Die Welt, 17.11.2005 Todesopfer bei Kurdenunruhen in der Türkei Untersuchungsausschuß zu mutmaßlichem Todesschwadronen - Innenminister Aksu gibt sich ahnungslos von Boris Kalnoky Istanbul - Ein verpatzter Mordanschlag, allem Anschein nach von Sondereinheiten der paramilitärischen türkischen Gendarmerie verübt, hat das Land in eine schwere Krise gestürzt. Im Südosten des Landes dauern seit dem Handgranatenanschlag Unruhen an, bei denen nun erstmals die Polizei das Feuer auf rund 3000 kurdische Demonstranten eröffnete. Widersprüchlichen Berichten zufolge starben drei (sagen die Medien) beziehungsweise ein Demonstrant (sagt die Polizei), mehr als 30 Menschen wurden verletzt. Derweil ist das Parlament in Aufruhr, und das Militär um Erklärungen verlegen. Alles begann am 9. November, als jemand in der Kleinstadt Semdinli im kurdisch bevölkerten Südosten des Landes jemand eine Handgranate auf den Buchladen eines früheren PKK-Mitglieds warf. Die Bevölkerung stellte die Täter, die sich anhand ihrer Ausweise als Angehörige eines bizarren Geheimdienstes der Gendarmerie (Jitem) entpuppten. Kein geringerer als Ministerpräsident Erdogan sagte, erste Erkenntnisse deuteten daraufhin, daß es hier um "ein Fortdauern der alten Mentalität" gehe, und daß dies "kein örtlich begrenzter Einzelfall" sei. Er werde aber "niemandem erlauben, sich hinter dem türkischen Staat zu verstecken". Das sind nebulöse, aber in der Türkei doch hinreichend klare Sätze, und sie bedeuten, daß eine Entscheidungsschlacht zwischen der neuen türkischen Reformpolitik und den der informellen Macht des Militärs, des "Staates im Staat" bevorsteht. Tatsächlich findet im Parlament ein wahrer Barrikadensturm aller politischen Parteien statt. Obwohl Erdogan bereits die Bildung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses angekündigt hat, und notfalls die Änderung relevanter Gesetze, hat jede einzelne im Parlament vertretene Partei ebenfalls die Bildung eines Untersuchungsausschusses beantragt. Dies ist vorerst wenig mehr als ohnmächtiger Aktionismus, aber die begleitenden Äußerungen zeigen, daß man die Chance nutzen will, die politische Macht des Militärs zu brechen. "Es wird in der Türkei keine Militärputsche mehr geben", kommentierte Oppositionschef Baykal den Antrag seiner CHP-Partei. Wie erregt die Gemüter sind, zeigte sich an der einfachen, aber drängenden Frage von Abgeordneten der Regierungspartei AKP: "Was ist Jitem?" Innenminister Aksu, dem sie gestellt wurde, sagte nur: "Fragt mich so was nicht." Hätte er offen Auskunft gegeben, so hätte er vermutlich sagen müssen, Jitem sei ein Dienst, der "Staatsfeinde" jenseits des Gesetzes terrorisiert und ermordet, und im benachbarten Irak turkmenische Extremisten bewaffnet und koordiniert. Auf Seiten der Sicherheitskräfte läuft alles nach altem Muster. Die beiden verdächtigten Jitem-Offiziere wurden "mangels Beweisen" freigelassen. Die bei ihnen gefundenen Namenslisten von PKK-Aktivisten und der gezeichnete Straßenplan mit dem markierten Laden des Opfers dienten "nur zum Sammeln von Informationen". Sie hielten an, um einen Lottoschein zu kaufen und eine Toilette zu suchen. Der Gouverneur der Region sagte noch vor der Untersuchung, die Sicherheitskräfte seien unschuldig. Armeechef Büyükanit stellt sich vor den verdächtigten Jitem-Offizier Ali Kaya und nennt ihn einen "wertvollen Soldaten". Büyükanit warnt vor einer Ausweitung der Unruhen. Die Behörden planten ein Ausgehverbot in den betroffenen Ortschaften, aber die dortigen Bürgermeister haben ihnen garantiert, daß dies nur Benzin aufs Feuer gießen würde. |