Der Bund, 03.11.2006
Soll die Schweiz das umstrittene Ilisu-Stauseeprojekt in der Türkei unterstützen? Der Bundesrat wartet ab – Hintergründe einer schwierigen Güterabwägung Stärker als Schweizer Firmen sind österreichische Unternehmen am Ilisu-Staudamm-projekt beteiligt. Deshalb wartet der Bundesrat ab, bis Wien über eine Exportrisikogarantie entschieden hat. Alles deutet auf ein Ja mit Auflagen hin. Mit dem Bau des gigantischen Ilisu-Staudamms am Tigris in der Südosttürkei ist ein Baukonsortium beauftragt, dem auch vier Schweizer Firmen angehören. Zur Finanzierung des Projekts verlangen sie vom Bund eine so genannte Exportrisikogarantie (ERG): Die Eidgenossenschaft soll also einen Teil des finanziellen Risikos mittragen – für den Fall, dass die Türkei später nicht zahlen kann (siehe Kasten). Probleme in Wien Eigentlich war geplant, dass die Verwaltung bis Ende September einen konkreten Antrag an den Bundesrat stellt. Inzwischen heisst es aber, der Bundesrat werde wohl erst im ersten Quartal des nächsten Jahres entscheiden. Gründe für die Verzögerung sind der Regierungswechsel und die stockenden Koalitionsverhandlungen in Österreich. Der Bundesrat will auf dem glitschigen Terrain des heiklen Dossiers nicht allein vorwärts gehen, sondern abwarten, bis Wien über die ERG-Gesuche der österreichischen Firmen entschieden hat. Auf diese entfällt der grösste Teil des Auftragsvolumens des Ilisu-Konsortiums. Ebenfalls gewichtiger als für Schweizer Unternehmer ist das Geschäft für deutsche Firmen. Die ERG-Stellen der drei Länder arbeiten eng zusammen, um eine einheitliche Position zu finden. Es ist deshalb schwer vorstellbar, dass sich der Bundesrat am Schluss mit einer Haltung exponiert, die vom Verdikt aus Wien und Berlin abweicht. In allen drei Ländern betreiben die zuständigen Stellen seit Monaten einen erheblichen Aufwand im Ilisu-Dossier. Nicht von ungefähr: Wird der Damm gebaut, müssen schätzungsweise 55 000 Menschen umgesiedelt werden oder anderswo nach Arbeit suchen. Wertvolle kulturelle Güter versinken in den Fluten. Der Stausee selbst könnte sich innert Kürze in eine Kloake verwandeln, falls keine Kläranlagen gebaut werden, welche die Abwässer der umliegenden Städte reinigen. Entwicklungsorganisationen schlagen deshalb Alarm. Als heikelster Punkt gilt die Umsiedlung. Vertreter der Lokalbevölkerung kritisieren, die Frage der Entschädigung sei ungeklärt, es gebe keine ausreichenden Garantien. Bewegung im Seco Ein Insider sagt, auch die ERG-Stelle im Staatssekretariat für Wirtschaft habe das Projekt eine Zeitlang für so schlecht befunden, dass ein Ja zur Exportrisikogarantie unmöglich gewesen wäre. Die Zweifel betrafen Details der Umsiedlung ebenso wie die Folgen für Ökologie und Kulturgüter. Aber dann gab es im Oktober neue Gespräche vor Ort und weitere Zusicherungen der involvierten Firmen und türkischen Behörden – und jetzt heisst es in der Bundesverwaltung, man nähere sich unter den drei involvierten ERG-Stellen einem «glaubwürdigen Konsens». Alles deutet auf eine Bewilligung mit Auflagen. Demnach würde der Bundesrat die Exportrisikogarantie provisorisch gewähren, aber Nachbesserungen verlangen. Das Konsortium müsste dafür sorgen, dass die Türkei die Forderungen des Bundes später auch wirklich umsetzt. Der Protest der Entwicklungsorganisationen ist programmiert. Denn scharfe Sanktionen sind nicht möglich, falls die Firmen und die Türkei ihre Versprechen dereinst nicht einlösen. Ein Nein wäre ein Affront Trotzdem ist klar, wie der Bundesrat im Clinch zwischen sozialen und ökolgischen Bedenken einerseits und wirtschaftlichen und politischen Überlegungen anderseits entscheiden wird. Warum? · Wenn Zusicherungen der Türkei
vorliegen, das Projekt zu verbessern, kann der Bundesrat die Exportrisikogarantie
nicht verweigern. Denn mit dem Nein würde er sagen, die Türkei sei nicht
vertrauenswürdig. Das wäre ein Affront, der die bilateralen Beziehungen
nachhaltig belasten würde. Für die Schweiz ist die Türkei aber wirtschaftlich
von Bedeutung. Die Kritiker erinnert man auch daran, dass die Türkei die EU-Mitgliedschaft anstrebt. Also werde sich das Land bemühen, die von den EU-Staaten Deutschland und Österreich verlangten Versprechen einzulösen. Im Übrigen diene das Projekt dazu, dass die Türkei saubere Energie bekomme. Ilisu-Projekt und Exportrisikogarantie Der geplante grosse Staudamm am Tigris in der Südosttürkei soll 1,8 Kilometer breit und 135 Meter hoch werden. Dadurch entsteht ein rund 300 Quadratkilometer grosser Stausee, den die Türkei zur Gewinnung von Spitzenenergie nutzen will. Die eigentlichen Bauarbeiten werden vorwiegend türkische Unternehmen ausführen. Ein Konsortium aus österreichischen, deutschen und schweizerischen Firmen soll den grössten Teil der technischen Ausrüstung liefern. Beteiligt sind die Schweizer Firmen Alstom, Maggia, Stucki und Colenco. Sie haben beim Bund ein Gesuch um eine Exportrisikogarantie gestellt. Das Ilisu-Staudammprojekt ist Teil der gross angelegten wirtschaftlichen Umgestaltung Südostanatoliens. Insgesamt sind an Euphrat und Tigris rund 20 Staudämme und Kraftwerke geplant. Die Exportrisikogarantie (ERG) ist ein Instrument der staatlichen Exportförderung: Bei komplexen Geschäften wie dem Ilisu-Stausee geht es um Kreditfristen von zehn oder mehr Jahren. In Ländern wie der Türkei besteht die Gefahr, dass wirtschaftliche oder politische Krisen plötzlich dazu führen, dass die involvierten Firmen kein Geld mehr bekommen. Deshalb übernehmen die Herkunftsländer via ERG einen Teil des finanziellen Risikos dieser Firmen. In den meisten Fällen, wo die Eidgenossenschaft tatsächlich einspringen musste, bekam sie das Geld später via Umschul- dungsabkommen zu Marktkonditionen verzinst zurück. (paf) Irak klopft in Bern an Das Ilisu-Projekt löst in Irak Ängste aus: Der Tigris könnte versiegen oder verschmutzt werden. Deshalb will der Wasserminister in Bagdad mit Diplomaten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz reden – mit jenen Ländern, die via Exportrisikogarantie involviert sind. Bern hat eine entsprechende Anfrage erhalten. (paf) Der Bund, Patrick
Feuz [03.11.06]
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