FAZ, 02.01.2015

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Erdogans Zorn und Obsession

So sieht Anfang 2015 die „Neue Türkei“ des Recep Tayyip Erdogan aus: Nicht nur von außen, auch im Inneren lauern überall Feinde. Wie der türkische Präsident jegliche Opposition verfolgen lässt.

von Rainer Hermann

So sieht Anfang 2015 die „Neue Türkei“ des Recep Tayyip Erdogan aus: Nicht nur von außen, auch im Inneren lauern überall Feinde. Vom Aufbruch des Reformers Erdogan im Jahr 2002 ist außer dem - inzwischen ebenfalls bedrohten - wirtschaftlichen Aufschwung wenig geblieben. Auf dem Weg nach Europa hat Erdogan auf halber Strecke kehrtgemacht und die eingeleitete Demokratisierung zurückgenommen. Er islamisierte die Türkei nicht, wie seine Kritiker zunächst befürchtet hatten; er hat nur die autoritären Strukturen, die er vorgefunden hatte, wiederhergestellt und auf sich zugeschnitten.

Achtzig Jahre war der Kemalismus, die Doktrin Atatürks, des Gründers der Republik, die Staatsdoktrin. In den zwölf Jahren seiner Herrschaft hat Erdogan erst die kemalistische Elite entmachtet, allen voran das Militär und die Justiz. Dann übernahm er selbst die Kontrolle über die Institutionen des Staates; jetzt, als Staatspräsident, sieht er sich als die Verkörperung dieses Staates. Erdogan ist osmanischer Sultan und französischer Sonnenkönig zugleich. Keiner lebt so wie er den Anspruch des Absolutismus, der Ludwig XIV. zugeschrieben wird: „L’État, c’est moi.“

Immer engere Grenzen

Anders als der Kemalismus mit seinen „sechs Pfeilern“, zu denen neben dem Laizismus auch der Vorrang des Staates und die klassenlose Gesellschaft zählen, hat der Erdoganismus noch kein ideologisches Korsett entwickelt. Erdogans Herrschaft ist jedoch ebenso wenig demokratisch wie die des Kemalismus. Im eigenen Land lässt Erdogan, der außenpolitisch in Europa und in der arabischen Welt gescheitert ist, immer weniger Dissens zu und setzt einer lebendigen Gesellschaft, die pluralistisch sein will, von Jahr zu Jahr engere Grenzen.

Mit Erdogans Herrschaftsstil hat sich auch seine Sprache verändert. Als Reformer versprach Erdogan „Demokratie“ und „Freiheiten“. Heute donnert er seinen politischen Gegnern ein bösartiges „Kenne deine Grenzen!“ (haddini bil!) entgegen. Erdogan gebraucht keine Wortwendung häufiger. Er macht seinen Gegnern damit klar, wo in der Türkei Erdogans oben ist und wo unten, „wo der Kopf ist und wo die Füße sind“, wie Erdogan die Demonstranten vom Sommer 2013 belehrte. Eine politische Gleichheit, wie sie für die Demokratie unabdingbar ist, gibt es nicht.

Die Macht liegt, wie auch unter den Kemalisten vorgesehen, wieder allein beim Staat; und der, eine andere häufige Formulierung Erdogans, „tut, was nötig ist“ (geregini yapar). Was immer Erdogan ankündigt, nie fehlt der Zusatz: „Wir tun, was nötig ist“ - als ob es nicht Erdogans Wille und Entscheidung sei. Die zwei Formulierungen zeigten Erdogans politische Mentalität, sagt der türkische Politikwissenschaftler Ertug Tombuş: Erdogans politisches Denken gründe auf Ungleichheit und einer Hierarchie; jegliche Verpflichtung zu Pluralismus und Demokratie fehlten, so Tombuş.

Ein Beispiel für diese These ist, wie im Sommer 2013 die Regierung, damals noch mit Erdogan als Ministerpräsident, auf die Proteste reagierte, die sich am Vorhaben entzündet hatten, den populären Istanbuler Gezi-Park zu bebauen. Erst forderte Erdogan die meist jugendlichen Demonstranten auf, ihre „Grenzen zu kennen“ und seine Autorität anzuerkennen; dann rechtfertigte er das brutale Vorgehen der Polizei damit, sie habe getan, was nötig gewesen sei. Schuld an der Gewalt trügen weder er noch die Regierung, sondern allein die Demonstranten. Sie hätten nicht wahrhaben wollen, dass sie ihn und damit den türkischen Staat angegriffen hätten. Seither war klar, dass Erdogan jede Opposition als direkte Bedrohung des Staates auslegen würde, weshalb er berechtigt sei, zu allen Mitteln zu greifen, um diese Bedrohung abzuwehren.

