Süddeutsche
Zeitung, 17.03.2009
Der erschöpfte
Planet
Die Hälfte
der Menschheit hat zu wenig sauberes Wasser, der Rest verbraucht mehr
als nachfließt
Es ist, als hätte jemand eine
riesige Dusche aufgedreht. Von einer Sekunde auf die andere steht man
vom lauwarmen Regen völlig durchnässt auf der Straße, ein paar Minuten
später steht das Wasser knöchelhoch. Alle Taxis sind sofort besetzt. Es
ist Februar, Hochsommer in São Paulo, es regnet fast täglich und immer
heftig. Die Stadt scheint in diesen Momenten zu ertrinken.
Wenn es Bewohnern der brasilianischen
Metropole auch an vielem mangelt, Wasser dürften sie, so denkt man nach
einem solchen Regenguss, wohl genug haben. Doch so absurd es klingt: São
Paulo leidet an Wassermangel, es muss aus der Nachbarregion importiert
werden. Die wiederum braucht selbst immer mehr, um Campinas, die stetig
wachsende drittgrößte Stadt des Bundesstaates, zu versorgen. Ähnliche
Verhältnisse herrschen auch weit außerhalb der Tropen: Der Süden Englands
mit seinem notorisch feuchten Wetter ist beispielsweise nach Kriterien
der Weltbank eine Region mit akutem Wassermangel.
Wo viele Menschen wohnen, ist Wasser fast immer knapp. Insgesamt übersteigt
die Nachfrage weltweit inzwischen deutlich die Menge, die aus sich natürlich
erneuernden Quellen gedeckt werden kann. Wasserexperten haben darum "Peak
Water" ausgerufen - in Analogie zu dem auf das Erdöl gemünzten Begriff
aus der Energiewirtschaft. Dort beschreibt "Peak Oil" den Punkt,
an dem die wachsende Nachfrage nach Erdöl die Fördermenge übersteigt.
Beim Wasser war der Verbrauch noch nie so hoch wie heute, warnt ein Bericht
der Vereinten Nationen im Hinblick auf das Welt-Wasser-Forum, das am Montag
in Istanbul begonnen hat.
In Gegenden die, anders als London oder São Paulo, gleichzeitig auch noch
wenig Niederschlag abbekommen, hat sich das Problem längst zur echten
Wasserkrise ausgewachsen. Im Norden Chinas verbrauchen die intensivierte
Landwirtschaft, die florierende Industrie und eine Bevölkerung, deren
wachsender Wohlstand die Ansprüche steigert, mehr Wasser, als die Natur
nachliefern kann. In Indien werden gigantische Kanalprojekte diskutiert,
um die Knappheit in weiten Teilen des Landes zu bekämpfen. In Spanien
stellt man sich auf die Verwüstung weiter Gebiete ein.
Ohnehin eher trockene Länder wie Australien oder Äthiopien litten im vergangenen
Jahr unter extremer Dürre. Und die Prognosen sehen dort weiter sinkende
Niederschläge voraus. Wie genau sich das Klima und damit die Wassersituation
wo auf der Erde entwickeln wird, weiß niemand, sagt Malin Falkenmark,
Hydrologin am Stockholm International Water Institute. Doch ihrer Meinung
nach muss man sich vielerorts darauf einstellen, dass deutlich weniger
Wasser zur Verfügung stehen wird als heute.
Jeweils ein paar tausend Kilometer von London, Stockholm, São Paulo und
dem australischen Outback entfernt sitzt Meena Palaniappan hinter einem
riesigen Schreibtisch im Pacific Institute in Oakland, die Regale voller
Bücher, auf deren Rücken fast immer das Wort "Water" steht.
"Wir denken über Wasser im Alltag gar nicht nach. Für die Leute in
den meisten Entwicklungsländern dagegen ist Wasser das Thema Nummer Eins."
Die junge Wissenschaftlerin, selbst in Indien geboren, hat kürzlich zusammen
mit ihrem Institutschef Peter Gleick das Peak-Water-Szenario detailliert
beschrieben. Im alle zwei Jahre erscheinenden Report "The World"s
Water" nennen sie als Beispiele Kalifornien, wo Gouverneur Arnold
Schwarzenegger nach drei extremen Dürrejahren vor wenigen Wochen den Wassernotstand
ausrief, und weite Teile Chinas.
Obwohl das Boomland im fernen Osten seine Grundwasserreserven leerpumpt,
hat fast ein Viertel der Einwohner keinen Zugang zu sicherem, sauberem
Trinkwasser. Der Yale-Professor Jonathan Spence, vielleicht der kompetenteste
China-Experte der westlichen Welt, wurde kürzlich gefragt, wo er in Zukunft
die größte Herausforderung für das Reich der Mitte sieht. Seine Antwort
hieß nicht Energie, Menschenrechte oder Geburtenkontrolle. Sie lautete:
Wasser.
