Deutschlandradiokultur, 30.04.2008 Streit um
türkischen Ilisu-Staudamm In der Türkei hat der Bau des umstrittenen Ilisu-Staudamms begonnen. Unterstützt durch Kreditgarantien von Deutschland, Österreich und der Schweiz soll der Tigris in Südostanatolien zu einem See von mehr als zehn Milliarden Kubikmetern Wasser aufgestaut werden. Gegner des Damms befürchten massive Umweltschäden und die Vertreibung von zehntausenden Menschen. Susanne Güsten hat sich vor Ort in Ilisu umgesehen. Kinder in Ilisu: Die sechsjährige Hülya singt ein Lied, ihre Freundinnen kichern verlegen. Barfuß laufen die Kinder durch die ungepflasterten Gassen von Ilisu, einem kleinen Dorf am Tigris in Südostanatolien. Autos gibt es hier keine, dafür Schafe, Ziegen und Hühner. Die Dorfidylle ist scheinbar noch intakt in Ilisu, dem Dorf, nach dem das größte Staudammprojekt in Europa in diesem Jahrzehnt benannt ist. Doch der äußere Eindruck trügt. Ein paar hundert Meter vom Dorf hat der Bau am Staudamm begonnen - wenn er fertig ist, werden Ilisu und mehr als einhundert weitere Dörfer im Stausee versinken. Was soll dann aus den Bewohnern werden? Am Dorfbrunnen von Ilisu wäscht eine junge Bäuerin namens Leyla ihr Geschirr im klaren Gebirgswasser ab. Was aus ihr und ihren sechs Kindern werden soll, wenn das Dorf geflutet wird, weiß Leyla nicht: Wir haben keine Ahnung, wann wir raus müssen, wir wissen nichts. Unser Besitz ist schon verstaatlicht. Die Behörden reden von einem neuen Siedlungsort, aber wo das sein wird und ob wir dort ein Haus bekommen, das wissen wir nicht. Wir haben hier Vieh, Felder und Obstgärten, von denen leben wir. Wovon wir dann woanders leben sollen, das hat uns auch noch niemand gesagt. So war das eigentlich nicht geplant. Eine soziale, gerechte und nachhaltige Umsiedlung der Bevölkerung hatte die Türkei mit den Kreditgebern für den Staudamm vereinbart - mit Deutschland, Österreich und der Schweiz, die den Damm mit Kreditgarantien ermöglichen, weil deutsche, österreichische und Schweizer Firmen am Bau beteiligt sind. Ein Katalog von mehr als 90 Auflagen für die schonende Umsiedlung der Bevölkerung wie auch für den Schutz von Kulturgütern und Umwelt ist Bestandteil der Kreditverträge. Doch als die Kreditgeber jüngst den Fortgang der Arbeiten vor Ort von Experten kontrollieren ließen, bekamen sie einen Schock. Von all den sorgfältig ausgearbeiteten Auflagen, die bis zum Baubeginn erfüllt sein sollten, ist kaum eine auch nur angegangen worden. Bei der Umsiedlung zum Beispiel haben die türkischen Behörden bisher nur eines gemacht - sie haben die Dörfler im Baugebiet enteignet. Die Bauern von Ilisu sind sauer, etwa der Bauer Mahmut Aykurt: Für einen Obstgarten, der 20.000 Lira wert ist, zum Beispiel, haben sie uns nur 5000 Lira, umgerechnet zweieinhalbtausend Euro, gegeben, viel zu wenig. Wir sind alle ruiniert. Für das Geld, das wir für unser Haus bekommen haben, kriegen wir anderswo niemals ein Grundstück. Auch die alte Bäuerin Bediya ist aufgebracht: Sie haben uns alle unsere Häuser und Felder genommen, aber uns viel zu wenig Geld dafür gezahlt. Aus Angst hat sich keiner von uns dagegen gewehrt. Im Durchschnitt erhalten die Dörfler 20 Prozent weniger an Kompensationen als ihnen zusteht, so haben die Experten vom Kontrollgremium festgestellt. Schlecht sieht es auch mit dem versprochenen neuen Siedlungsort für die Bewohner von Ilisu aus, berichtet Mahmut Aykurt: Sie wollen uns da drüben am Berg einen Platz zuweisen für ein neues Dorf, aber wir wollen das nicht, es ist uns zu weit. Wir wollen einen näheren Ort, aber ob wir ihn bekommen, wissen wir nicht. Eigentlich wollten wir den Platz, an dem sich die Staudammbetreiber nun selbst niedergelassen haben, aber sie haben uns gesagt, der sei nicht geeignet, den geben sie uns nicht. Wohin das Dorf nun umziehen soll, ist völlig offen. Ähnlich ist es mit fast allen anderen Auflagen. Von der versprochenen Einbeziehung der Bevölkerung in den Umsiedlungsprozess kann in Ilisu keine Rede sein. Nicht einmal informiert über ihr Schicksal würden sie, klagen die Bewohner. Ob sie ihr Dorf in diesem oder im nächsten Jahr räumen müssen oder ob sie noch bleiben können, bis der Staudamm in sieben Jahren fertig ist, das weiß kein Mensch im Dorf. Nur über eines ist sich der Bauer Mahmut Aykurt sicher: Wenn wir hier erstmal weg sind, dann wird sich niemand mehr um uns kümmern. Weg ist weg. Wir haben es ja schon gesehen bei der Verstaatlichung unseres Besitzes. Vorher hatten wir noch Hoffnung, dass wir zumindest vernünftig entschädigt werden, aber daraus ist nichts geworden. Um uns wird sich keiner kümmern, da bin ich ganz sicher. |