St. Galler Tagblatt, 16.12.2006

«Nicht leichtfertig entschieden»

Schweizer Hilfe für umstrittenen Ilisu-Staudamm – Bundesrat verspricht enge Kontrolle

Vier Schweizer Firmen können am türkischen Ilisu-Staudamm mitbauen. Das ermöglicht der Bundesrat mit einer Exportrisikogarantie.

patrick feuz/bern

Mit dem Bau des gigantischen Ilisu-Staudamms am Tigris ist ein Konsortium beauftragt, dem neben österreichischen und deutschen Firmen vier Schweizer Unternehmen angehören. Diese können jetzt aufatmen: Der Bundesrat hat ihr Gesuch um eine Exportrisikogarantie (ERG) im Umfang von 225 Millionen Franken «grundsätzlich» bewilligt.

Die Eidgenossenschaft übernimmt damit einen Teil des finanziellen Risikos für den Fall, dass die Türkei später nicht bezahlen kann. Ohne diese Garantie wäre das Geschäft für die vier Firmen geplatzt. Denn keine Bank wäre zur Finanzierung bereit. Vor wenigen Tagen haben auch die zuständigen Stellen in Österreich und Deutschland ihren Firmen ERG gewährt.

Zusage «nicht definitiv»

Wien, Berlin und Bern haben in der delikaten Sache eng zusammengearbeitet. Denn das Staudammprojekt ist hoch umstritten. In der Region der historischen Stadt Hasankeyf müssen 11 000 Menschen ihre Häuser verlassen. Dazu kommen rund 30 000 Menschen, die indirekt betroffen sind, etwa durch den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Zudem gehen wichtige Kulturgüter verloren und drohen ökologische Probleme. Weiter gibt es Protest in Anrainerstaaten: Syrien und Irak befürchten, dass ihnen die Türkei dank dem Staudamm dereinst den Wasserhahn zudrehen könnte.

Vor den Bundeshausmedien sagte Volkswirtschaftsministerin Doris Leuthard gestern: «Es war keine einfache Entscheidung, das Projekt zu befürworten.» Aber nach umfangreichen Vorarbeiten sei der Bundesrat der Auffassung, dass sich das Projekt gemäss internationalen Standards – gemeint sind die Standards der Weltbank und die OECD-Vereinbarungen über Umwelt und Exportkredite – verwirklichen lasse.

Dass der Bundesrat «nicht leichtfertig» entschieden habe, drückt sich Leuthard zufolge im beschlossenen Verfahren aus: Demnach ist das Ja zur ERG nicht definitiv. Zuerst müsse die Türkei noch «wesentliche Bedingungen» erfüllen. Diese Auflagen seien viel strenger als jene bei der ersten Zusage des Bundesrats im Jahr 1998. So sollen die umgesiedelten Menschen genug und gutes Landwirtschaftsland bekommen. Weiter ist die Türkei zum Beispiel aufgefordert, die versprochenen Schulen zu bauen und die angekündigte elektrische und medizinische Versorgung der Umgesiedelten sicherzustellen. Ein unabhängiges Expertengremium soll die Anstrengungen überwachen und den zuständigen Stellen in Österreich, der Schweiz und Deutschland regelmässig berichten. Mit diesem Monitoring bleibe der «Druck aufrechterhalten», damit die Türkei die Versprechen tatsächlich einlöse.

Die «positiven Auswirkungen» für die Schweiz sieht Leuthard in den «390 Personenjahren» Beschäftigung, die der Staudammbau laut Angaben der vier Schweizer Firmen bringt. Das helfe, die Position dieser Firmen als weltweit führende Wasserkraftbauer zu sichern.

«Daran glaubt niemand»

Die entwicklungspolitische Organisation Erklärung von Bern kritisierte, der Entscheid sei «verfrüht und auf die Handelsbeziehungen ausgerichtet». Die vielen Auflagen zeigten, dass das Projekt weit von den Weltbank-Standards entfernt sei. Peter Niggli von der Arbeitsgemeinschaft der Schweizer Hilfswerke erklärte, der Bundesrat habe die Zusage in der Hoffnung gemacht, dass die Bedingungen erfüllt würden: «Doch daran glaubt niemand.»

