der nach Zeitungsberichten im Auftrag des Geheimdienstes gehandelt haben könnte, sowie ein Soldat, der bei der staatsanwaltlichen Untersuchung von Kayas Wagen das Feuer eröffnet und einen weiteren Menschen getötet haben soll. Im Kofferraum des Autos wurden Waffen und offizielle Dokumente gefunden. Verschiedene Zeitungen haben sich nach eigenen Angaben Kopien einiger dieser Papiere besorgt und schlagen Alarm. Neben einer Karte der Umgebung soll in Kayas Kofferraum eine "Todesliste" gelegen haben: Einige Namen seien mit dem Hinweis "Freund" versehen gewesen, andere mit der Bezeichnung "Feind", berichtete die Zeitung "Radikal". Als "Feind" tauchte unter anderem der Buchhändler auf, der Ziel des Anschlags war. Auch Vertreter der neu gegründeten Kurdenpartei DTP sind nach Zeitungsberichten auf der Liste zu finden. Das sind schwere Vorwürfe, vor allem in einem Land wie der Türkei, in dem die Sicherheitskräfte in den neunziger Jahren mit Hilfe von Kriminellen illegal gegen angebliche PKK-Sympathisanten vorgegangen waren. Damals wurde der Skandal nie vollständig aufgeklärt. Auch diesmal gibt es Hinweise darauf, dass die Angelegenheit heruntergespielt werden soll. Regierungsvertreter taten den Anschlag von Semdinli in "Hürriyet", der größten Zeitung des Landes, als Aktion übereifriger Patrioten ab, die die Türkei vor der PKK schützen wollten. "Das sind Vorbereitungen, um die Sache unter den Teppich zu kehren", kommentierte der prominente Journalist Mehmet Ali Birand gestern. Wie Birand fordern die meisten Zeitungskommentatoren, der Skandal müsse restlos aufgeklärt werden. Unter dem Druck der Öffentlichkeit haben die großen Parteien inzwischen eine parlamentarische Untersuchung des Anschlags versprochen. Die Zeiten der "alten Türkei" seien vorbei, versicherte Außenminister Abdullah Gül. Alles werde ans Licht kommen. Wie transparent und gründlich die angekündigte Untersuchung des Parlaments sein wird, dürfte viel darüber aussagen, wie weit die Türkei auf ihrem Weg nach Europa inzwischen gekommen ist. Im Innern geht es darum, die Glaubwürdigkeit des Staates wieder herzustellen. Sonst werde die PKK an Prestige gewinnen und jede Bombe im Kurdengebiet den Sicherheitskräften zugeschrieben, warnt der Kommentator Birand. Der für Semdinli zuständige Parlamentsabgeordnete Esat Canan hat angesichts des merkwürdigen Verhaltens der Justiz aber wenig Hoffnung, dass der Bombenanschlag von Semdinli jemals restlos aufgeklärt werden wird: "Es läuft nicht besonders gut."
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