junge Welt, 16.12.2008 Staudammprojekt auf der Kippe Für die Türkei ist der geplante Ilisu-Staudamm ein Sprung nach vorn; für die Gegner ein ökologisches und kulturelles Desaster. Möglicherweise entscheidet sich jetzt das Schicksal des Mammut-Projekts. Schon 1982 lag ein
erster Projektentwurf für den Ilisu-Staudamm vor. Erst 1997 aber wurde
die Umsetzung in Angriff genommen; ein Konsortium aus der Schweiz, Österreich,
England, Italien und Schweden erhielt den Auftrag, wobei das Schweizer
Unternehmen Sulzer Hydro an vorderster Front beteiligt war und die UBS
die Finanzierung sicher stellte. Die Türkei hat Grosses vor: Im Südosten des Landes soll bis 2012/2013 ein 313 km² grosser, 135 km langer Stausee mit einem Volumen von 10 400 Millionen Kubikmetern entstehen. Die gigantische Wasserkraftanlage, deren Kernstück der 1820 m breite und 135 m hohe Ilisu-Staudamm ist, soll dereinst eine Leistung von 1200 Megawatt erreichen und im Jahr 3633 GWh Strom produzieren. Unter den gestauten Fluten des Tigris werden die uralte Stadt Hasankeyf und dreihundert weitere archäologische Stätten für immer verschwinden, mindestens 55 000 Menschen verlieren ihre Heimat. Schweizer Beteiligung Das Projekt stösst — wie so manche seiner Art und Dimension — auf massive internationale Kritik. Auch in der Schweiz regt sich seit langem Widerstand, auch weil der umstrittene Staudamm mit Schweizer Beteiligung gebaut werden soll: Die Firmen Alstom, Colenco, Maggia und Stucky sind mit Lieferungen und Ingenieurleistungen im Umfang von rund 225 Millionen Franken involviert, für die der Bundesrat bereits im März letzten Jahres die endgültige Exportrisikoversicherung erteilt hat. Doch der Widerstand wächst, auch in der Türkei: Im Mai unterstützte der bekannte türkische Popsänger Tarkan öffentlich die Kampagne der Naturschutzorganisation Doga Dernegi («Türkischer Naturschutzbund») gegen das Projekt, und im November demonstrierten in Istanbul mehrere Schauspieler, darunter Gürkan Uygun (bekannt aus der TV-Serie «Tal der Wölfe»), für den Schutz von Hasankeyf. Und Protest wird auch ausserhalb der Türkei laut. Sowohl die Weltbank als auch die britische Regierung haben bereits eine Finanzierung abgelehnt. Hartnäckige Kampagne Noch mehr dürfte ins Gewicht fallen, dass die Schweiz, Deutschland und Österreich im Oktober damit gedroht haben, die Exportrisikogarantien zurückzuziehen, falls die Türkei die vereinbarten Auflagen zum Schutz von Umwelt, Kulturgütern und der Bevölkerung nicht erfüllen sollte. Schon im Juni 2007 hatte sich die Zürcher Kantonalbank aus dem Projekt zurückgezogen, weil es nicht mit den Prinzipien der Nachhaltigkeit vereinbar sei. Und Organisationen wie die Erklärung von Bern, der WWF oder die NGO Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung (WEED) führen seit langem eine hartnäckige Kampagne gegen das Ilisu-Projekt. Die Gegner bestreiten zum einen
den wirtschaftlichen Nutzen des Grossprojekts für die Region (der Ilisu-Staudamm
ist eines der Kernstücke des südostanatolischen Bewässerungs- und Energieprojekts
GAP) und werfen den türkischen Behörden zum andern vor, sie hätten die
Umsiedlung der Bevölkerung im Überflutungsgebiet zu wenig sorgfältig geplant.
Insbesondere erhielten die Leute keinen gleichwertigen Landersatz. 9000 Jahre Menschheitsgeschichte Dazu kommt die Vernichtung einer historisch bedeutsamen Kulturstätte, die in ihrer Gesamtheit nicht umgesiedelt werden kann. In der Tat finden sich in Hasankeyf und Umgebung einzigartige Bauwerke, Kulturdenkmäler und Fundstätten, die rund 9000 Jahre Menschheitsgeschichte dokumentieren. Experten bezweifeln, dass die Pläne zur Umsiedlung der wichtigsten archäologischen Denkmäler erfolgreich realisiert werden könnten; sie befürchten, dass die Baudenkmäler einfach zerbröseln. Schliesslich besteht die Gefahr, dass der Staudamm zu Wasserkonflikten mit Syrien und dem Irak führt. Die Talsperre befindet sich nur 65 km von der syrischen Grenze entfernt, und die Abflussmenge des Tigris würde sich durch das Projekt reduzieren. Die Türkei hat bisher ihre Nachbarstaaten nur unzureichend konsultiert. «Das Projekt wird fertiggestellt» Die Kampagne der Kritiker hat — wie bereits beim Vorläuferprojekt (siehe InfoBox) — Wirkung gezeitigt. Sollte die Türkei es nicht schaffen, die rund 150 Auflagen zum Schutz von Umwelt, Kulturgütern und Bevölkerung im Flutungsgebiet zu erfüllen, wollen die Exportrisikoversicherer der Schweiz, Deutschlands und Österreichs die Risikogarantien für die beteiligten Baufirmen nicht sprechen. Doch dies allein wird die türkischen
Bauherren möglicherweise nicht stoppen: «Das Projekt wird fertiggestellt.
Das ist ziemlich klar. Die Türkei kann den Bau finanzieren», sagte Maggia-Chef
Urs Müller gegenüber der Nachrichtenagentur SDA. Sollten sich die Exportrisikoversicherer
zurückziehen, würden die Arbeiten aber möglicherweise erheblich verzögert. Ersatz aus China Schweizer Ingenieure könnten
durch Spezialisten aus China oder anderen Ländern ersetzt werden. In diesem
Fall wären rund zehn Stellen bei der Tessiner Firma in Gefahr. (sda/dhr)
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