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Staatliche Exportförderung

Die Exportrisikogarantie (ERG) ist ein Instrument der staatlichen Exportförderung: Bei komplexen Geschäften wie dem Ilisu-Stausee geht es um Kreditfristen von zehn oder mehr Jahren. In Ländern wie der Türkei besteht die Gefahr, dass wirtschaftliche oder politische Krisen plötzlich dazu führen, dass die involvierten Firmen kein Geld mehr bekommen. Deshalb übernehmen die Herkunftsländer mit der ERG deshalb einen Teil des finanziellen Risikos dieser Firmen. (paf)

Das Projekt

Gigantisches Vorhaben

Das umstrittene Ilisu-Staudammprojekt am Fluss Tigris ist Teil der gross angelegten wirtschaftlichen Umgestaltung Südostanatoliens. Insgesamt sind an Euphrat und Tigris rund zwanzig Staudämme und Kraftwerke geplant. Der geplante Ilisu-Staudamm soll 1,8 Kilometer breit und 135 Meter hoch werden. Dadurch entsteht ein rund 300 Quadratkilometer grosser Stausee, den die Türkei zur Gewinnung von Spitzenenergie nutzen will.

Erstes Ja des Bundesrates

1998 hatte der Bundesrat den ursprünglich am Projekt beteiligten Schweizer Firmen - ABB und Hydro Sulzer - grundsätzlich eine Exportrisikogarantie im Umfang von 470 Millionen Franken gewährt.

Ausstieg der Grossbank UBS

Die Garantie wurde wegen schleppenden Projektverlaufs auf Eis gelegt. 2002 entschied sich die UBS, aus dem Projekt auszusteigen. Einer der Gründe: ungenügende Massnahmen zur Eindämmung sozialer und ökologischer Folgen.

Einstieg von Alstom

Das Staudammprojekt wurde nach diesem Rückzieher punktuell überarbeitet und neu aufgelegt. Daraufhin beantragten die Schweizer Firmen Alstom, Maggia, Stucki und Colenco eine Exportrisikogarantie. Die geschätzten Baukosten des Gesamtprojektes belaufen sich auf 1,5 Milliarden Franken.

Spatenstich vor dem Entscheid

Begleitet von internationalen Protesten führt im August der türkische Ministerpräsident Erdogan den ersten Spatenstich für den Dammbau aus. Gestern informierte der Bundesrat, den beteiligten schweizerischen Firmen werde unter Auflagen die Exportrisikogarantie gewährt, um so Aufträge von 225 Millionen Franken zu sichern. Verlangt werden im Gegenzug 100 flankierende Bedingungen. (mul)

Das Problem

Versenkte Geschichte

Wie schon bei früheren Staudammprojekten in der Türkei verschwinden jahrtausendealte Kulturgüter in den Fluten. Diesmal ist es vorab die südanatolische, denkmalgeschützte Stadt Hasankeyf mit ihrer 8000-jährigen Geschichte.

Umgesiedelte Menschen

Rund 50 Dörfer und 15 Kleinstädte werden überflutet. Entwicklungsorganisationen schätzen, dass dies für bis zu 55 000 Menschen bedeutet, dass sie die Region verlassen müssen. Nebst umzusiedelnden Landbesitzern sind insbesondere auch viele landlose Arbeiter betroffen. Behörden der angrenzenden Städte werfen den Investoren vor, sie ignorierten die steigenden sozialen Spannungen, die vom Projekt ausgingen.

Bedrohtes Ökosystem

Weil Abwässer der nahe gelegenen Grossstädte ungeklärt in den Tigris fliessen und der Bau leistungsfähiger Kläranlagen nicht gesichert ist, besteht die Befürchtung, dass der See sich rasch in eine Kloake verwandelt. Fachleute des Wasserforschungsinstituts der ETH Zürich gehen auch von äusserst negativen Einflüssen auf die Hydrologie aus und sprechen vom Risiko, dass das Endergebnis höchstwahrscheinlich ein versalzener, sauerstoffarmer See ohne Fische und insbesondere ohne Trinkwasserqualität sein wird – mit Auswirkung auf die flussabwärts lebenden Anrainer.

Politisches Druckmittel

Wasser ist in der Region auch ein innen- und aussenpolitisches Reizthema. Einerseits treffen die Umsiedlungen in grossem Mass die kurdische Minderheit. Insbesondere fürchten aber die Anrainerstaaten Syrien und Irak, die Türkei könne den Wasserabfluss des Ilisu zu ihrem Nachteil regulieren – und als Druckmittel einsetzen. Bislang war die Landwirtschaft am Tigris auf die jährlichen Überschwemmungen angewiesen.