Bereits heute ist Wasser Ursache unzähliger politischer, sozialer und
wirtschaftlicher Konflikte. Wie Bodenschätze und fruchtbares Land ist
es sehr ungleich verteilt. Die Hälfte des nutzbaren Süßwassers ist im
Besitz von einem halben Dutzend Ländern. Ähnlich ungleich verteilt ist
auch die Trinkwasserqualität. Eine Milliarde Menschen hat keinen Zugang
zu sauberem Wasser, 2,5 Milliarden leiden unter ungenügenden Hygienestandards
- zusammen macht das mehr als die Hälfte der Menschen auf dem Planeten
Erde. Allgemein gilt Erdöl als entscheidender Faktor für Wirtschaft und
Wohlstand. Dabei spielt Wasser eine mindestens so wichtige Rolle. Beide
Flüssigkeiten sind ohnehin wirtschaftlich eng miteinander gekoppelt. Ohne
Wasser lässt sich kein Kraftwerk kühlen, und auch die Pflanzen, aus denen
Biokraftstoffe gewonnen werden, brauchen Wasser zum Wachsen. Auf der anderen
Seite lässt sich Wasser ohne Energie nur schwer nutzen – sie ist nötig
für die Trinkwasseraufbereitung und für Pumpen, die Felder berieseln und
Haushalte versorgen. "Wasser-Energie-Nexus" heißt diese zentrale
Achse der globalen Wirtschaft in der Sprache der Experten.
"Allerdings ist Öl, weil es teuer ist und sich der Transport über
weite Strecken lohnt, eine globale Ressource, Wasser dagegen ist etwas
Lokales", sagt Palaniappan, "daran müssen sich auch die Strategien
im Umgang mit Wasserkrisen orientieren."
Dennoch haben bislang die meisten Länder auf zentrale, teure Infrastruktur-Großprojekte
gesetzt - Pipelines, Kanäle, Stauseen. Dämme und künstliche Wasserstraßen
haben aber oft katastrophale soziale und ökologische Folgen. "Wir
sind nah daran, die Grenzen der Verfügbarkeit von Wasser zu erreichen",
mahnt zudem Palaniappan. "Da helfen auch neue Staudämme nichts mehr,
wenn es nicht mehr zu stauen gibt." Ihr Chef Peter Gleick versucht
seit Jahren, Politiker und Wirtschaftsbosse von einem "Soft Path"
zu überzeugen, einer Strategie jenseits des traditionellen, betonharten
Wegs der Pipelines und Staumauern. Dieser sanfte Weg solle "nach
wie vor auf sorgfältig geplante zentrale Infrastruktur zurückgreifen,
aber diese mit kleinteiligen dezentralen Anlagen ergänzen". Es müsse
darum gehen, Wasser effizienter zu gebrauchen "anstatt zu versuchen,
ein unerschöpfliches Wasserangebot zu garantieren". Dezentral ließen
sich zum Beispiel Regenwasserreservoire einrichten, und Effizienz bedeutet
für Gleick, weniger Trinkwasser als bisher zum Wegspülen von Abfällen
zu nutzen.
Möglichkeiten, Wasser sparsamer einzusetzen, werden seit Jahrzehnten entwickelt.
In den USA oder Deutschland etwa ist seit 1970 der Gesamtwasserverbrauch
von Haushalten durch sparsamere Toilettenspülungen, Duschen und Waschmaschinen
deutlich gesunken. Auch viele Industriezweige kommen mit weniger Wasser
als früher aus. Für eine Tonne Stahl waren vor 70 Jahren noch 100 Tonnen
Wasser nötig, derzeit sind es fünf. Auch auf Agrarflächen sind bessere
Ernten mit deutlich weniger Litern pro Hektar möglich, wenn das Wasser
effektiver genutzt wird, etwa mit Anlagen für Tropf-Bewässerung.
Für die Zukunft ist die Frage, wie Staaten, internationale Organisationen
und Unternehmen die Wasserprobleme bewältigen, zumindest ebenso wichtig
wie der Umgang mit schwindenden Ölreserven und dem Klimawandel. "Wasser
ist selten per se knapp", sagt Christian Leibundgut, bis vor kurzem
Leiter des Instituts für Hydrologie an der Universität Freiburg. "Wasserkrisen
sind eigentlich immer die Folge falschen Managements." In Spanien
etwa wirft er dem Staat eine verfehlte Regulierung vor. "Noch verheerender"
sei es aber, wenn der Rohstoff Wasser und die mit ihm verbundenen Dienstleistungen
dem freien Markt überlassen würden. "Wir sehen das nicht nur in China,
sondern auch in Großbritannien und Frankreich." Dort würden notwendige
Investitionen immer wieder aufgeschoben. Durch Lecks in maroden Leitungen
sickert beispielsweise ein Drittel des Londoner Trinkwassers ungenutzt
in den Untergrund.
Deutschland gehört, sagt Leibundgut, beim Thema Wasser zu den Glücklichen
des Planeten. "Nicht nur wegen des reichlichen Niederschlags und
der große Flüsse wie Elbe und Rhein", sondern auch, "weil Wasser
nach wie vor als öffentliches und nicht als privates Gut betrachtet wird".
RICHARD FRIEBE
|