Justiz unter Kontrolle gebracht

Wie autoritär dieser Erdogan-zentrierte Staat wurde, zeigte sich bei der Reaktion des Staatsapparats auf die Korruptionsermittlungen, die gegen Vertraute Erdogans am 17. Dezember 2013 eingeleitet worden sind. Erst ließ Erdogan die ermittelnden Staatsanwälte und zahlreiche Polizisten strafversetzen, dann brachte er die Justiz unter seine Kontrolle; zuletzt ging er gegen die Medien vor, die darüber ausführlich berichteten. So hebelte Erdogan die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltenteilung aus. Schließlich wurden am 17. Dezember 2014 mehr als 20 bekannte Journalisten verhaftet. Zwei Tage später bestätigte ein Gericht, das eigens zur Bestrafung der Korruptionsermittler eingesetzt worden war, die Untersuchungshaft der Journalisten, setzte unter Auflagen aber den bekanntesten unter ihnen, Ekrem Dumanli, den Chefredakteur der Zeitung „Zaman“, auf freien Fuß.

Dennoch hat Erdogan noch vor wenigen Tagen behauptet, dass die Presse nirgendwo freier sei als in der Türkei. Sogar Beleidigungen, üble Nachrede und Diffamierungen seien gestattet, die nicht einmal in demokratischen Ländern toleriert würden; er selbst erfahre das - nur dass der dünnhäutig gewordene Erdogan dann schnell die Justiz einschaltet.

Schwache Opposition

In dieser „Neuen Türkei“ gibt es nur noch wenige, die Erdogan herausfordern. Die parlamentarische Opposition ist schwach, und nach wie vor unterstützt fast jeder zweite Türke Erdogan; der türkische Staat bekämpft die Kurden nicht mehr im eigenen Land, sondern lässt sie im Norden Syriens als potentielle Beute des „Islamischen Staats“ zappeln. Eine der letzten Korrektive ist die „Hizmet-Bewegung“ des im amerikanischen Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen gewesen. Damit jeder versteht, dass es sich nicht lohnt, Opposition gegen Erdogan zu machen, soll mit ihrer Zerschlagung nun ein Exempel statuiert werden.

Gülen hatte zunächst Erdogans Reformen für eine liberale und pluralistische demokratische Ordnung unterstützt. Seit er Erdogans Hinwendung zu einer „autoritären Demokratie“ kritisiert, die sich auf das Abhalten von Wahlen reduziert, bekommen auch er und seine Bewegung Erdogans Zorn zu spüren. Gülen lehnt zudem Erdogans neoosmanischen Islam ab und setzt dem einen Islam entgegen, der mit einer modernen Demokratie und den Menschenrechten vereinbar ist.

Schwarze Listen und Willkür

Die Justiz überzieht die Bewegung mit Gerichtsverfahren, die so wenig glaubwürdig sind wie die Verfahren gegen Dissidenten in Russland. Es geht weniger um konkrete Vergehen als um politische Straftaten, denn sie werden beschuldigt, die staatliche Ordnung von Erdogans Türkei in Frage zu stellen. Mit absurden Behauptungen soll die „Bank Asya“, die der Bewegung nahesteht, in den Konkurs getrieben werden; selbst Hilfswerke wie „Kimse Yok Mu“, die Armenspeisungen vornimmt, sollen zerschlagen werden. Die Hexenjagd gegen Mitglieder und Unternehmen der Bewegung bedient sich des Diffamierens und Diskriminierens, schwarzer Listen und der Willkür. Die drei Angehörigen des türkischen Geheimdiensts MIT, die jüngst in Deutschland verhaftet worden sind, sollten offenbar belastendes Material gegen die Gülen-Bewegung sammeln, um die These zu untermauern, sie sei eine „terroristische Vereinigung“.

Die Obsession Erdogans hat einen Grad erreicht, der die Sorge um die Zukunft des Landes wachsen lässt. Interessant wird in diesem Jahr, ob die Annäherung von gemäßigten Kemalisten, säkularen Aleviten und den Muslimen der Gülen-Bewegung eine starke Opposition gegen die Machtphantasien Erdogans hervorbringen wird.